Читать книгу Der Himmel kann warten - Katrin Zimmer - Страница 11
Samstag, 25. September, 21.59 Uhr
ОглавлениеNora wurde in die fünfhundertneunzehn geschoben. Intensivstation. Pfleger Michael verabschiedete sich schnell, nicht ohne mir noch einmal auf die Schulter zu klopfen. Wahrscheinlich lernte man das in der Krankenpflegefortbildung Mitgefühl ausdrücken leichtgemacht.
„Es kommt gleich jemand zu Ihnen.“
Ich nickte. „Ja. Danke.“
Jetzt war ich mit Nora alleine. Wie man eben alleine sein konnte, wenn um einen herum noch drei andere Betten standen und Infusomaten und sonstige Gerätschaften um die Wette piepsten. Ich zog einen der klobigen zwei Stühle, die an einem Besuchertisch standen, ans Bett heran und setzte mich zu ihr. Ihre Hand war immernoch warm und ihr Atem ging gleichmäßig.
„Es wird alles gut, haben die Ärzte gesagt.“
Nora atmete.
„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.“
Nora schlief. Ich hätte hier nicht schlafen können. Die Geräusche hätten mich verrückt gemacht.
„Dabei sieht es gar nicht schlimm aus. Du hast einen Verband um den Kopf. Er würde dir nicht gefallen, aber er ist auch nur vorübergehend.“
Ich streichelte ihre Wange zum Trost. Sie war so wunderschön. Nicht rosig, aber zart. Wahrscheinlich nahm sie es gar nicht wahr. Dabei hätte ich mir nichts sehnlicher gewünscht als das.
„Ich glaube, sie haben dir die Haare ein bisschen abgeschnitten. Bestimmt nur ein bisschen. Aber mach dir nichts draus, die wachsen wieder. Es sind ja nur Haare.“
Nora atmete.
Mein Blick fiel auf das Bild an der Wand, das über Noras Bett hing. „Dein Zimmer ist schön.“ Ich schaute mich um und musste mich korrigieren. „Nein, nicht wirklich schön. Aber es hängt ein Bild an der Wand. Eins mit Sommerblumen drauf. Es würde dir gefallen. Du wirst es schon sehen, wenn du aufwachst. Der Rest hier ist ziemlich kahl. Alles weiß und steril. Krankenhaus eben. Ich hasse Krankenhäuser. Hatte ich dir das schon erzählt? Bestimmt hab ich’s dir nicht erzählt. Meine Oma lag mal in einem. Die ist schon lange tot, sie hatte Krebs, ich glaube Lungenkrebs. Dabei hat sie gar nicht geraucht. Niemals. Sie hat Rauchen gehasst, obwohl mein Opa Kettenraucher war. Oder vielleicht gerade deswegen. Der ist auch gestorben, schon viel früher, aber nicht an Lungenkrebs. Er hatte einen Herzinfarkt. Das kommt auch vom Rauchen, hat der Arzt damals gesagt. Naja, das weiß man ja heute. Aber damals hat man das vielleicht noch nicht so gewusst. Er ist auch im Krankenhaus gestorben. Hat aber nicht lange gedauert, es ist ziemlich schnell gegangen. Und ich war auch noch jung, ich kann mich gar nicht mehr richtig daran erinnern. Vielleicht sieben oder acht. Aber das Gefühl, ein Krankenhaus zu betreten, das ist mir in Erinnerung geblieben. Ich bin nie gerne hingegangen. Der Geruch ist grässlich. Obwohl, hier geht es.“ Ich stand auf und wollte trotzdem das Fenster kippen. Wenn man an Atemnot dachte, dann befiel sie einem aus heiterem Himmel…Aber es ging nicht, das Fenster blieb verschlossen. Die Luft war verbraucht. Vielleicht, weil hier so viele Patienten die dünne Luft veratmeten. Es gab es offenbar eine Klimaanlage. Schreckliche Luft, mit so einer Klimaanlage.
Die Geräte piepsten aus allen Ecken und gleich würde auch jemand kommen und Nora verkabeln. Es musste doch jemand kommen. Sie konnten mich nicht einfach mit Nora alleine lassen. Noch atmete sie gleichmäßig, aber wer wusste, was im nächsten Moment geschah. Das wusste man nie!
Meine Gedanken fuhren mit mir Achterbahn.
Was hatte ich erzählt. Nora würde nicht hören wollen, dass ich Krankenhäuser hasste. Und dass meine Oma darin gestorben war, auch nicht. Ich sollte aufhören, mich selbst trösten zu wollen.
Ich setzte mich wieder zu ihr und drückte ihre Hand ein bisschen fester.
Das Klopfen an der Tür erlöste mich. Obwohl Anklopfen ziemlich unnötig war, denn die Tür stand offen. Hier stand sie wohl immer offen, zur Sicherheit. Und wer hätte auch „herein“ sagen sollen; bis auf einen alten Mann, der mir hinter dem Vorhang vorsichtig zuwinkte, schliefen alle. Freiwillig oder unfreiwillig. Aber es war die Erlösung vor mir selbst, das Warten war schier unerträglich. Ich war dankbar für die Unterbrechung.
