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Anno 1848

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Doch die Herausforderungen ließen sich mit Bomben nicht einmal im Ansatz lösen. Seit Jahren bereits war vor allem politische Kreativität gefragt – für eine Reihe unterschiedlichster Herausforderungen. Nicht zu den geringsten zählten die wirtschaftlichen und sozialen. Von Irland aus hatte sich ab 1845 die Phytophthora infestans, der Kartoffelmehltau, ausgebreitet und weite Teile der Ernte vernichtet. Außerdem ließen mehrere Missernten die Preise steigen. Vor allem in Irland kam es zu einer dramatischen Hungersnot, in deren Folge Hunderttausende starben oder auswanderten, vorzugsweise in die USA. Aber auch auf dem europäischen Festland war die Not groß. Notleidende demonstrierten und machten auf ihre Lage aufmerksam. Zwar entspannte sich die Notlage dank der guten Ernte von 1847 wieder, doch die landwirtschaftliche Krise ging in eine konjunkturelle über, die Produktion und Absatz im Textilgewerbe und dem Maschinenbau stürzen ließ.53 Zugleich hatte die einsetzende Industrialisierung die Arbeitsplätze zahlloser Menschen in veralteten, nicht mehr konkurrenzfähigen Betrieben vernichtet. Ihre Not wuchs – so sehr, dass die 1840er-Jahre schließlich auch als „hungry forties“ bekannt wurden.

Noch hatten die Arbeiter sich nicht in Gewerkschaften und Parteien zusammengeschlossen, machten sich aber bereits durch Streiks und Demonstrationen bemerkbar. Die Zeichen politischer Unruhe verdichteten sich, und so waren Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem 1847/48 erschienenen Manifest der Kommunistischen Partei überzeugt, dass „die deutsche bürgerliche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann.“54 Die Revolution blieb zwar aus, aber die Arbeiter waren fortan eine unübersehbare Kraft. Auch in Wien, Prag und Budapest demonstrierten sie für verminderte Arbeitszeiten oder höhere Löhne. „Jeder hat ein Recht auf Freude, Freiheit und Bildung“, erklärte Friedrich Sander, der 1848 den „Ersten Österreichischen Arbeiterverein“ gründete.

Aber auch die Mitglieder des Bürgertums waren mit den Zuständen der Zeit unzufrieden. Sie forderten weitergehende Rechte, verbrieft in einer Konstitution. Unmerklich schoben sich in die politischen auch nationalistische Töne. Zum Jahresende 1847 stritten Österreich und Ungarn – einmal mehr – um die Höhe der ans Reich zu entrichtenden Steuern und Abgaben. Als im Februar 1848 in Frankreich der „Bürgerkönig“ Louis-Philippe gestürzt wurde, machte auch der neue Pariser Aufstand in Europa rasch die Runde. Anfang März trafen sich die ungarischen Abgeordneten in Pressburg, um über die neue Lage im Allgemeinen und das Verhältnis zu Österreich im Besonderen zu beraten. Mit dabei war auch der Rechtsanwalt Lajos Kossuth. In einer aufrüttelnden Rede wandte er sich an die Parlamentarier. „Ja, auf uns ruht der schwere Fluch eines erstickenden Qualms“, erklärte er. „Aus den Beinkammern des Wiener Systems weht eine verpestete Luft uns an, die unsere Nerven lähmt, unseren Geistesflug bannt.“ Wien unterdrücke die der Krone angeschlossenen Länder und bringe diese so gegen sich auf. Dabei könnte es doch ganz anders sein: „Eine Dynastie, die sich auf die Freiheit der Völker stützt, wird stets Enthusiasmus erregen, denn von Herzen treu kann nur ein freier Mann sein … Es ist meine feste Überzeugung, daß die Zukunft der Dynastie an die Verbrüderung der verschiedenen Völker der Monarchie gebunden ist, und diese Verbrüderung kann mit Achtung der bestehenden Nationalitäten nur der Kitt der Konstitutionalität zustande bringen, der überall verwandte Gefühle erweckt.“55 Konkret forderte Kossuth ein eigenes ungarisches Kabinett, das dem Parlament gegenüber verantwortlich sein sollte. Ebenso sprach er sich dafür aus, den Adel zu besteuern und die Fronarbeit abzuschaffen. Ferner sollten die Mitglieder der Mittelschicht und Teile der Bauernschaft das Stimmrecht erhalten. Und wie Ungarn sollten auch die übrigen Länder des Habsburgerreichs eine Verfassung erhalten.

