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2.3.1. Gefahren des Enneagramms als Typologie

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„Alle Typologien haben den Nachteil, dass sie die Einmaligkeit, Originalität und Besonderheit des Individuums notgedrungen vernachlässigen.“344 Das Wesen einer Typologie beinhaltet eine Art von Zusammenfassung, die immer auch ein Stück Reduzierung bedeutet. Diese Reduzierung kann eine Gefahr darstellen, aber eben auch eine Chance sein, um eine Vereinfachung und Gliederung zu erzielen. Eine der weithin bekanntesten Kritiken am Enneagramm ist, dass Menschen mit dem System in Schubladen eingeteilt würden. Darauf geht Pater Grün ein und betont, dass das Enneagramm nicht als Schubladensystem benutzt werden dürfe, wo Menschen automatisch aufgrund von Merkmalen eingeordnet werden. Auf diese Weise verfehle man eines der Ziele des Enneagramms, nämlich, als Hilfe für Menschen ihre Fallen und Stärken zu erkennen, dabei aber individuell seinem eigenen Wesen nach gerecht zu leben.345 Palmer beschreibt die Fixiertheit der Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen, die einem Typ zugesprochen werden, als Sich-und-andere-in-Schubladen-Stecken.346 „Wenn wir uns nicht von einem immer wiederkehrenden Thema lösen können und uns die Fähigkeit fehlt, das eigene Verhalten auch einmal von einem anderen Standpunkt aus zu beobachten, werden wir von den eigenen Gewohnheiten kontrolliert und haben die Freiheit des Wählens verloren.“347

Eine weitere Gefahr des Enneagramms als Typologie ist die persönliche Einstellung im Umgang mit typologischen Informationen. Der Ordensmann Robert J. Nogosek weist darauf hin dass Menschen die Typologie allzu ernst nähmen. Das bedeutet, sie versuchen nach dem Schema „Typ(o)-logisch“ alles über den Menschen als systematisch und am besten als vorhersehbar zu betrachten.348 Frau Phiri erzählt, dass sie die einschränkenden Aspekte des Enneagramms als Typologie nicht möge. Für sie fühlt es sich so an, als werde man von dem eigenen Enneagramm-Muster umrankt und habe keine Freiheit mehr. Nach ihr verzögert das nicht nur das Wachstum bei sich selbst, sondern auch bei den Mitmenschen.349

Fritz Riemann beschreibt als ein Merkmal von Typologien, dass sie das Leben als fatalistisch, als schon vorher durch das Schicksal festgelegt betrachten. Alle neuen Informationen sind nur eine Bestätigung des „So-Seins“ und nach Riemann nur zum „Hinnehmen“ da.350 Bei einigen Herangehensweisen ist das Enneagramm als Typologie nicht von diesen Annahmen befreit. Auf einem anderen Niveau wird in diesem Zusammenhang mit dem „Herausfinden“ des eigenen Enneagramm-Typs der Prozess der „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“ in Gang gesetzt. Menschen werden gemäß ihrem Enneagramm-Muster behandelt.351 „Wir ordnen Menschen einem Typ zu und behandeln sie dann als karikaturhafte Mischung verschiedener Charakteristika, was das Verhalten dieses Typs verstärken kann. Wir sind durch die Art und Weise geformt, wie man uns behandelt, und wir tendieren dazu, zu glauben, was andere in uns hineininterpretieren“352 Im wissenschaftlichen Sammelband zu modernen Suggestionsverfahren wird unter anderem gezeigt, wie die Suggestion in unterschiedlichen Bereichen wie z.B. in der Hypnose, im autogenem Training, im Biofeedback, im Neurolinguistischen Programmieren (NLP) oder in der Pädagogik eingesetzt wird. In ihrem Beitrag mit dem Titel, „Wie sag’ ich’s meinem Kinde? – Sprache und Suggestion im Alltag“ weist Theres Miller darauf hin, dass die Suggestion auf vielerlei Art passiere. Sei es bewusst oder unbewusst – die Suggestion könne im positiven, aber auch im negativen Sinne eine enorme Wirkung im Leben eines Menschen haben.353 Die folgenden Beobachtungen zeigen, wie sich auf unterschiedliche Art die Suggestion im Enneagramm zeigt. Teilweise werden die Typencharakteristika freudig als Ausrede für bestimmte Verhaltensweisen angegeben. So Riso und Hudson:

Tatsächlich wird der Persönlichkeitstypus bei manchen Schülern des Enneagramms fast zur fixen Idee. ‚Natürlich werde ich paranoid, schließlich bin ich eine SECHS!‘ oder ‚Du weißt, wie wir SIEBENEN sind. Bei uns muss immer was los sein.‘ Wer sich so rechtfertigt oder herausredet, betreibt natürlich mit dem Enneagramm Missbrauch.354

In Zeiten des Informationsaustauschs werden durch das Internet Chaträume bei vielen Menschen zur Plattform der Typ-Selbstrechtfertigung. Nur ein paar Auszüge von Aussagen, die anonym aus Foren entnommen wurden:

