Читать книгу Die Schlacht der Fünf Lande - KF König - Страница 8
Kapitel 1
ОглавлениеGefrierende Kälte schlich sich von draußen durch das geöffnete Fenster in die Burg, die jedoch die ohnehin bereits vorherrschende kühle Stimmung der Königsfamilie nicht weiter beeinflussen konnte. Robin starrte beharrlich aus dem Fenster seiner Kemenate, die sich in der obersten Etage befand, in Richtung des Toten-Gebirges. Eine knochige Hand platzierte sich auf seiner Schulter und Robin senkte seinen Kopf. Er sah wie tausende von Menschen dem heftigen Schneefall trotzten und unbeirrt auf dem von Schnee und Eis befreiten Weg entlang in das Toten-Gebirge wanderten.
Die beruhigende Stille war durch seine Mutter beendet worden. »Komm, mein Sohn, mach dich bitte fertig, wir müssen gehen!«
Für Robin war es an der Zeit Abschied zu nehmen. Abschied von seinem geliebten Vater, dem rechtmäßigen König vom Eislande, Sigurd der Neunzehnte, im Volk zusätzlich als »der Gutmütige« bekannt. Robin musste seine gesamte Kraft sammeln, zu innig hing er an seinem Vater. Verzweifelt griff er sich an sein langes blondes Haar, das er geflochten und mit Bändern zusammengebunden hatte. Robin war von durchschnittlicher Statur und Größe, doch verbargen sich unter seinem Wintermantel ansehnliche Muskeln.
Sein schmales Gesicht wurde besonders durch seinen Vollbart betont, doch auch seine strahlend blauen Augen waren auffälliger als bei den anderen Menschen im Eislande, die ebenfalls mit derselben Augenfarbe beglückt waren.
Robin hob seinen gesenkten Kopf an und wagte einen letzten Blick auf die voranschreitenden Menschen. Schließlich schloss er das veraltete Fenster und ging auf seine Mutter zu. Königin Runa war mit einem äußerst dicken Mantel umhüllt, durch den sie trotzdem kaum robuster wirkte, war sie doch mittlerweile dünn und schlaff geworden. Dies verschuldete ihr hohes Alter. Ihre nicht allzu langen grauen Haare verdeckten zum Teil ihre strahlenden Augen, dennoch konnte immer noch eine elegante Dame betrachtet werden, die ihrer Betagtheit trotzte.
Nicht nur Robin, auch Königin Runa hatte schwer mit dem Verlust des Königs zu kämpfen. Sie hatten einander ihr gesamtes Leben lang geliebt. Mit etwa 72 Jahren war sie mehrere Jahre jünger als ihr eben verstorbener Mann. Runa konnte sich kaum noch an die Zeiten erinnern, in der die beiden noch kein Paar gewesen waren. Dies lag bereits einige Jahrzehnte in der Vergangenheit.
Weit in die Vergangenheit reichte ebenso die Anstellung des Königsberaters Ragnarr, der nunmehr 25 Jahre der Königsfamilie diente und dem König in dieser Zeit auf Schritt und Tritt folgte. Ragnarr war ein durchtriebener Mann mit langen braunen Haaren und mächtigem Vollbart. Bekannt war er dafür, Geheimnisse aus den Menschen herauszulocken, um diese für sich nützlich zu machen. Für sein hohes Alter von knapp über einem halben Jahrhundert hatte er noch immer einen ansehnlichen Körper, und dennoch war ihm anzusehen, dass dieser Mann jede Menge erlebt und gesehen hatte.
