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„Dieser künstlich basirte Organismus“

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Die Ankündigung des neuen Reichstags war eine Konzession des Kaisers an die zum Reich gehörenden Völker. Die griffen die aus Wien gesandten Zeichen auf und deuteten sie in ihrem Sinne weiter. Wenige Wochen, bevor er zum ersten Mal zusammentrat, trafen sich in Prag Anfang Juni Vertreter mehrerer Habsburger Länder zu einem „Slawenkongress“. Zustande gekommen war das Treffen auf Initiative im Königreich Ungarn lebender Kroaten. Seit mehreren Monaten sahen sie sich einem forcierten Sprachdruck ausgesetzt: Die Magyaren versuchten, das Ungarische als Verwaltungs- und Schulsprache durchzusetzen, auf Kosten der anderen in ihrem Reich gebrauchten Sprachen.

Zugleich diskutierte man eine linguistische These: Die Slawen hätten zwar verschiedene, diese seien aber nur Varianten einer gemeinsamen Ursprache, sämtliche Völker also miteinander verwandt. Miteinander verbunden, versicherten die Teilnehmer in ihrem Abschlussmanifest, seien sie „nicht allein durch das Mittel unserer herrlichen, von 80 Millionen Stammesgenossen gesprochenen Sprache, sondern auch durch den harmonischen Schlag unserer Herzen, durch den Einklang unserer geistigen Interessen.“60 Das verhinderte nicht, dass man eines dieser Völker ausschloss, wenngleich nicht aus sprachlichen, sondern politischen Gründen: die Russen. Im Unterschied zu den anderen Nationen gehörte ihr Staat nicht zu den beherrschten, sondern den dominierenden Nationen – eine natürliche Distanz war aus Sicht der Teilnehmer also gegeben, wenn sie auch russische Besucher als Beobachter zuließen.

Sodann erörterten die Teilnehmer verschiedene Möglichkeiten des politischen Zusammenschlusses. Am weitesten gingen die Polen, die davon träumten, ihr verloren gegangenes Reich in den Grenzen vor den Teilungen des 18. Jahrhunderts wiederherzustellen – und zwar ganz und gar unabhängig, ebenbürtig zu den Reichen der Nachbarn: den Habsburgern, Romanows und Hohenzollern. Und wie es sich für ein Reich gehört, sollte auch das polnische sich über fremdes Terrain erstrecken: nämlich das der Ukrainer, das sie im Jahrhundert zuvor erobert hatten und seitdem als ureigenstes Terrain betrachteten. Kaum verwunderlich zeigten die aus der Ukraine angereisten Teilnehmer wenig Begeisterung für die Idee.

Zurückhaltender war der Vorschlag der Tschechen. Sie brachten den Gedanken eines „Austroslawismus“ ins Spiel, die Vereinigung der slawischen Nationen im Westen und Süden des Reichs. Darin hätten diese Völker zwar eine dominierende Stelle, würden den Habsburgischen Verbund aber nicht infrage stellen. „Für die ‚Austroslawen‘ war der Gegensatz zu den nationalstaatlichen Bestrebungen der Magyaren und den Deutschen ein verbindendes Band; die Polen, die sich noch immer ein gemeinsames Vorgehen von Slawen, Magyaren und Deutschen gegen Russland wünschten, standen mit dieser Position isoliert da.“61

Dennoch reichten die in Prag verhandelten Vorschläge aus, in Österreich und Ungarn für Nervosität zu sorgen. Was, wenn sich die Vorschläge nach größerer Macht der Slawen durchsetzten? Darauf gaben die Teilnehmer selbst in ihrem Abschlussdokument, der Proclamation an die Völker Europas, eine Antwort. Man strebe weder Herrschaft noch Eroberung an, man fordere nur die Freiheit, „als die Anerkennung des heiligsten Rechts des Menschen.“ In diesem Sinne, versicherten die Unterzeichner, träten sie für die Freiheitsrechte aller Völker ein. „Darum verdammen und verabscheuen wir Slawen jede Herrschaft der Gewalt, die sich neben dem Gesetze geltend machen will; wir verwerfen alle Privilegien und Vorrechte, so wie alle politischen Ständeunterschiede und verlangen unbedingte Gleichheit vor dem Gesetze, fordern das gleiche Maß von Rechten und Pflichten für jedermann; Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Staatsangehörigen sind, wie vor einem Jahrtausende, so auch heutzutage wieder unsere Losung.“62

Eben darum, so wandten sich die Teilnehmer in einem eigenen Schreiben an den Kaiser, seien sie zwar für den Verbleib ihrer Nationen im Habsburgerreich – dieses aber müsse seine Politik ändern. Nur dann sei die Chance gegeben, dass es weiterhin bestehe. „Dieser auf einem über die Völker gespannten Netze der Bureaukratie künstlich basirte Organismus vermochte sich nur durch die Gewaltmittel des Absolutismus zu halten. Eine volkstümliche Entwicklung der einzelnen Nationalitäten konnte unter einem solchen unnatürlichen Regierungssysteme nicht aufkommen, sie musste vielmehr mit allen demselben zu Gebote stehenden Mitteln unterdrückt und niedergehalten werden.“63 Ihr Kongress und die von ihm ausgehende Verbindung der Slawen, versicherten die Zusammengekommenen dem Kaiser, würde das Reich letztendlich stärken. „Durch eine ehrfurchtgebietende Verbrüderung stammverwandter Völkerschaften unter Eurer kais. Majestät Scepter soll die Grundlage zur vollkommenen Gleichberechtigung der Nationalitäten gelegt werden, aus denen das wiedergeborene Österreich als ein Föderativstaat bestehen soll.“

Die freundliche Note verhinderte freilich nicht, dass schon am nächsten Tag in Prag ein Aufstand losbrach, durch den der Kongress abrupt beendet wurde. Arbeiter und Studenten wandten sich gegen die zunehmenden sozialen Spannungen, die auch entlang nationaler Linien verliefen: Während die unter schlechten Bedingungen sich mühenden Arbeiter vornehmlich Tschechen waren, rekrutierten sich Adel und Bürgertum aus den deutschsprachigen Bürgern der Stadt. Die Probleme, begriffen die Teilnehmer des Kongresses, würden sich durch die gesetzten Worte allein nicht aus der Welt schaffen lassen, zumindest nicht so schnell, wie sie es sich wünschten.

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