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Kompliziert versus komplex

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Warum brauchen wir heute mehr denn je fähige Mitarbeiter? Weil wir es häufiger als früher mit komplexen Aufgaben und Herausforderungen zu tun haben. Dazu ein kleiner Ausflug in die Systemtheorie: Dort kennt man zwei Arten von Problemen, nämlich komplizierte (»blaue Aufgaben«) und komplexe (»rote Aufgaben«).5 Komplizierte Systeme laufen immer wieder gleich ab, ihre Teile wirken immer wieder gleich zusammen, sie sind von außen beobachtbar und steuerbar. Sie bergen keinerlei Überraschungen. Ein kompliziertes Problem ist allein durch Wissen zu lösen. Beispiel: Wenn meine Waschmaschine kaputt ist, ist das für mich ein kompliziertes Problem, da ich absolut keine Ahnung habe, wie Waschmaschinen funktionieren (egal, ob von AEG, Bosch, Siemens oder Miele). Für den Miele-Servicetechniker dagegen ist eine kaputte Miele-Waschmaschine kein Problem, sondern eine Banalität: kurze Fehlerdiagnose, Ersatzteil montiert, fertig. Kompliziertheit entsteht also durch einen Mangel an Wissen. Bei blauen Problemen stehen die Fragen »Wie geht es?« und »Wer weiß das?« im Vordergrund. »Blau« sind zum Beispiel alle Maschinen und genau standardisierbaren Prozesse. Mit dem nötigen Wissen werden komplizierte Probleme trivial und damit sofort lösbar und zu entscheiden.

Für das Funktionieren einer Organisation ist es erforderlich, dass für alle blauen Aufgaben und Probleme die richtigen Fachleute verfügbar sind und dass deren Fachwissen ausreichend dokumentiert ist. Dann ist es mehr oder weniger problemlos in der Organisation multiplizierbar. Alle komplizierten Probleme können theoretisch von Algorithmen, Maschinen und Robotern erledigt werden. Hierarchische Führungsstrukturen aus der Zeit der Industrialisierung vertragen sich prima mit blauen Aufgaben, in denen Vorgabe und Kontrolle notwendig sind. Die blaue Welt ist die der Checklisten, Prozessbeschreibungen und ISOs, der Null-Fehler-Toleranz und Perfektionierung.

Komplexe (rote) Systeme hingegen sind prinzipiell unberechenbar. Das Zusammenwirken ihrer Teile ist dynamisch; es folgt keinen festen Regeln. Komplexität ist das Maß an Überraschungen, mit denen man rechnen muss. Typischerweise sind alle Systeme »rot«, in denen unberechenbare Naturkräfte oder der zuweilen unberechenbare Mensch eine Rolle für das Gelingen spielen. Bisher sind einzig Menschen in der Lage, rote Probleme zu lösen, denn diese brauchen Ideen und Kreativität. Rote Probleme kann man nicht der Reihe nach systematisch abarbeiten. Sie brauchen Könner, die sehr schnell experimentieren und schnell die richtigen Schlüsse aus den Ergebnissen ziehen können. Bei roten Problemen steht also die Frage »Wer kann es schaffen?« im Vordergrund. Rote Probleme werden typischerweise in Projekten organisiert. Kommunikation und Kreativität spielen eine außerordentlich wichtige Rolle. Die Entscheidungen werden häufig im Team gefällt. Die notwendigen Ideen entstehen in einer Mischung aus individueller und kollektiver Arbeit. Sie erfordern den Rückzug und die Stille ebenso wie den Austausch und die gegenseitige Anregung. In dem Maße, wie Unternehmen unter Innovationsdruck stehen, steigt der Anteil roter Aufgaben.

Leider werden wir in unserem Schulsystem durch und durch auf die blaue Welt vorbereitet. Es stecken keine wirklichen Überraschungen in den Schulbüchern und Lösungsheften, denn es werden ausschließlich Fragen gestellt, deren Antworten zweifelsfrei feststehen. Auch das Experimentieren und das Fehlermachen werden eher nicht gefördert, vielmehr führen Fehler meist unweigerlich zu schlechten Noten. Das Kooperieren darf man ab und an im Projektunterricht üben. Typischerweise lernt man da, dass es immer einen hoch motivierten, fähigen Idioten gibt, der die Arbeit für den Rest der Gruppe erledigt. Ansonsten wird jede Form intelligenter Kooperation – etwa das Abschreiben – streng geahndet. Nicht gerade die perfekten Voraussetzungen, um später im Berufsleben gemeinsam mit einer Gruppe von Menschen zu experimentieren und (zu Lernzwecken) zu scheitern.

