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„Rutschig wie eine Eislaufbahn“

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Auf einen seiner symbolischen Höhepunkte driftete das große Töten im Juli 1918 zu. Seit der Februarrevolution 1917 standen der Zar und seine Familie im Alexander-Palais von Zarskoje Sselo bei Petrograd unter Arrest. Dann aber rückte die deutsche Armee immer weiter Richtung Osten vor – Anlass für die Bolschewisten, die Romanows im August 1917 nach Tobolsk in Sibirien zu bringen: Die Gefangenen sollten im Schutz eines möglichen Durcheinanders nicht entkommen. Immerhin, das Leben so weit im Osten erscheint der Familie einfach, friedlich und durchaus erträglich. „Uns geht es gut hier, – wir leben still und friedlich“, schreibt der Zar am 10. Dezember 1917.48 Dann aber sahen sich Lenins Gefolgsleute einem weiteren Gegner gegenüber: den „Weißen“, den Truppen all jener, die sich mit dem Sieg der Bolschewisten nicht abfinden mochten. Ende Mai wurde die Familie darum noch weiter gen Osten, nach Jekaterinburg am Ural, deportiert. Dort lebten die Gefangenen in völliger Isolation. Untergebracht waren sie in einer geräumigen Villa, die ihr Besitzer, der Militäringenieur Nikolaj Ipatjew, im April 1918 hatte räumen müssen. Das „Haus zur besonderen Verwendung“, wie die Bolschewisten es nannten, wurde ausgebaut zu einem streng gesicherten Fort: Rings um das Gebäude zog man eine doppelte, grob zusammengezimmerte Holzpalisade hoch, die Fenster waren weiß getüncht. Die Fotos aus der damaligen Zeit sind bedrückend, lassen das strenge Regime und die verletzende ästhetische Gleichgültigkeit der Bewacher ahnen.

Ende Juni übernahm ein neuer Offizier, Jakow Jurowski, die Bewachung der Familie. Jurowski stand unter dem direkten Kommando Lenins. Am 16. Juli gegen 17:50 Uhr setzt Filip Goloschtschekin, Militärkommissar des Exekutivkomitees im Ural, ein Telegramm nach Moskau ab. Empfänger ist Lenin, auch wenn es aufgrund technischer Schwierigkeiten über das Büro von Grigori Sinowjew läuft, den Vorsitzenden des Petrograder Sowjets. „Informiere Moskau, dass aus militärischen Gründen das mit Filip (Goloschtschekin) vereinbarte Gerichtsverfahren keinen Aufschub duldet; wir können nicht warten. Falls ihr anderer Meinung seid, bitte umgehende Meldung. Goloschtschekin.“49 Das „Gerichtsverfahren“ ist das Codewort für die Ermordung der Zarenfamilie, angesetzt auf die folgende Nacht. Jurowski zufolge hat das Zentralkomitee dem Ansinnen telegrafisch zugestimmt, allerdings wurde das entsprechende Programm nie gefunden. Doch die Befehlskette ist etabliert, und die Spitze hat grünes Licht gegeben.

Am Abend des 16. Juli geht die Familie kurz nach 22 Uhr zu Bett. „Das Erschießungskommando stand im Nebenzimmer bereit, die Romanows argwöhnten nichts“, berichtete Jurowski später.50 Der Schlaf ist kurz: Schon wenige Minuten nach Mitternacht wird die Familie geweckt. In der Stadt seien Unruhen ausgebrochen, die Romanows sollten sich aus Sicherheitsgründen in den Keller des Hauses begeben, wird ihnen gesagt. Dort eröffnet ihnen Jurowski dann, warum man sie tatsächlich in den Keller gebracht hat. „In Anbetracht der Tatsache, dass Ihre Verwandten ihren Angriff auf Sowjetrussland fortsetzen“, las er ihnen unter Anspielung auf die „Weißen“ vor, „hat das Präsidium des Regionalrats Ural beschlossen, Sie zum Tode zu verurteilen.“51 Auf Bitten der Familie, die zu erschüttert ist, um die Nachricht sofort zu verstehen, liest er den Inhalt des Zettels noch ein zweites Mal vor – um dann umgehend seinen Revolver zu ziehen und Nikolaus in die Brust zu schießen. Die anderen zehn im Raum versammelten Mörder tun es ihm nach und starten ein Gemetzel, das sich über zehn Minuten hinziehen wird. Zunächst nehmen sie Nikolaus’ Leibarzt Sergej Botkin und einige der Bediensteten ins Visier. Die übrige Familie bleibt fürs Erste unversehrt. Doch nur Momente später feuert einer der Mörder auf die Zarin, direkt in Richtung des Kopfes. Blut und Hirnmasse spritzen aus ihrem Schädel.