Ragnarr war als Herumtreiber bekannt, der dem Alkohol nicht gerade abgeneigt war und große Freude an Feiern und Feste hatte. Auf diese Trauerfeier hätte er allerdings gerne verzichtet, entsprechend schätzte er König Sigurd, der ihm damals mit der Aufgabe des Beraters die Möglichkeit bot, aus dem Burghof in die Burg aufzusteigen. Ragnarr musste dafür nicht überredet werden, er war bekannt für seine Gerissenheit und wollte diese Gabe für die Königsfamilie nutzen. Der Tod von König Sigurd nahm großen Einfluss auf die Arbeit von Ragnarr, denn König Sigurd war bisher seine Bezugsperson in der Burg gewesen. Nun allerdings wurde er Königin Runa zur Seite gestellt. Dies war keineswegs Neuland für ihn, nicht selten traten sie einst als Trio auf, wodurch sich ebenso Königin Runa und Ragnarr bestens kannten.
Um rechtzeitig zur Trauerfeier zu gelangen, machten sich Robin, Königin Runa und Ragnarr, dick in ihre Mäntel eingehüllt, auf den Weg. Aufrecht ging Runa voran. Doch sie selbst wusste, dass dies nicht der Realität entsprach. Der Tod ihres Mannes traf sie derart heftig, dass sie am liebsten ihre restliche Lebenszeit eingesperrt in ihrer Kemenate absitzen würde. Der desolate, fragile Zustand ihres Sohnes zwang sie dazu, Stärke und Mut auszustrahlen, um ihm die nötige Hoffnung zu vermitteln.
Gleichwohl war es für sie schwer vorstellbar, wie Robin nur ohne seinen Vater klarkommen sollte. Die beiden waren unzertrennlich. Und doch musste das Leben weitergehen. Es lag an Königin Runa, ihrem Sohn neuen Mut einzuhauchen und dazu zu bewegen, die Nachfolge seines Vaters anzustreben.
Eine große Menschenmenge, traurige und weinende Gesichter so weit das Auge reichte, stand dicht aneinander gedrängt in unmittelbarer Entfernung eines riesigen Steinkreises. Dieser war umgeben von irrsinnig hohem Unkraut sowie bedeckt von Moos und Flechten. Der Steinkreis befand sich im sogenannten Toten-Gebirge, ein kleines Stück nördlich der Hauptstadt Königsburg.
Rundherum erhoben sich hohe mit Schnee und Eis bedeckte Gebirge. Blühende Pflanzen waren vergeblich gesucht worden, derart lange herrschte schon Eiseskälte im Lande. Die wenigen Eschenbäume, die der Kälte beharrlich trotzten, verloren mit den Jahren den Großteil ihrer Blätter und erwachten nicht mehr aus deren tiefem Schlaf. Obwohl das gesamte Lande eisigen Temperaturen ausgesetzt war, stiegen sie im Süden doch deutlich an. Je weiter die Menschen in den Norden vordrangen, desto kälter und gefährlicher wurde es. Da die Einheimischen vom Eislande von überall her für König Sigurds Trauerfeier angereist waren, hatten nicht wenige mit den kälteren Temperaturen in Königsburg zu kämpfen. Sie reisten infolgedessen mit Unterkühlungen wieder heim.
Der Ansturm war enorm, zahlreiche Menschen kletterten auf die kargen Eschen, um einen Blick in den Steinkreis zu erhaschen. Dies war allerdings vollkommen unmöglich, denn das Innere des Steinkreises war von übermächtigen, in die Höhe ragenden, Steinen umgeben und somit vor neugierigen Blicken geschützt. Dieser Schutz sollte ursprünglich nicht das Einsehen abwenden, sondern insbesondere als Mauer dienen, um Unbefugten den Zutritt zu verwehren. Im Eislande war es seit 1598 Gesetz, die Leichen verstorbener Könige in dem dafür errichteten Steinkreis unterzubringen. Verflucht würden alle sein, die sich unbefugt in den Steinkreis begaben und somit die Ruhe der Verstorbenen störten.
