Читать книгу Der Himmel kann warten - Katrin Zimmer - Страница 9
Samstag, 25. September, 21.26 Uhr
ОглавлениеFrau Schiller war im CT. Seit Ewigkeiten schon. So viel konnte man doch gar nicht durchleuchten wollen. Nicht bei einem einzigen Menschen. Nicht bei Nora, wo sie doch sowieso schon klein und zierlich war. Wahrscheinlich hielten die mich hier für dumm. Wie die Frau an der Information. Mit Herrn Keller konnte man’s ja machen. Herr Keller wartete geduldig, bis alle nach Hause gegangen waren. Bis die Lichter ausgingen. Und dann würde man dem Herrn Keller sagen, dass er bitte morgen wiederkomme solle. Ganz früh, so gegen halb sieben. Morgen wieder. Dann wäre die Dienstübergabe schon gelaufen und Schwester Hildegard könnte ihm Auskunft geben. Aber jetzt, entschuldigen Sie bitte, jetzt geht das auf keinen Fall. Seien sie nicht so ungeduldig, Herr Keller, stellen Sie sich bitte hinten an. Immer mit der Ruhe in diesem Staat. In der Ruhe liegt die Kraft.
Auf dem Tischchen im Warteraum lagen Zeitschriften. Vogue, Schöner Wohnen, Freundin, Gala, Für Sie. Für Ihn gab es hier nicht. Für ihn gab es hier gar nichts. Noch nicht einmal einen Automaten mit kleinen trichterförmigen Pappbechern, aus dem man sich Wasser ziehen konnte. Wohltemperiert oder eisgekühlt. Wenn wenigstens nur die Becher ausgegangen wären, wie man das aus den Arztpraxen kannte. Aber hier war gar nichts, das ausgehen konnte. Wie praktisch.
Zu meinem Durst kam der Hunger. So war das immer: hatte man sich erst einmal ins Gedächtnis gerufen, was einem fehlte, dann gesellten sich unzählige weitere unnötige Dinge dazu. Mein Magen hing mir bis auf den Boden. Natürlich hätte ich wie ein Bekloppter durch das halbe Krankenhaus irren können auf der Suche nach einem trockenen Sandwich und einer Flasche Lift. Aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätten sie Nora genau in dieser Zeit meiner körperlichen Abwesenheit hinausgeschoben und in irgendein Zimmer verfrachtet. Und ich hätte dagestanden wie ein Esel und keiner hätte was von einer Frau Schiller gewusst. Das war ein abgekartetes Spiel. Ich hatte sie durchschaut, die Geists und Schrotts dieser Welt. Aber nicht mit mir. Lieber blieb ich sitzen und wartete bis der Hunger vorüber ging. Irgendwann ging ja alles vorüber. Vielleicht auch das Warten.
Ich schnappte mir eine Gala und blätterte sie von hinten nach vorne durch. Das machte sie nicht interessanter. Im Grunde unterschieden sich die Zeitschriften nur in ihren Titelbilder: auf der ersten war JLo oder ihr Hintern das Hauptmotiv, auf der zweiten Prinzessin Maxima und ihre Eheprobleme. Auf der dritten war Maxima der Zeitschrift nur eine Randnotiz mit winzigem Foto wert, weil die Hochzeit von irgendeinem It-Girl aus der dritten Reihe die Frauen von heute am meisten interessierte. Aber spätestens beim Durchblättern der Heftchen fand man sie alle wieder. Und noch eins war ihnen gemeinsam: Offensichtlich gehörte es zum guten Ton, niemals aktuelle Hefte auszulegen. Allesamt waren gut drei Monate gereift. Gut Ding will Weile haben, das hatte ich bei meinem Trip hier schon gelernt.
„Herr Schiller?“
„Ja?“ Die Frau im grünen Kittel meinte mich.
„Ihre Frau ist jetzt fertig. Wir werden sie auf die Intensivstation fahren.“
„Auf die Intensivstation? Wie geht es ihr?“
„Wir haben sie erst einmal schlafen gelegt. Sie hat Schmerzmittel bekommen. Ich kann dazu nichts sagen. Aber wenn Sie Pfleger Michael begleiten möchten, der fährt sie jetzt nach oben. Die Intensivstation ist im fünften Stock. Herr Doktor Müller wird mit Ihnen reden.“
Ich nickte nur.
„Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen blass aus.“ Frau Grünkittel schaute besorgt drein.
„Kann ich etwas trinken?“
„Natürlich.“ Sie verschwand hinter der Glaswand, hinter der sich die Anmeldung verbarg, und kam kurz darauf mit einem Glas Wasser wieder.
Ich kippte das Wasser hinunter und bedankte mich, als vermutlich Pfleger Michael mit einem Bett auf mich zurollte. Nora. Das war meine Nora.
Da lag sie, die Augen immernoch geschlossen. Stocksteif lag sie auf diesem sterilen Bett. Um den Kopf hatte man ihr einen Verband angelegt, der ihre schönen, blonden Haare bedeckte. Nora sah ganz friedlich aus, aber die Sterilität des Krankenhauses wollte nicht mehr zu Dornröschen passen. Ich hielt ihre Hand, während ich versuchte, mit Pfleger Michael Schritt zu halten. Ihre Hand war warm. Und ich war so froh, dass sie warm war.
„Wie sieht es aus? Was glauben Sie?“
Ich flehte den Pfleger an. Vielleicht traute er sich, mir wenigstens eine kleine Auskunft zu geben. Nur eine kleine. Das konnte doch nicht verboten sein. Aber er sagte nichts. Nichts jedenfalls, das mir weitergeholfen hätte. „Warten Sie es ab“, sagte er. „Man kann noch nicht sagen, wie es sich entwickelt. Aber beruhigen Sie sich. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie es aussieht!“ Mitfühlend strich er mir über die Schulter.
Diese Worte hatte ich heute schon einmal gehört. Ziemlich genau derselbe Wortlaut. Ich war nicht fähig, die Floskeln zu deuten, die die Leute hier benutzten. Mir war nur klar, dass es nicht für eine gute Nachricht sprechen konnte, wenn man mir die Auskunft verweigerte. Das beunruhigte mich mehr als alles, was mir bisher durch den Kopf gegangen war.