Читать книгу Wer bin ich? - Keith Hamaimbo - Страница 51
2.3.2. Prozess und Entwicklungsstufen
ОглавлениеEin kritischer Aspekt in der Betrachtung des Enneagramms als Prozess betrifft die Entwicklungsstufen. Es sollte hinterfragt werden, ob die Theorie der Entwicklungsstufen sich mit dem Enneagramm als Instrument zur Veränderung vereinbaren lässt und für wen dies sinnvoll ist.
Die Enneagramm-Autoren Riso und Hudson arbeiten mit den Entwicklungsstufen. Nach Riso und Hudson geben die Entwicklungsstufen auf der Entwicklungsskala an, wie weit ein Mensch sich entwickelt hat. Mit den Entwicklungsstufen wird erklärt, dass je nachdem, auf welchem Entwicklungsgrad man sich befindet, die Charakterzüge des jeweiligen Typs vorhersagbar sein können, und vor allem, warum dies gerade so sei.362 Risos und Hudsons Ansichten wurden vom Amerikaner Ken Wilber inspiriert, der sich vor allem mit der integralen Theorie beschäftigte. Damit das Enneagramm als psychologisches System komplett sein kann, sollte es sowohl vertikale als auch horizontale Komponenten enthalten. Die horizontale Ausrichtung stellt die Charakterzüge dar, während die vertikale die Entwicklung eines Menschen zeigt. Nach dem Muster der vertikalen Entwicklung werden die Enneagramm-Typen in neun Entwicklungsstufen geteilt, auf Grundlage von gesund, durchschnittlich und gestört. Obwohl Riso und Hudson behaupten, dass das Enneagramm dadurch umfassender und die menschliche Natur in ihrer Komplexität wiedergegeben werde,363 lässt sich fragen, ob die Komplexität, die sich aus der Berücksichtigung des Entwicklungsgrades ergibt, für die praktische Arbeit mit dem Enneagramm eher ein Hindernis für die persönliche Entwicklung sein könnte.
Bei unterschiedlichen Autoren werden die Stufen entweder auf drei oder zwei Ebenen genannt. So gibt es die Stufen „weniger entwickelt, entwickelt und hoch entwickelt“364 oder „eine große Bandbreite, die wir uns wie eine kontinuierliche Skala vorstellen können, die zwischen den Extrempolen ‚unreif‘ und ‚gereift‘ verläuft.“365 Hier werden keine bestimmten Werte wie bei Riso und Hudson angegeben, was nach meiner Ansicht angemessener für die Arbeit mit dem Enneagramm ist. Die Berücksichtigung der Entwicklungsstufen könnte für die Arbeit mit dem Enneagramm deshalb als Herausforderung gesehen werden, weil dadurch behauptet wird, dass die Arbeit an der persönlichen und spirituellen Entwicklung messbar wäre. Zwar ist es sinnvoll, dass es eine Entwicklung auf einer vertikalen Ebene geben kann – aber die Skala mit Ziffern zu versehen, ist weithergeholt und könnte für die Arbeit an sich und mit Mitmenschen problematisch sein. So besteht z.B. die Gefahr, dass Menschen andere Personen auf Grund oberflächlicher Hinweise einstufen und bewerten. Die Selbsteinstufung ist auch mit Vorsicht zu betrachten. Riso und Hudson geben selber an, dass sich Personen als Teil ihres Abwehrmechanismus auf der Skala selbst besser einzustufen versuchen, als sie wirklich sind.366 Die Theorie von „Entwicklungsstufen“ hat subtile Untertöne, die unter anderem suggerieren können, dass sich etwas in einem Zustand befindet, der „im Vergleich“ mit etwas anderem minderwertig oder änderungsbedürftig ist. Hier rutscht die Arbeit mit sich selbst und mit anderen plötzlich in den Bereich einer „Leistungsskala“ oder eines „Heiloptimismus“. Für diejenigen, die die „höchste Stufe“ erreicht haben, gut entwickelt sind oder selbst davon überzeugt sind, ist die Gefahr der Selbstgefälligkeit und der Herablassung auf andere, was sich gerade für die Gruppenarbeit in jeglicher Form negativ auswirken kann, nicht auszuschließen.
Als mögliches Anwendungsgebiet für die differenzierte Einteilung der Typen in Entwicklungsstufen käme möglicherweise die Typisierung einer Person durch Experten in Frage. Eine Einteilung und vor allem auch das Verstehen der Probleme einer Person – beispielsweise in der Seelsorge – kann durch eine in kleineren Schritten vorgehende Einteilung präziser werden. Für die Arbeit an sich selbst mit dem Enneagramm als Instrument zum Selbstverständnis ist diese differenzierte Einteilung eher hinderlich, da sie immer eine Art von Bewertung beinhaltet.