Im leichten Schneefall warteten die Menschen auf den Beginn der Zeremonie und sprachen seit geraumer Zeit immer wieder die gleichen Phrasen, »Hoch lebe König Sigurd, der Neunzehnte«, »Für immer und ewig«, sowie »Aegir möge dich zu sich aufnehmen und beschützen«. Eine betagte Frau fing weinend an, für König Sigurd zu singen und mit der Zeit stimmten stetig mehr Menschen mit ein. Durch die Mischung des Gesangs und der erneut gesprochenen Phrasen ertönte ein melodischer Klang, der die Trauerfeiern im Eislande stets speziell machte. Dieses Ritual wurde bereits seit Jahrhunderten praktiziert, doch jedes Mal aufs Neue waren die Anwesenden davon derart begeistert, dass es sie zu Tränen rührte.
Inmitten der wartenden Menschen war ein freier Weg erkennbar, der zum Steinkreis führte und bewusst freigehalten worden war. In den Gesang versunken, erblickten die Trauernden von der Weite vier Gelehrte, die den toten König auf einem wunderschön verzierten Holzgestell herbeitrugen. Mit schleppenden Schritten näherten sich die bejahrten, mit langen grauen Bärten versehenen Gelehrten, dem Eingang des Steinkreises. Sie galten als Diener des Landes. Selbst, wenn der Körper des zuvor schwer erkrankten Königs kaum noch Gewicht hatte, waren den Gelehrten deren Schwierigkeiten unverkennbar anzusehen. Der sich bildende Schweiß floss ihre Gesichter hinab, sodass mehrere Eiszapfen in den langen Bärten zurückblieben.
Der Eingang zum Inneren des Steinkreises wirkte wie ein magisches, geheimnisvolles Tor, gebildet durch feingeschliffene und aneinander gesetzte Steine, in den nur die Gelehrten befugt eintreten durften. Bevor sie die Schwelle in den Steinkreis übertraten, bewegten sich die Köpfe aller Anwesenden nervös umher, um reichlich Details wie möglich aufzuschnappen und eines Tages den eigenen Kindern davon berichten zu können.
Der Tod eines Königs im Eislande, dem Norden der Fünf Lande, war im Laufe der Geschichte zu einer Seltenheit geworden.
Während König Sigurd das hohe Alter von 89 Jahren erreichte, starb sein Vater und Vorgänger König Thanos, der Achtzehnte, der bereits mit zwanzig Jahren den Königsthron bestieg, erst im unglaublichen Alter von 112 Jahren. Die frühe Krönung zum König bescherte König Thanos damals im Volk den Titel »das Kind«, ehe er im fortgeschrittenen Alter als »der Unsterbliche« gepriesen worden war. Der Umstand, dass die letzten zwei Könige eine derart hohe Altersstufe erreichten, obwohl dies im Eislande aufgrund der Kälte keineswegs üblich war, machten diese Trauerfeiern besonders und einzigartig.
Mit einem großen Abstand zu den Gelehrten, den einzig befugten Trägern des Leichnams des Königs, kamen Königin Runa und dessen einziger Sohn Robin hinterher. Als Familienangehörige vom Verstorbenen war es ihnen einmalig erlaubt, den Steinkreis zu betreten. Sowohl für Runa, als auch für Robin, war dies eine neue Erfahrung. Beide waren mit dem Eintreten völlig erstaunt und überfordert, welch Geschichte das Innere preisgab und in weiterer Folge kurz von der Trauer ablenken konnte. Mit offenen Mündern starrten sie auf die willkürlich verteilten gewaltigen Steine, die mit den unterschiedlichen Gravuren der verstorbenen Könige und Königinnen versehen waren.
Überwältigt aufgrund des Gesehenen, standen Königin Runa und der Königssohn Robin wie versteinert da und ließen ausschließlich ihre Augen unglaubwürdig durch den Steinkreis wandern. Besonders die unterschiedlich geformten und großen Steine schienen die beiden zu beeindrucken. Robin liebte es, Bücher über die Geschichte vom Eislande zu lesen und neue Details zu erfahren und in seinem Kopf abzuspeichern. Egal welche Anzahl an Büchern er bisher gelesen hatte, keines davon konnte nur annähernd den Anblick beschreiben, der sich ihm hier bot.