Kopien von Kossuths Rede sind rasch verteilt. Bald liest man sie auch in Wien. Das liberale Bürgertum erkennt sich in den Forderungen wieder und drängt zudem auf weitere Reformen: Abschaffung der Zensur, Reform der Religion und des Bildungswesens. Ein zentrales Parlament soll die Gesetzgebung im gesamten Reich verantworten. Am 13. März versammeln sich zahlreiche Menschen vor dem Landtag. Noch bevor die Abgeordneten eintreffen, wendet sich ein junger jüdischer Arzt aus Buda, Adolf Fischhof, an die umstehende Menge. „Wir haben heute eine ernste Mission zu erfüllen“, erklärt er seinen Zuhörern. „Es gilt, ein Herz zu fassen, entschlossen zu sein und mutig auszuharren.“ Anschließend trägt er sein eigentliches Anliegen vor. „Eine übel beratene Staatskunst hat die Völker Österreichs auseinandergehalten, sie müssen sich jetzt brüderlich zusammenfinden und ihre Kräfte durch Vereinigung erhöhen. Die Schwächen der Nationalität werden hierbei in den Tugenden der anderen ihren Ausgleich finden und die Vorzüge aller durch ihre Zusammenfassung eine Steigerung erfahren.“56

Doch nicht alle sind an diesem Tag auf Ausgleich bedacht. Einige der Demonstranten reißen Gasleitungen aus dem Boden und entzünden auf dem alten Befestigungsring ein weithin sichtbares Feuer. Mit uns muss man rechnen, geben die Massen zu verstehen. Die Lage ist angespannt. Einige der Demonstranten haben sich bewaffnet und liefern sich Schusswechsel mit den Ordnungskräften. Barrikaden werden errichtet, Fabriken in Brand gesetzt, die darin arbeitenden Maschinen zerstört. Als das Militär einschreitet, kommt es zu Panik, fünf Menschen werden erschossen. „Gestern Kampf, Blut und Tod in allen Straßen, fürchterliches Geschrei um Freiheit, die heute die Stadt schmückt wie eine Braut“, berichtet Das Neue Wiener Journal. „Aus allen Fenstern fliegen weiße und rote Kokarden, Kränze, Bänder, Fahnen.“57 Und noch eine Neuigkeit erfahren die Wiener: Fürst von Metternich hat sich im Schutz einer Verkleidung aus der Stadt abgesetzt. Zuflucht wird er in London finden.

Die Ereignisse in Wien wirken umgehend auf Ungarn zurück. Zwei Tage später sind auch in Budapest die Demonstranten auf der Straße. Entschlossen stürmen sie die Königsburg und befreien den dort einsitzenden Journalisten und Vorkämpfer der liberalen Sache, Táncsics Mihály. Der hatte zwei Jahre zuvor ein Pamphlet veröffentlicht, dessen bloßer Titel den Behörden schon genügte, ihn festzusetzen: „Das Wort des Volkes ist das Wort Gottes.“58 Schon zuvor hatte sich in Absprache mit den Abgeordneten eine aus bürgerlichen Honoratioren zusammengesetzte Delegation auf den Weg nach Wien gemacht, wo sie an eben jenem 15. März dem Kaiser ihre Forderungen präsentieren. Zwei Tage dauert es, dann sind die Forderungen der Ungarn erfüllt. Zugleich verspricht Ferdinand, eine Verfassung zu erlassen. Die Ungarn werten die Zugeständnisse als gewaltigen Schritt: Für sie kommen sie der Unabhängigkeit ihres Landes gleich. Berufen können sie sich fortan auf die neue Verfassung für das gesamte Reich, die Kaiser Ferdinand bereits am 24. April vorstellen lässt. Am 22. Juli tritt der konstituierende Reichsrat zusammen. Doch zu lösen vermochte er die Spannungen zwischen den beiden Königreichen nicht. Im April 1849 erklärte Ungarn sich unabhängig. Der König wurde vom ungarischen Thron verstoßen. Statt seiner übernahm Lajos Kossuth die Regierungsgeschäfte. Franz Joseph, der junge Kaiser, vermag das gewaltige ungarische Heer nicht aus eigener Kraft zu unterwerfen. So bat er den Zaren um Hilfe, der dann auch einwilligte – der Einschätzung folgend, die Minister Felix zu Schwarzenberg von dem Aufstand hatte. „Es handelt sich“, erklärte er, „gegenwärtig nicht bloß um den Kampf mit rebellischen Provinzen, sondern mit den Revolutionären aller Länder, welche dort zusammenströmen und ohne Rückhalt das Banner der Anarchie und des Kommunismus entfalten.“59 Umso heftiger fielen die Kämpfe aus, die erst nach Monaten, im August, mit dem Sieg der Österreicher endeten.

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