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„Ich habe keine Vorschläge zu machen“
ОглавлениеDieser Mann, zuletzt einer der entschiedensten Befürworter eines Verständigungsfriedens, übernahm es dann, den Waffenstillstand herbeizuführen. Überraschend und denkbar kurzfristig war er am 6. November zum Führer der Friedensdelegation ernannt worden. Umgehend machte er sich mit seinen Begleitern auf den Weg nach Frankreich. Zunächst fuhr die Gruppe in Richtung des Deutschen Hauptquartiers in Spa – den endlosen Gruppen deutscher Soldaten entgegen, die von der Front zurück in Richtung Heimat kehrten. Die Waffen schwiegen zwar bereits überwiegend, aber die Gefahr, durch ein Missverständnis könnte die Gewalt aufs Neue losgehen, war noch nicht restlos gebannt. Darum gab ein Trompeter Signal, als die Delegation die Grenze nach Frankreich überquerte. Die Deutschen ihrerseits hatten weiße Flaggen an den Wagen befestigt. Bald lag die deutsche Front hinter der Kolonne, die nun in das von den Franzosen gehaltene Gebiet vorstieß. Am späteren Abend erreichte die Delegation das Örtchen La Capelle, direkt an der belgischfranzösischen Grenze. „Kaiserliche Kreiskommandantur“ ist an einem der Gebäude zu lesen, doch über diesem weht bereits die Trikolore – gehisst von französischen Soldaten, die erst wenige Stunden zuvor, am Nachmittag des gleichen Tages, in La Capelle eingerückt waren. „Finie la guerre?“, „Ist der Krieg zu Ende?“, will einer der umstehenden französischen Soldaten wissen. Seine Kameraden beantworten die Frage, indem sie auf die Ankunft der deutschen Unterhändler mit Händeklatschen reagieren. „Vive la France!“, rufen sie, in Freude über den Sieg ihres Landes. Einige bitten die Deutschen um Zigaretten, leider vergeblich: „Als Nichtraucher“, so Erzberger in seinen Memoiren, „konnte ich den Wunsch nicht erfüllen.“34 Doch mehr als die Zigaretten zählt der erste Kontakt mit den französischen Offizieren, die sie auf der weiteren Fahrt begleiten werden – nicht mehr in den Wagen der Deutschen, sondern in denen, die die Franzosen bereitgestellt haben. Wie spreche man den Namen seines künftigen Gesprächspartners Marschall Foch aus, will Erzberger von seinem Begleiter wissen. „Fosch“, lautet die Antwort, verbunden mit dem erklärenden Hinweis, dass der Marschall aus der Bretagne stamme. Kurz vor Saint-Quentin, in dem Örtchen Homblières, stoppt der Konvoi. Im dortigen Pfarrhaus – dem einzigen Gebäude, das nicht zerstört worden ist – wird der Delegation ein Abendessen serviert. „General Depeney (sic!) bemerkte nicht ohne einen Seitenhieb, dass wir dasselbe Essen bekämen (Suppe, Salzfleisch und Erbsen), das in der französischen Armee jeder General und jeder Soldat habe.“35 In der Republik, gibt General Marie-Eugène Debeney den Deutschen zu verstehen, herrschen andere Zustände als in der feudalen Monarchie, in der die Befehlshaber viel bessere Mahlzeiten erhalten würden als die einfachen Soldaten. Das war in Frankreich teils zwar nicht anders. Aber die republikanische Legende war zu schön, als dass Debeney sie sich hätte verkneifen können.36
Später, bei den Verhandlungen auf der Lichtung von Rethondes, hält es Marschall Foch genau umgekehrt: Er lässt der deutschen Delegation feinste Speisen servieren, dazu auch gute Weine. Das mögen die Deutschen als angenehm empfinden. Sie wissen aber auch, dass es eine Geste der Überlegenheit ist, vorgeführt nicht ohne Arroganz. In Deutschland mögen die Leute hungern. In Frankreich hingegen gibt es nach wie vor erlesene Mahlzeiten – wie es sich gehört für ein Land, das sich zu den Siegern zählen kann.37 Nach einer Stunde geht es über Saint-Quentin weiter, durch eine Landschaft, in der kurz zuvor noch heftig gekämpft worden war. „Kein einziges Haus stand mehr; eine Ruine reihte sich an die andere“, notierte Erzberger. „Bei Mondschein ragten die Überreste gespensterhaft in die Luft; kein Lebewesen zeigte sich.“38