Nachdem alle Steine der Reihe nach ausführlich gemustert worden waren, zog etwas Bestimmtes die Aufmerksamkeit auf sich. In der Mitte des Steinkreises stand ein beachtenswerter Tisch, auf dem die Leiche des Königs abgelegt wurde. Robin betrachtete noch einmal intensiv den Körper seines Vaters, der in ein dickes Bärenfell eingewickelt worden war. Ehe der stärker werdende Schneefall die Leiche bedeckte, begossen die Gelehrten den Kopf des Königs mit einem warmen magischen Wasser, das aus dem Haus von Aegir stammte. Dank der gefrierenden Temperaturen bildete sich in nur wenigen Augenblicken Eis um den Kopf der Leiche. Die Vereisung mit dem besonderen Gewässer sollte sicherstellen, die Verstorbenen mit Hilfe von Aegir ewig am Leben zu halten, da der Kopf vom magischen Wasser fortlaufend umhüllt war.
Nach Ausführung des Rituals stimmten die sich weiterhin im Steinkreis befindlichen Gelehrten und die Königsfamilie in den Gesang der Menschenmenge von außerhalb mit ein. All die Leute standen weiterhin gefestigt auf ihrem kleinen Fleckchen und sangen energisch und vollen Mutes. Der Klang war unbeschreiblich, insbesondere für diejenigen, die sich im Steinkreis befanden. Denn durch die jahrhundertealten Steine entstand ein seltsamer, mystischer Ton. Robin überzog ein wohlfühlender Schauer, seine Haare richteten sich auf und die Atmosphäre rührte ihn zu Tränen. Für ihn war es schwer zu glauben, wie beliebt sein Vater beim Volk war und welch tagelange Reisen und somit Gefahren zahlreiche Menschen auf sich genommen hatten, nur um sich von König Sigurd, dem Neunzehnten, verabschieden zu können.
Da der Schneefall immer stärker wurde, war die Leiche bereits nach kurzer Zeit zur Hälfte mit Schnee bedeckt. Das Ritual des Gesanges musste allerdings solange andauern, bis der Körper des toten Königs komplett mit Schnee überdeckt war. Die Anwesenden hatten Glück, zumal der Schneefall an diesem Tag überaus heftig war, denn laut den Geschichtsbüchern soll es in früheren Zeiten üblich gewesen sein, dass Trauerfeiern bis zu mehreren Tagen dauerten.
König Sigurd der Neunzehnte war nach nur kurzer Zeit vollkommen mit Schnee zugedeckt und der Ritualgesang konnte beendet werden. Als die Gelehrten das Innere des Steinkreises verließen, war die Menge abrupt still geworden. Lediglich das Surren der umherfliegenden Lebewesen war zu vernehmen. Einige waren tatsächlich schockiert und verwundert, wie übereilt die Prozedur beendet war. Aber sie vernahmen dies als ein gutes Zeichen, denn Aegir habe König Sigurd mit großer Freude aufgenommen. Die trauernden Menschen waren voller Emotionen, umarmten sich und sahen, wie nach den Gelehrten nun Königin Runa und ihr Sohn Robin den Steinkreis verließen und sich neuerlich in Richtung Königsburg bewegten.
Selbst aus großer Entfernung war Robin noch anzusehen, dass er weiterhin beträchtlich um seinen Vater trauerte. Seine gebückte, niedergeschlagene Haltung, sein unsicherer Gang und das tränenüberströmte Gesicht sprachen Bände und offenbarten seine Gefühlslage. Königin Runa war ebenso am Boden zerstört, doch wiederholte sie innerlich beständig ihr Mantra, dass es jetzt wichtiger denn je sei, Stärke auszustrahlen.
Nachdem die Gelehrten und die Königsfamilie ein gewisses Stück entfernt waren, traten die einfachen Leute aus dem Eislande den Heimweg an.
Der Großteil nach Königsburg, doch auf manche wartete eine längere Heimreise in die südlich liegenden Dörfer und Städte. Der erste Teil der Trauerfeier war überstanden, es folgte die große Feier im Festsaal der mächtigen Burg, bei der allerdings nur geladene Gäste eintreten durften, da die Kapazitäten nicht unendlich waren.
