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Abgründe der Freiheit
ОглавлениеDen durch Technik und Wirtschaft angetriebenen untergründigen Verschiebungen entsprechen an der Oberfläche jene, die die Politik auslöst. 1789 stürzen die Franzosen die Monarchie. Der Aufstand strahlte weit nach Europa aus, auch in Richtung des Habsburgerreichs. So riefen 1790 die Österreichischen Niederlande die Republik aus, und in Ungarn drohten Aufständische mit der Absetzung des Königs. Im April 1792 dann erklärte Frankreich Österreich den Krieg. Das nächste Vierteljahrhundert lang erlebte Europa eine Epoche von Schlachten – einen „Weltkrieg“ geradezu, wie es die Menschen empfanden –, in deren Verlauf 4,7 Millionen Soldaten und eine Million Zivilisten starben.35 Erst in der Völkerschlacht bei Leipzig gelang es den Österreichern und ihren Verbündeten, Napoleons Truppen zu besiegen. Durch den Zusammenschluss zur „Heiligen Allianz“ mit Preußen und Russland schuf der seit 1809 amtierende Außenminister Clemens von Metternich ein Bündnis gegen Revolutionen ebenso wie gegen den immer deutlicher sich regenden Nationalismus, eine aus seiner Sicht eminente Gefahr für den Fortbestand des Reiches, dem allein er die Wahrung einer politischen wie sittlichen Ordnung zutraute. Auch innenpolitisch schlug Metternich einen restriktiven Kurs ein. Die zumindest an ihrer Spitze chaotischen Energien des Liberalismus hielt er nur durch eine Politik der harten Hand für beherrschbar.
Als im März 1819 der liberale Burschenschaftler Karl Ludwig Sand den konservativen Schriftsteller August von Kotzebue ermordete, sah Metternich seine Befürchtungen bestätigt. Für ihn war das Verbrechen vor allem eines: ein Hinweis, wie gefährlich politische Ideologien waren, wenn man ihnen freien Lauf ließ. Vor allem, fürchtete er, könnte der Mörder in der aufgeheizten Situation nach den Napoleonischen Kriegen leicht Nachahmer finden. „Mir ist zuwider, wenn gemordet wird im Namen der Menschenliebe“, notierte er. „Ich habe keine Vorliebe für Tolle und Irrsinnstaten irgendwelcher Art und noch weniger für solche, die braven Leuten ans Leben gehen, friedlich in ihrem Kämmerlein sitzenden“36 – wie Kotzebue, der in seiner eigenen Wohnung ermordet worden war. Für Metternich war es klar: Durch den Mord hatten die Liberalen ihre – grundsätzlich legitimen – Anliegen verraten. Die Freiheit, so sein Argument, findet ihre Grenzen exakt an dem Punkt, an dem sie Leib und Leben anderer Menschen missachtet, ja, wie in diesem Fall, sogar vernichtet. Kein politisches Programm rechtfertigte jene Gewalt, die Sand für sich in Anspruch genommen hatte. Und wenn die Liberalen – wie geschehen – die Tat publizistisch rechtfertigten oder gar verherrlichten, brachten sie sich selbst um jede Legitimation. „Die Liberalen haben sich einigermaßen schlecht benommen bei dieser Gelegenheit, und das Prinzip der Pressefreiheit ist kaum gut verteidigt durch Männer, die ihren literarischen Widersachern mit Dolchstößen antworten.“37 Um dem entgegenzuwirken, setzte Metternich auf einer Versammlung der Staaten des Deutschen Bundes im August desselben Jahres in Karlsbad eine Reihe rigoroser Präventionsmaßnahmen durch. So verbot ein neues Universitätsgesetz studentische Verbindungen und Burschenschaften, aus deren Reihen Sand ja stammte; und ein Pressegesetz begründete eine Vorzensur von Werken von unter 320 Seiten. Damit stand den unterzeichnenden Staaten ein umfassendes Repertoire an Zwangsmitteln zur Verfügung. Der Raum für Dialog verengte sich, anstelle vorsichtiger Aushandlungsprozesse traten im Zweifel repressive Maßnahmen. Dass sich dissidente Stimmen über Druck allein nicht zum Schweigen bringen ließen, sah Metternich indes sehr wohl: Die Augsburger Allgemeine Zeitung, damals das führende deutsche Blatt, durfte trotz ideologischer Bedenken auch in Österreich erscheinen – vorausgesetzt, der Herausgeber erklärte sich bereit, auch auf das Material der Wiener Regierung zurückzugreifen – die Idee „alternativer Fakten“ kannte man schon damals.