Fazit: Wir brauchen neue Formen der Arbeitsorganisation, weil sich komplexe Aufgaben und schnelles Reagieren schlecht mit hierarchischen Strukturen vertragen.

Das wahre Elend der Managementlehre liegt indes an der Wurzel einer jeden sozialwissenschaftlichen Theorie und Weltanschauung: dem Menschenbild. Im Theoriegebäude der Ökonomie agiert der Mensch (der Homo oeconomicus) als gefühlsamputierte, egozentrische Witzfigur. Der wichtigste Protagonist (der Unternehmer / das Unternehmen) hat zum obersten Daseinszweck das Schaufeln von Gewinnen. Der Antagonist kennt nur einen einzigen Lebenszweck: das Konsumieren von Gütern und Dienstleistungen bis zur Sättigungsgrenze. Diese ist bei einzelnen Gütern schnell erreicht (der Grenznutzen des fünften Biers in Folge ist in aller Regel negativ), in Gänze jedoch sind die Bedürfnisse unendlich. Ob irgendjemand durch das eigene Streben nach Befriedigung zu Schaden kommt, interessiert den Modell-Konsumenten nicht. Auch hat er keinerlei relevante Bedürfnisse nach Dingen, die nicht von Knappheit regiert werden. Luft und Liebe, die Nahrung der Verliebten, kommen im Marktmodell nicht vor.

Das Menschenbild, das der Managementlehre – und auch unserem Bildungssystem (!) – zugrunde liegt, stammt aus der psychologischen Forschung des 19. Jahrhunderts und basiert auf den Theorien der Evolutionspsychologie und der Soziobiologie. Diesen zufolge ist der Mensch so wie jedes andere tierische Wesen in erster Linie auf Selbst- und Arterhalt programmiert. Grob vereinfacht ausgedrückt dienen alle Anstrengungen dazu, möglichst attraktiv für potenzielle Sexualpartner zu werden und dann ordentlich für die Nachkommen zu sorgen. Demnach strengen wir uns nur um der eigenen Vermehrung und des eigenen Vorteils willen an und gehen darüber hinaus den Weg des geringsten Widerstands.

Auf den ersten Blick ein Modell von bestechender Logik. Man braucht sich nur anzuschauen, welchen Aufwand wir betreiben, um in den Unternehmenshierarchien nach oben zu steigen, und wie viel Geld wir für demonstrativen Konsum ausgeben: Guccitasche, Manolo Blahniks, Rolex und Porsche sind demnach nichts anderes als Rangabzeichen im Kampf um die passenden Vermehrungspartner.

Wenn wir glauben, der Mensch sei nur von Eigennutz getrieben, müssen wir zwangsläufig mit Vorgaben und Anreizen arbeiten, um ein gewünschtes Verhalten zu erzeugen. Schauen wir ins Bildungssystem: Wenn wir meinen, dass Kinder nicht von Natur aus Lust auf Lernen und Entwicklung haben, müssen wir die deprimierenden Dressursysteme installieren, die wir an praktisch jeder Schule vorfinden. Die Kinder werden in einen festen Lernplan gepresst, müssen dort den Lernstoff abarbeiten wie Fabrikarbeiter und werden durch ein perfides Angstsystem von Schulnoten und »Sitzenbleiben« dazu »motiviert«, das zu tun, was man von ihnen erwartet. So oder ähnlich geht es dann in den Unternehmen weiter: Stellenbeschreibungen, Zielvorgaben, Kontroll- und Beurteilungssysteme sollen dafür sorgen, dass Menschen das tun, was wir von ihnen erwarten.

Deprimierenderweise erzeugen wir aber gerade damit die Haltung, die wir eigentlich bekämpfen wollen. Denn wenn wir Menschen behandeln wie bequeme Egoisten, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sie sich genau so verhalten. Dass es in vielen Unternehmen eine Dienst-nach-Vorschrift-Mentalität gibt, ist eine logische Folge der vielen Vorschriften und Misstrauenssysteme. Der Autor Reinhard K. Sprenger hat schon vor 30 Jahren in seinem wegweisenden Buch Mythos Motivation offengelegt, dass variable, von der Leistung abhängige Gehälter (wie Umsatzprämien im Verkauf) eine unausgesprochene Misstrauenserklärung sind. Sie sagen schließlich nichts anderes aus als: »Wenn ich dir ein angemessenes Fixgehalt gebe, machst du weniger, als du zu leisten imstande bist.«

Es ist klar, dass wir mit einem negativen, reduktionistischen Menschenbild keine Unternehmensstruktur (und daraus resultierend eine Unternehmenskultur) aufbauen können, die auf gegenseitigem Vertrauen, Transparenz und Selbstorganisation aufbaut.

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