In der Burg angekommen, suchte Robin sofort das Gespräch mit seiner Mutter. »Mutter, ich bin noch nicht bereit endgültig Abschied zu nehmen. Ich weiß nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen soll«, sprach Robin und hoffte auf Verständnis.
»Tut mir leid mein Sohn, aber du bist Sigurds Sohn und deine Anwesenheit wird vorausgesetzt.« Königin Runa tat es tatsächlich leid, sie wusste, wie schwer es für Robin war und doch war es unmöglich, ihn von der abschließenden Trauerfeier im Festsaal fernzuhalten. Gerüchte würden entstehen und die Königsfamilie müsste anschließend darunter leiden. Dies musste sie verhindern.
Robin war den Tränen nahe. »Mutter, ich kann das nicht. Ich bin nicht so stark, wie ihr mich gerne hättet«, klagte er verzweifelt.
»Robin, es zeugt keineswegs von Schwäche, nur weil du trauerst.«
Robin konnte nicht mehr ruhig bleiben und seine Stimme wurde lauter. »Es fühlt sich aber schwach an. Jeder erwartet von mir, der neue König zu werden, jedoch fühle ich mich noch nicht bereit dazu.«
Königin Runa wurde emotionaler, sie konnte nicht abstreiten, dass sie ernsthafte Sorgen um Robin hatte.
»Du hast deinen Vater eben geliebt und trauerst nun um ihn, das ist völlig normal bei Menschen mit solch einem großen Herzen, wie du es hast.«
Diese Worte brachten Robin zum Schmunzeln. Das würde jede Mutter zu ihrem Sohn sagen, er wusste allerdings nicht, was er damit anfangen sollte. Er war keineswegs böse auf seine Mutter, sie wollte ihn schließlich bloß aufmuntern und das wusste er zu schätzen.
»Robin, ich liebe dich und dein Vater hat dich ebenfalls geliebt. Du weißt, ich würde dich gerne in deiner Kemenate im Stillen trauern lassen, aber diesen letzten Akt im Festsaal müssen wir noch gemeinsam durchstehen.« Die Stimme von Runa klang brüchiger, ehe sie fortfuhr. »Wir dürfen uns leider nicht fernhalten, es tut mir wirklich leid.«
Der 26-Jährige fühlte sich plötzlich schlecht, als er bemerkte, dass es bisher unaufhörlich um ihn und seine Gefühle ging und er seine Mutter nie gefragt hatte, wie es ihr in dieser Situation ging. Er war kein Egoist, ganz im Gegenteil, für seine Freunde hatte er stets ein offenes Ohr und half, wo er nur konnte. Dass seine Mutter ebenso wie er unter dem Tod von Sigurd litt, hatte er bislang völlig ausgeblendet.
»Wie geht es dir eigentlich?«, fragte Robin nun vorsichtig seine Mutter.
»Das war heute der schlimmste Tag meines Lebens, das kannst du mir glauben. Sigurd war der beste Partner, den man sich nur vorstellen konnte.« Der Königin kamen erste Tränen, die sie in der Öffentlichkeit lange bekämpft und erfolgreich zurückgehalten hatte. Sie wischte sich die Tränen aus ihrem Gesicht und trat näher an Robin. »Aber Schluss jetzt! Wir müssen in den Festsaal, wir reden ein anderes Mal darüber. Die Gäste warten bereits«, verkündete Runa.
»Der unvorstellbare Verlust tut mir leid, Mutter. Doch wir werden diese schwere Zeit gemeinsam durchstehen. Wenn du mich brauchst, werde ich beständig an deiner Seite sein.« Robin versuchte sich Mut zuzusprechen, wie auch seiner Mutter.
