Читать книгу Der Himmel kann warten - Katrin Zimmer - Страница 10
Samstag, 18. September, Friedericus
ОглавлениеLena war wie ausgewechselt.
Vielleicht lag ihre Ausgelassenheit am Wein oder am lauen Spätsommerabend. Laue Spätsommerabende waren wie geschaffen dafür, mit wiedergewonnenen Freunden über alte Zeiten zu tratschen und auf einem Aussichtspunkt mit einer Flasche Wein in trauter Zweisamkeit den Sonnenuntergang zu bewundern. Und verloren geglaubte romantische Gefühle wiederzuentdecken. Gelegenheit machte Liebe.
Aussichtspunkt war das Hambacher Schloss. Bei der Wiege der deutschen Demokratie konnte man den Blick wunderbar über die Rheinebene schweifen lassen.
„Weißt du, wie lange ich schon nicht mehr hier oben war?“ Lena schlang die Arme um ihren Körper während ihr Blick irgendwo in der Ferne ruhte. Es war kühl geworden. Ein seichter Wind der Geschichte wehte um das Schloss. Zwanzig Uhr vorbei, die Sonne verabschiedete sich langsam. Lena hatte nur eine dünne Seidenbluse dabei, die sie gegen die anziehenden Temperaturen nicht wirklich schützen konnte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so spät werden würde. Es war ein unverbindliches Gespräch unter ehemaligen Bekannten gewesen. Ein bisschen Klatsch über gemeinsame Schulfreunde, ein bisschen Smalltalk über den Beruf, ein bisschen Belanglosigkeit von allem. Und dann wäre sie wieder nach Hause gefahren. So hatte sie sich das vorgestellt. Und jetzt befand sie sich mit Aaron auf dem Schloss. Mit Aaron, dem Unsichtbaren. Mit Aaron, dem Langweiler. Damals. Wie konnte man sich doch täuschen.
„Nein, weiß ich nicht.“
„Seit unserem Ausflug in der elften Klasse. Erinnerst du dich?“
Aaron erinnerte sich. Natürlich. Das war einer der Klassenausflüge, bei denen er vergeblich um Lenas Aufmerksamkeit buhlte.
„Seither nicht mehr?“
„Nein. Warum auch?“
„Ich weiß nicht. In einem Anfall von Vaterlandsliebe, zum Beispiel. Oder einfach so. Weil’s schön ist.“
Lena lachte. „Du warst also schon öfter hier oben?“
„Manchmal.“
„Der Vaterlandsliebe wegen?“
„Nein.“
„Sondern?“
„Verrat ich dir nicht.“
Lena blickte ins Leere. Ihre Gedanken waren so weit über die Ebene verstreut wie die Dörfer, die unter ihnen lagen. Aaron stand hinter ihr. Wie konnte er sie so durcheinander bringen!
„Bitte, verrate es mir. Bitte!“ Lena drehte sich um und fixierte Aaron mit einem Blick, der mehr erwartete. Meinte sie wirklich, was
er daraus zu lesen glaubte? Hatte er es richtig gedeutet? Aaron war so nah dran. Noch nicht mal als Julia hatte sie ihn so angesehen. Aarons Hand zuckte, er hätte sie gerne um ihre Schultern gelegt, aber seine Angst war stärker. Die Angst, wieder einmal abgewiesen zu werden.
„Okay, dann will ich es gar nicht wissen. Aber es ist schön hier.“ Seufzend zog Lena ihre Schultern hoch. Aaron verstand nicht. Der Wind war kalt und jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Vielleicht war es der Wind. Sie versuchte sich zu entspannen.
„Was wirst du jetzt tun?“
Lena verstand nicht. „Was meinst Du?“
„Mit Rüdiger, meine ich.“
Der Hauch von Romantik, der über dem Schloss lag, war mit diesem einen Wort wie weggeblasen. Rüdiger!
„Abwarten und Tee trinken, schätze ich. Unsere Anwälte kommunizieren momentan mehr miteinander als wir es das letzte halbe Jahr getan haben. Ich hoffe, dass die das so schnell wie möglich über die Bühne bringen.“
„Über die Bühne bringen… was heißt das für dich? Liebst du Rüdiger noch?“
Lena schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiß gar nicht, ob ich ihn überhaupt einmal geliebt habe. Das ist das Tragische. Es ist traurig, wenn man vor den Scherben steht, die man hätte vermeiden können.“
„Fehler macht man manchmal.“
„Schon. Aber in meinem Fall muss nicht nur ich sie ausbaden. Ich denke an meine Kinder. Es ist nicht schön, dass sie das mitmachen müssen.“
„Nein. Sicher nicht. Aber du solltest dir nicht alleine die Vorwürfe machen.“
Lena zitterte. Nicht vor Kälte, sondern vor Traurigkeit. Und Aaron kämpfte gegen die Windmühlen in seinem Kopf. Es war nicht unmöglich. Das nicht. Wenn er es nur schaffte, seinen Zweifel zu überwinden, dann würde er jetzt endlich seine Arme sachte um Lenas Schultern legen.
„Du hast es gut.“ Lena zog die Nase hoch. „Du hast dein Leben noch nicht verkorkst. Du hast alle Möglichkeiten der Welt. Ich hab ein scheiß Leben!“ So hätte es jetzt nicht enden sollen. Nicht in einem dämlichen, unnötigen Gefühlsausbruch. Nicht in einem peinlichen Auftritt. Sie wollte doch nicht weinen, sie wollte stark sein. Sie wollte einen schönen Abend verbringen. „Scheiß Leben!“ Jetzt war es auch schon egal.
Aarons Kopf war leer. Seine Arme legten sich plötzlich wie von alleine um Lenas Schultern. Er konnte gar nichts dafür, es passierte einfach. Manchmal war es gut, dass etwas einfach passierte.
Lena atmete auf und legte ihre Hände fest um Aarons Umarmung. Vorsichtig strich er mit einer Hand über Lenas Haare und küsste sie auf den Scheitel. Sie fühlten sich ganz weich an und rochen nach Blumen. Es war ein wunderbares Gefühl, genauso wunderbar wie der Gedanke, gerade in diesem Moment unglaublich wichtig für Lena zu sein. Das erste Mal.