Inzwischen ist der Raum so voller Rauchschwaden, dass die Gruppe der Mörder sich für einen Moment daraus zurückzieht. Aus dem Inneren vernehmen sie den Todeskampf der Opfer – „Stöhnen, Schreie und leises Schluchzen“, wie es ein Mitglied des Erschießungskommandos später beschreibt. Dann betreten die Mitglieder des Erschießungskommandos von Neuem den Raum. Ihr nächstes Opfer ist Alexei, der Sohn des Zaren. Als er zu Boden stürzt, stechen sie mit Bajonetten auf ihn ein, schließlich tritt Jurowski an ihn heran und schießt ihm in den Kopf. Die Töchter des Zaren leben noch und sind unverletzt. „Wir machten uns daran, sie zu erledigen.“ Einer schießt Jurowski in den Hinterkopf, anschließend tritt einer seiner Helfer die junge Frau zu Boden und schießt ihr ins Gesicht. Auch die beiden anderen Töchter sind ohne Chance: Die Mörder legen auf sie an, dann stoßen sie mit ihren Bajonetten auf sie ein. Damit sind sämtliche Opfer tot. Umgehend tritt ein Mitglied des Ural-Sowjets in den Raum, um diesen zu inspizieren. Der Anblick, der sich ihm bietet, ist verstörend: „Ein entsetzliches Durcheinander an Leichen, vor Schreck erstarrte Augen, blutdurchtränkte Kleidung. Der Boden war von Blut und Hirnmasse glitschig und rutschig wie eine Eislaufbahn.“

Nun geht es darum, die Leichen zu entsorgen, und zwar so, dass niemand sie je wieder finden wird. Vorab hatten die Mörder einen alten Minenschacht ausgemacht, in den sie die Toten hinabwerfen. Doch unmittelbar stellen sich Bedenken ein: Der Schacht scheint mit einem Mal nicht mehr tief genug. Also holt das Kommando die Leichen wieder heraus. Zwei der Zarenkinder werden verbrannt. Die übrigen Getöteten legen die Männer in eine Grube, übergießen sie mit Schwefelsäure und bedecken sie mit Erde. Anschließend lässt Jurowski Baumstämme über das Erdloch legen, über die dann mehrere Male ein Lkw fährt: Das Holz soll wie ein Steg anmuten, niemand soll auf die Idee kommen, darunter könnten sich mehrere Leichen verbergen.

Drei Tage später wird die Erschießung des Zaren – nicht aber die seiner Familie – offiziell bekannt gegeben. Über den Verbleib seiner physischen Überreste hüllen die Bolschewisten sich in Schweigen. Entdeckt wurden diese erst 1979. Dem Grab wurden mehrere Schädel entnommen, konnten aber aufgrund der politischen Umstände nicht untersucht werden. Exhumiert wurden die sterblichen Überreste der Zarenfamilie erst 1991, kurz vor der endgültigen Auflösung der Sowjetunion.

Die Ermordung der Zarenfamilie war ein weiterer Schritt in Richtung der Neuen Gesellschaft, die Lenin vorschwebte. Der Terror griff um sich und wurde so rücksichtslos und entschieden vorangetrieben, dass die Prawda bereits Anfang 1919 eine stolze Zwischenbilanz ziehen konnte. „Wo sind die vermögenden, die modischen Damen“, höhnte das Blatt, „die teuren Restaurants und Privatvillen, die schönen Hauseingänge, die lügnerischen Zeitungen – all das korrupte ‚goldene Leben‘? Alle sind hinweggefegt. Man sieht auf der Straße keinen reichen, mit einem Pelzmantel bekleideten Barin (Herrn) mehr … Er ist erschöpft und durch das Leben von einer Ration dritter Klasse dünn geworden. Er sieht nicht einmal mehr aus wie ein Barin.“52 Mission accomplished, jedenfalls in weiten Teilen. Was folgte, war die äußere Expansion, vor allem Richtung Westen. Richtung Polen.

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