Herr Doktor Müller war ein Herr gehobenen Alters, gut aussehend, mit grauen Schläfen und einem gesunden, braunen Teint. Er musste der Chefarzt in diesem Laden sein, denn er war der Erste, der ein Hr. Dr. vor seinem Namen auf dem Schildchen trug. Ich schätzte ihn so Mitte fünfzig. In den einschlägigen Groschenromanen hätte er einen guten Titelhelden abgegeben: Doktor Müller, der Arzt, der die Frauen glücklich machte. Zumindest die Krankenschwestern, die blickten hier nämlich im Vergleich zu ihren Berufsgenossinnen, die ich bisher auf den Fluren getroffen hatte, ganz erstaunlich freundlich drein. Die zwei, die ihn begleitet hatten.
„Herr Schiller?“ Herr Doktor Müller streckte mir die Hand entgegen.
„Keller.“ Ich stand auf und reichte ihm meine.
„Guten Abend.“
Er war nicht gut, der Abend.
„Frau Schiller ist ihre Freundin?“
„Ja.“ Und es war nicht gelogen.
„Ich wollte mit Ihnen reden.“
Endlich, der erste, der tatsächlich mit mir reden wollte und mir nicht mitleidig auf die Schulter klopfte. „Was hat sie denn? Mir wollte bisher noch niemand sagen, was sie hat. Ist es schlimm?“ Ich redete leise. Ich wollte nicht, dass Nora es hörte. Wo ich ihr doch gerade erzählt hatte, dass alles gut wird.
„Die Wunde am Kopf ist nicht so schlimm. Keine Schädelfraktur, wie vermutet wurde.“
Davon hatte mir auch keiner etwas erzählt. Aber ich war erleichtert. Nur eine Platzwunde.
„Ein Schädel-Hirn-Trauma, aber das geht vorüber.“
Gott sei Dank.
„Die Wirbelsäule macht uns mehr Sorgen. Im Lendenwirbelbereich haben wir eine Läsion entdeckt. Im Moment weiß man nicht, wie stark die Ausfälle sind. Bisher war ihre Freundin noch nicht ansprechbar. Und die neurologischen Tests sind erst wirklich aussagekräftig, wenn Frau Schiller aufgewacht ist und wir aktive Tests machen können. Manchmal decken sich die klinischen Befunde glücklicherweise nicht mit der Realität. Momentan steht sie unter Schmerzmitteleinfluss und wird noch eine Weile nicht wirklich ansprechbar sein. Aber machen Sie sich keine Sorgen, das ist nicht von Dauer.“ Herr Müller tätschelte meine Hand, die er die ganze Zeit wie ein Vater gehalten hatte. Vielleicht hatte er Angst, dass ich davon laufe. Aber die Gefahr bestand nicht.
Ich sollte mir keine Sorgen machen. Natürlich nicht. Das sagte mir jeder. Nora hatte ja nur eine Platzwunde am Kopf und eine vorübergehende Schläfrigkeit. Was wollte mir der Arzt jetzt sagen? Ich hatte nicht verstanden, was das zu bedeuten hatte: eine Läsion am Lendenwirbel. Das konnte ja alles Mögliche sein. Wofür hatten die überhaupt studiert? Man ließ mich im Dunkeln tappen. Oder ich war zu doof, um zu verstehen.
„Vielleicht sollten Sie jetzt nach Hause fahren. Können Sie das noch?“
Ich starrte die Krankenschwester an.
„Wir können Ihnen auch ein Taxi bestellen, wenn Sie möchten.“
Ein Taxi. Wie war ich hierhergekommen? Mit dem Rettungswagen, ich erinnerte mich. Das war schon eine Weile her. Eine Ewigkeit. Einen Albtraum lang.
„Sollen wir Ihnen ein Taxi bestellen?“
„Ja. Bitte. Ein Taxi.“
Ich streichelte noch einmal über Dornröschens Wange. Herr Müller hatte sich verabschiedet und war mit wehendem Arztkittel davongeflogen. In die andere Welt außerhalb der Intensivstation. Ich wollte Nora hier nicht alleine lassen, aber die Schwester hatte recht. Es war schon spät. Und übernachten sollte ich hier nicht.
„Möchten Sie noch etwas essen?“ Die Schwester kam zurück.
„Ich nehme das Taxi.“
„Nein, ob Sie noch etwas essen wollen, wollte ich wissen.“ Die Schwester war wirklich nett. „Das Taxi habe ich für Sie bestellt. Aber um diese Zeit dauert es etwa eine Viertelstunde.“
„Gerne.“
„Dann kommen Sie doch mit ins Stationszimmer, wir haben noch ein Abendessen übrig.“
Ich drückte Nora einen Kuss auf die Stirn und folgte der Schwester bereitwillig. Mein Hunger war mit Pauken und Trompeten zurückgekehrt als er von sich hatte reden hören.
Wem auch immer ich die zwei Scheiben Schwarzbrot mit Wurst und Streichkäse, einen Karottensalat, drei Essiggurken und einen Joghurt als Nachtisch zu verdanken hatte: ich hatte schon lange nicht mehr so dankbar gegessen wie heute. Demut war eine Tugend.