Der Weg führt weiter, mehrere Stunden durch eine Trümmerlandschaft, bis die Delegation morgens um 4 Uhr am Bahnhof von Tergnier ankommen. Dort wartet ein Sonderzug, der die Reisenden aufnimmt und zu einem unbekannten Ziel führt. Es ist ihnen verboten, die Fenster zu öffnen – ganz offenbar sollen die Deutschen nicht wissen, wo sich der Ort der Verhandlungen befindet. Doch bald schon verplappert sich einer der Schlafwagendiener, und Erzberger weiß, wo er sich befindet: auf der Lichtung von Rethondes im Wald von Compiègne, rund 90 Kilometer nordöstlich von Paris. 100 Meter weiter auf der Lichtung steht ein weiterer Zug: das Quartier der französischen Legion. „In dem Salonwagen war ein breiter Tisch aufgestellt, mit vier Plätzen auf jeder Seite.“ Dort finden, in denkbar kühler Form, die Verhandlungen statt. Zunächst prüft Foch mit seinen Beratern in einem Nebenabteil des Zuges die Bevollmächtigungsurkunden der Deutschen. „Marschall Foch kehrte zurück und fragte in französischer Sprache: ‚Was führt die Herren hierher? Was wünschen Sie von mir?‘ Ich erwiderte, dass ich den Vorschlägen über Herbeiführung eines Waffenstillstandes zu Wasser, zu Lande, in der Luft und an allen Fronten entgegensehe. Worauf Marschall Foch bestimmt antwortete: ‚Ich habe keine Vorschläge zu machen.‘“ Sehr wohl habe er hingegen Bedingungen mitzuteilen, lässt er die Deutschen wissen – Verhandlungen werde es nicht geben. „Deutschland könne sie annehmen oder ablehnen, ein Drittes gebe es nicht.“
Der große Rahmen stand, und an ihm wurde nicht gerüttelt. Die Alliierten hatten vor allem ein Ziel: das Deutsche Reich so sehr zu schwächen, dass es nicht wieder zu den Waffen würde greifen können. Vollständige Demobilisierung und Übergabe nahezu sämtlicher Waffen, Waffensysteme und Kriegsfahrzeuge; Rückzug des deutschen Ostheers auf die Grenzen vom 1. August 1914. Außerdem sollte die britische Seeblockade weiter bestehen, aller humanitären Erwägungen zum Trotz. Die Botschaft war hart und eindeutig: Deutschland, in den Augen der Alliierten der Hauptverantwortliche für diesen Krieg, solle vom ersten Moment des Waffenstillstands an materiell und symbolisch zur Rechenschaft gezogen werden. Aus Berlin erhält die deutsche Delegation Anweisung, die Bedingungen möglichst noch aufzuweichen. Gelinge das aber nicht, lässt Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg Erzberger wissen, „so wäre trotzdem abzuschließen.“39
General Foch und Mitglieder der deutschen und der französischen Delegation vor dem Eisenbahnwaggon, in dem am 11. November im Wald von Compiègne der Waffenstillstand unterzeichnet wurde.
Erzberger versucht, die Konditionen abzumildern. Nachdrücklich weist er darauf hin, „dass diese Bedingungen undurchführbar seien, dass sie Deutschland nicht nur wehrlos machten, sondern dem Bolschewismus ausliefern würden, dass Anarchie und Hungersnot die unmittelbaren Begleiterscheinungen der Annahme dieser Waffenstillstandsbedingungen sein müssten.“ Doch die Vertreter lassen sich darauf nicht ein. Sie trauen den Erklärungen der Deutschen wohl nicht, vermutet Erzberger. Vielmehr, mutmaßt er, halten sie diese für eine Finte.
Die Unterredungen laufen – hart und wenig ergiebig, was deutsche Bitten um Kompromisse angeht. Am 11. November gegen 2 Uhr morgens treffen sich die Delegationen zur abschließenden Sitzung. Die Alliierten zeigen auch jetzt kaum Entgegenkommen. Immerhin kann Erzberger durchsetzen, dass die Alliierten sich dazu verpflichten, Deutschland mit Lebensmitteln zu versorgen. Um kurz nach 5 Uhr morgens dann unterzeichnen die Parteien den Vertrag – der Waffenstillstandsvertrag ist besiegelt. Sein Land, erklärte Erzberger, sei bemüht, die auferlegten Verpflichtungen zu erfüllen, wenn auch manche undurchführbar seien. „Die Erklärung schloss mit den Worten: ‚Ein Volk von siebzig Millionen leidet, aber es stirbt nicht.‘ Was Marschall Foch mit der Antwort quittierte: ‚Très bien.‘ Um 5 Uhr 30 Minuten verabschiedeten sich die beiderseitigen Delegationen durch Erheben von den Stühlen; ein Händedruck wurde nicht gewechselt.“40 Ein halbes Dutzend Unterhändler morgens um fünf in einem umgebauten Eisenbahnwaggon: Das war, so schien es den Beteiligten damals, das Ende des Ersten Weltkriegs, der größten und tödlichsten Schlacht, die die Menschheit jemals erlebt und erlitten hatte.