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Bosnisches Zwischenspiel

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Außenpolitisch hatte es für die Habsburger zuletzt schlecht ausgesehen: 1859 hatte Österreich seine italienischen Provinzen verloren, 1866, nach der Schlacht von Königgrätz, löste sich der Deutsche Bund auf, und die Preußen wurden zur führenden Macht in Mitteleuropa. In einer Zeit, in der der Besitz von Kolonien das Prestige eines Reiches massiv erhöhte, blieb den auf den Weltmeeren nicht aktiven Österreichern nur der Blick in die nächste Nachbarschaft. Dort, Richtung Süden, lagen Bosnien und Herzegowina, seit Mitte des 15. Jahrhunderts Provinzen des Osmanischen Reichs. 100 Jahre später lagen sie unmittelbar an der berühmten, über knapp 2000 Kilometer sich erstreckenden Militärgrenze, die die Habsburger von 1583 an gegen das Reich der in Konstantinopel regierenden Sultane zogen. Die hatten es seit dem 18. Jahrhundert immer schwerer, ihre europäischen Territorien zu verteidigen. Nachdem der Habsburgische Feldherr Prinz Eugen von Savoyen bereits 1718 Südungarn und Slawonien, das östliche Gebiet des heutigen Kroatiens, erobert hatte, waren Bosnien und Herzegowina gefährdete Außenposten des Osmanischen Reichs. 1865 erhob es diese Region in den Rang einer eigenständigen Provinz, der Vilâyet Bosnien.

Doch Sultan Abdülhamid II. musste seinem Reich immer größere Kraftanstrengungen zumuten, um die auf europäischem Territorium gelegenen Gebiete für die Osmanen zu erhalten. Nach einer dürren Ernte sahen sich die Bewohner der Ortschaft Nevesinje, im Osten der Herzegowina gelegen, außerstande, die nach Konstantinopel zu entrichtenden Steuern – bis zu 40 Prozent ihrer gesamten Erträge72 – aufzubringen. Die Bewohner erhoben sich – und zettelten eine Rebellion an, die bald auf die gesamte Provinz übersprang. Der Aufstand weitete sich bald über die Grenzen der Region aus und mündete schließlich in mehrere Kriege: den serbisch-osmanischen, den montenegrinisch-osmanischen und vor allem den russisch-osmanischen Krieg von 1877/78, in dessen Verlauf die Russen ihre Gegner bis kurz vor Istanbul trieben. Alarmiert durch den so gewonnenen russischen Gebietszuwachs – er hätte auch die Kontrolle des Zarenreichs über die Meerenge von Marmara bedeutet –, bemühten sich die westlichen Mächte, die russischen Territorialgewinne nach Möglichkeit wieder zu beschneiden. Auf dem Berliner Kongress im Sommer 1878 einigten sich die Teilnehmer auf eine grundlegende Neuordnung der Region: Bulgarien wurde dreigeteilt. Das wichtigste Drittel wurde zu einem eigenständigen Fürstentum, das dem Osmanischen Reich allerdings weiterhin tributpflichtig war; im Süden entstand eine international verwaltete Zone, während Makedonien, Thrakien und Albanien unter Herrschaft der Osmanen blieben. Montenegro, Serbien und Rumänien wurden hingegen als souveräne Staaten bestätigt; und Österreich-Ungarn erhielt das Recht, Bosnien-Herzegowina zu besetzen. Unter der Hand wurden weitere Vereinbarungen geschlossen. „Ein Geheimprotokoll platzierte Serbien in die Einflusssphäre der Donaumonarchie, der östliche Balkan mit Bulgarien wurde als russisches Interessengebiet anerkannt.“73 Damit hatten die Verhandlungsmächte ein wichtiges Ziel erreicht: Die jeweiligen Interessensphären waren definiert, was, so das Kalkül, die Gefahr weiterer Zusammenstöße verringern würde. Und die Vereinbarung schob dem von serbischen Nationalisten gehegten Traum eines großen südslawischen Staates einen Riegel vor. Die Kriege und die ihnen folgenden Gebietsaufteilungen zogen größte Gewalt nach sich. Die osmanische Armee vertrieb mehrere Hunderttausende Bosnier, Serben, Makedonier und Bulgaren aus den der Hohen Pforte zugeschlagenen Gebieten, während umgekehrt aus Serbien, Montenegro, Bulgarien, Rumänien und Griechenland ebenfalls zahllose Menschen fliehen mussten. Teils wurden die Vertreibungen auf dem Berliner Kongress wieder rückgängig gemacht.

In Bosnien und Herzegowina blieb es anfangs – vergleichsweise – friedlich. Der Nationalismus, wie er in anderen Ländern und Provinzen Mitteleuropas bereits seit Jahrzehnten bekannt war, spielte dort zunächst kaum eine Rolle. Entsprechend wenig populär waren auch Vorstellungen, sich im Namen der nationalen Identität gegen die fremden Herren zu erheben. „Wer Bosnien und seine Bewohner kennt, weiß, dass ein Aufstand in Bosnien nie aus den Reihen der Bosnier selbst kommen kann“, schrieb der im Dienst der serbischen Regierung stehende Offizier Antonije Orešković. „Ein solcher Aufstand kann auf lokaler Ebene niemals organisiert werden. Dafür bräuchte es Elemente von außen, sie sind dazu weder in der Lage, noch verfügen sie über den entsprechenden Patriotismus. Auch fehlt es ihnen an Entschlusskraft und Willen.“74 Die 400-jährige Herrschaft der Osmanen habe sie zu Unterwürfigkeit erzogen.

Gewiss: Die Menschen in Bosnien und Herzegowina müssen sich an die neuen Machthaber gewöhnen. Statt der osmanischen durchziehen nun kaiserliche Militärs und Beamte das Land. Entschlossen nehmen sie dessen Aufbau in die Hand, erweitern und modernisieren das Wegenetz und stellen ihm auch erste Eisenbahnkilometer zur Seite. Die transportieren einerseits die Güter der beiden Provinzen nach Norden, beleben aber auch deren Binnenmarkt. Weniger Wert legt das Kaiserreich auf die Anhebung des Bildungsniveaus. Fast 90 Prozent der Einwohner waren Analphabeten, zwei Millionen Einwohner mussten sich mit fünf höheren Schulen zufriedengeben. Zugleich müssen sie sich an dem Ausbau der Infrastruktur beteiligen, was nur über höhere Steuern möglich ist. Alles in allem nehmen die Menschen die Veränderungen recht gelassen hin. „Natürlich bedeutete auch hier das neue Leben, wie überall und immer unter solchen Verhältnissen, in Wahrheit eine Mischung aus Altem und Neuem. Die alten Auffassungen und Werte stießen sich mit den neuen, vermischten sich oder lebten nebeneinander her, als warteten sie, wer wen überleben werde. Die Menschen rechneten nach Gulden und Kreuzern, aber ebenso nach Groschen und Para, sie maßen nach Arschin, nach Okka und Dram, aber auch nach Metern, Kilogramm und Gramm, sie legten die Termine für Zahlungen und Lieferungen nach dem neuen Kalender fest, noch häufiger aber nach alten Gewohnheiten, auf den Georgitag oder zu Michaelis. Wie einem Naturgesetz folgend, stemmte sich das Volk gegen alles Neue, aber es ging darin nicht bis zum Ende, denn den meisten war das Leben wichtiger und teurer als die Form, in der sie lebten.“75

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