- Natürlich habe ich auch die Sturheit der Neun, wenn ich etwas nicht will, kriegen mich keine zehn Pferde dazu – und ich merke das noch nicht mal. Daran haben sich schon einige die Zähne ausgebissen.…

- Ich bin eine klassische VIER

- Die Wut der Acht finde ich manchmal sehr schön

Und Nogosek schreibt weiter darüber:

Begeisterte Enneagramm-Anhänger stellen sich gegenseitig mit ihrer Charakter-Zahl vor: „Gestatten, ich bin ein Fünfer! Und Sie? – Interessant, ein Achter!“, und sofort kann das angeregte Insider-Gespräch beginnen. Das zeigt die Gefahr und die Grenzen der Lehre vom Enneagramm: Man kann sich selbst auf seinen Charaktertyp fixieren und damit geradezu kokettieren.355

Eli Jaxon-Bear schreibt:

Wie jede kraftvolle Medizin kann auch das Enneagramm leicht missbraucht werden. Die große Gefahr liegt darin, dass wir die Identifikationsmuster erkennen und diese Einsicht dann benutzen, um das Muster beizubehalten. Zum Beispiel: ‚Ach, ich bin ja eine Fünf, deshalb muss ich mich zurückziehen.‘ Oder ‚Ich bin doch eine Acht, also ist es ganz natürlich, wenn ich wütend werde.‘ Ich hör solche Rechtfertigungen oft genug. Das ist die Gefahr. Das heilige Enneagramm dient dann nicht als reiner reflektierender Spiegel, sondern wird wieder nur zu einem Weg, mit dem man dem Ego Kraft gibt, anstatt es zu durchschauen und ihm direkt zu begegnen.356

Der letzte Aspekt handelt vom Umgang mit anderen. In einem Interview mit der Ordensschwester Mary drückt sie ihre Forderung aus, dass Menschen gut im Enneagramm geschult sein sollten. Wenn jemand keine Chance habe, mit dem Enneagramm zu wachsen und seinen wahren Nutzen zu erkennen, könne es vorkommen, dass – in der Begeisterung über die neue gewonnenen Informationen – der prozesshafte Aspekt des Enneagramms außer Acht gelassen werde und andere mit dem Wissen nur noch geboxt würden.357

Ausgehend von den zuvor dargelegten Gedanken über das Enneagramm als Typologie lässt sich nun fragen, welche Verbindung das Enneagramm als Typologie zum Enneagramm als Prozessmodell hat. Nach Riso und Hudson verliert die Typologie (Persönlichkeit) ihre Kraft über eine Person nicht, indem sie ignoriert werde, sondern indem man sich damit konfrontiere.358 Zum Beispiel erzählt Beate wie schwierig es für sie gewesen sei, auch die negativen Aspekte ihres Typs angucken zu müssen. Für sie sei es zum Teil beschämend gewesen, die typologischen Aspekte des Enneagramms in Bezug auf ihren Enneagramm-Typ anzunehmen. Auf der anderen Seite sei es nach eingehender Beschäftigung für sie eine gute Chance gewesen, „auf sich selber zu gucken, in einer sehr wertschätzenden Art und Weise.“359 Durch die vielen Möglichkeiten, die es im Enneagramm gebe, habe sie sich letztendlich in einem angemessenen Zeitraum damit anfreunden können, dass der Prozess des persönlichen Wachstums mit der Wahrnehmung der positiven sowie negativen Aspekte der typologischen Beschreibungen anfange.360

Auf einer interpersonalen Ebene sei das Enneagramm als Typologie der erste Schritt zu einer Wertschätzung der Wechselwirkungen der Interaktionen in zwischenmenschlichen Beziehungen, sagt Herr Müller. Dass durch die Typologie einige Eigenschaften des Gegenübers erkannt würden, heißt für Herrn Müller, dass er zwangsläufig auch auf sich schaue. Er hat die Gelegenheit zu schauen, wie er sich von dem anderen unterscheidet oder wie er ihm ähnelt. Für Herrn Müller lehrt das Enneagramm, dass das zwischenmenschliche Verhalten nicht autonom sei, sondern es lehrt den Wert der Dualität, im WIR zu denken. Nach Herrn Müller kann das christliche Gebot der Feindesliebe auch so verstanden werden, dass man den anderen in seinem Menschsein versteht, aber vor allem in Bezug auf sich selbst die negativen Seiten annimmt.361 Feindesliebe lehrt somit auch Selbstliebe, zu der man nur durch einen Prozess gelangen kann.

Folglich ist das Enneagramm als Typologie für die Arbeit mit dem Enneagramm als Prozessmodell notwendig. Es ist der Anfang des Prozesses. Das eine ersetzt das andere nicht, sondern beides greift ineinander. Der Weg von der Typologie zum Prozessmodell führt nicht zur Vollendung im Sinne von „das Ende erreichen“, sondern die Vollendung ist im Prozess selber enthalten, im Sinne von „der Weg ist das Ziel“.

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