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Keinen Schimmer

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Mit seiner Rede, der Liebknecht mit seinem zwei Stunden später erfolgenden Auftritt nichts mehr entgegensetzen konnte, hatte Scheidemann die Geburtsstunde der Weimarer Republik eingeläutet – einer Republik allerdings, die von Anfang an umstritten war. Nicht wenige konnten mit der neuen Staatsform wenig oder nichts anfangen, allen voran der soeben abgetretene Kaiser. Er nahm Scheidemanns Auftritt persönlich. „Der Kerl verlangt die Absetzung von mir und allen übrigen Monarchen Deutschlands“, bekannte er im Kreis seiner Vertrauten. „Nun hat er die Maske fallen lassen, da soll er aber was erleben. Der Mensch hat eben keinen Schimmer von den Verhältnissen in Deutschland.“25 Wilhelm, legen diese Worte nahe, war auf seine Art ein offenbar glücklicher Mensch: Er folgte ungestört seiner ganz eigenen Wahrheit. Von ihr ließ er sich nicht einmal durch einen Aufstand und seine eigene Absetzung abbringen. Nichts konnte ihn irritieren, er lebte weiter in seiner Welt von gestern, einem Traumreich in den Niederlanden, dessen Zentrum, das Haus Doorn in der Nähe von Amerungen, zum Museum der verlorenen Dinge und Ränge wurde. „Büsten, Bilder und Stiche vom Gr(oßen) Kurfürsten, Friedrich dem Großen, Großpapa und Papa … ebenso wie Darstellungen des Preußischen Heeres aus allen Zeiten seines Glanzes! Hochkirch und Leuthen, Hohenfriedberg und Königgrätz zieren die Wände“, beschrieb er im Mai 1920 zufrieden sein neues Domizil.26 Der Bruch, der durch das Reich gefahren war, Millionen Menschen in eine neue Staatsform, die Republik, katapultiert hatte: In des Kaisers kleinem Reich brauchte man derlei kaum zur Kenntnis zu nehmen. Für ihn bestand das Deutsche Reich weiterhin, zumindest als kunstvoll arrangierte Ersatzwelt.

Und doch: Wilhelm II. war kein intellektueller Solitär. Viele hingen dem Kaiserreich nach, dachten und empfanden weiter nach den Spielregeln monarchischer Zeiten. Längst nicht alle begrüßten die Republik. Deren Existenz sahen sie als direkte Folge jenes „Verrats“, den verachtenswerte Demokraten an der alten Ordnung begangen hatten. Anders als Scheidemann annahm, war der Militarismus mitnichten „erledigt“. Die Republik hatte das Erbe der Hohenzollern nicht aus dem Weg geräumt. Der Heidelberger Historiker Karl Hampe beschrieb das Ende des Kaiserreichs in den Begriffen des Untergangs, aus der einzig und allein der Absturz ins Bodenlose folgen konnte. Der 9. November war für ihn „der elendste Tag meines Lebens! Was ist aus Kaiser und Reich geworden! Nach außen steht uns Verstümmelung, Willenlosigkeit, eine Art Schuldknechtschaft bevor; im Innern brutale Klassengesellschaft unter trügerischem Schein der Freiheit, Bürgerkrieg, Hungersnot, Chaos.“27 An die Zukunft vermochte er nicht zu glauben: Zu hart, zu demütigend schienen ihm die Forderungen, die die Alliierten in der Waffenstillstandsvereinbarung an die Deutschen stellten. Damit, war er sich sicher, wäre das Schicksal Deutschlands besiegelt. Als er und seine Familie am 10. November die in Compiègne ausgehandelten Vereinbarungen las, notierte er, „war es auch mit unserer mühsam bewahrten Fassung zu Ende, und wir haben zusammen geweint. Auch die drei ältesten Kinder zeigten volles Verständnis. Müssten wir nicht sorgen für sie und die andern, wäre uns der Tod willkommen.“ Freilich sahen nicht alle den Kaiser als den Hauptverantwortlichen für die Reise in den Untergang. Gefolgt, war der Journalist Theodor Wolff in seinem Leitartikel vom selben Tag im Berliner Tageblatt überzeugt, waren ihm weite Teile der Gesellschaft. „Wilhelm II.“, so Wolff, „war nicht der alleinige Urheber, aber der Repräsentant einer aberwitzig kurzsichtigen, die Kräfte und Ideen des Auslandes falsch einschätzenden Politik, und er war das Symbol einer Zeit und eines Geistes, der, in Machtbegehren und Selbstüberhebung, die Katastrophe herbeigeführt hat.“28

Ganz andere Sorgen hatten derweil die Vertreter der Obersten Heeresleitung. Sie wollten vor allem eines verhindern, dass nämlich die Niederlage mit ihren militärischen Entscheidungen – und darüber auch mit dem Kaiserreich in Verbindung gebracht würde. Die Schmach, die der verlorene Krieg für sie und viele Nationalisten darstellte, sollte nicht auf das alte Regime zurückfallen. Kaum zeichnete sich ab, dass Deutschland den Krieg verlieren würde, versuchten sie, die Verantwortung dafür auf den Nachfolgestaat des Reichs, die Republik, zu lenken. Man wolle „den linksstehenden Parteien das Odium dieses Friedensschlusses überlassen“, erklärte in zynischem Kalkül Erich Ludendorff, seines Zeichens Erster Generalquartiermeister und Stellvertreter von Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Im Umfeld der Heeresleitung schritt man darum zur Selbstverteidigung. Ihre Mitglieder fassten erste Pläne zur Dolchstoßlegende, entworfen, um die Weimarer Republik und mit ihr die gesamte Nachkriegsordnung zu erschüttern. Ihnen ging es vor allem um eines: „das lautlose Verschwinden der Verantwortlichen und das Verwischen der Verantwortung … Das kaiserliche Deutschland und seine Führer handelten wie ein verfolgter Dieb, der im Weglaufen den gestohlenen Gegenstand einem Passanten in die Tasche praktiziert.“29 Den Waffenstillstand verhandeln und darüber zum Hauptverantwortlichen des zu erwartenden „Schmachfriedens“ werden sollte vor allem ein Repräsentant des Neuen. Der Unglückliche, der diese Aufgabe übernahm, und darum zwei Jahre später von Rechtsradikalen ermordet wurde, war Matthias Erzberger.

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