Königin Runa war hocherfreut über diese Worte. »Danke, mein Sohn.«
Königin Runa, Robin und der Königsberater Ragnarr traten zuletzt in den großen und prächtigen Saal ein, in dem bereits sämtliche geladene Gäste zugegen waren. Der Festsaal bot hunderten von Menschen Platz, auch wenn dies von außen kaum zu glauben war, derart klein wirkte er. Mit dem Eintritt in den Saal, vermittelte er allerdings den Anschein als wäre er unendlich lang.
Von der Decke hingen eine große Flagge vom Eislande sowie hunderte Kerzenleuchter, die für Licht sorgten. Die Tische und Bänke waren aus den schönsten Steinen geschmiedet und der gesamte Festsaal war einen Tag zuvor von zig Dienern und Dienerinnen für diese Trauerfeier vorbereitet und dem Anlass bezogen geschmückt worden.
Mit dem Eintreffen der Königin waren alle Augen im Saal auf sie gerichtet und es war unverzüglich still geworden. Während Robin und Ragnarr an einem luxuriösen Tisch Platz nahmen, der erhöht neben der Bühne positioniert und nur für die Königsfamilie und deren engsten Angestellten vorgesehen war, trat Königin Runa direkt auf die von überall gut sichtbare Bühne.
Sie blickte nervös in die Gesichter aller Anwesenden. Zahlreiche Verbündete des Hauses waren gekommen, treue Wegbegleiter seit Jahrzehnten, aber genauso vermögende Eingeborene, die im gesamten Lande und in der Hauptstadt einen besonderen Ruf genossen.
Als Königin Runa bemerkte, dass sie die Aufmerksamkeit aller im Saal geschenkt bekam, begann sie ihre Rede für ihren verstorbenen Mann.
»Ich danke euch allen für euer Kommen. König Sigurd, der Neunzehnte, wäre stolz gewesen, euch alle hier begrüßen zu dürfen.« Ein Applaus erfüllte den Saal und unterbrach für kurze Zeit die Rede von Königin Runa.
»Wie ihr wisst, hat König Sigurd jede Menge für das Eislande geleistet. In den vierzig Jahren seiner Regentschaft hatte er unter anderem Abgaben eingeführt, um die Armut im gesamten Lande zu bekämpfen. Weiters wurden landwirtschaftliche Flächen in Königsburg und Wolkenfeld ausgebaut, um eine Sicherstellung der Essensversorgung für alle Menschen im Eislande zu gewähren. Dazu gehörte die erste Eröffnung einer Bäckerei am Marktplatz in Königsburg. Die Nachfrage war entsprechend groß, sodass im gesamten Lande bereits fünf weitere Bäckereien eröffnet worden sind.«
Runa atmete kurz durch, ehe sie in ihrer gemächlichen und überlegten Art fortfuhr. »Keineswegs sollte vergessen werden, dass es König Sigurd gelungen war, eine Abmachung mit den Barbaren zu treffen, die uns nunmehr über 35 Jahre Frieden bescherte. Wie ich Sigurd jedoch kenne, hätte er nicht gewollt, dass heute lediglich politische Ereignisse aufgezählt werden. Denn für Politik interessierte sich Sigurd nur recht wenig. Viel wichtiger hingegen war ihm der Kontakt zu seinen Mitmenschen im Eislande.« Die Anwesenden im Festsaal klatschten und Runa bemerkte, wie ein Großteil davon zu deren Sitznachbarn schauten und sich zunickten.
Es war kein großes Geheimnis, dass Sigurd wenig Interesse an Politik hatte und zu jeder Zeit offene Gespräche den Gesetzgebungen in der stillen Kammer vorzog. Diese Einstellung befähigte ihn dazu, Entscheidungen im Sinne des Volkes zu treffen.
Natürlich bereitete ihm dies oft schlaflose Nächte, denn jeder hatte seine eigenen Wünsche, die schlussendlich nicht alle berücksichtigt werden konnten.
»Leb wohl König Sigurd, der Gutmütige. Dein Eislande wird ewig in deiner Schuld stehen und sich stets an das zurückerinnern, was du einst geschaffen und erbaut hast. Es war mir eine Ehre, dich kennenlernen zu dürfen, dich über alles zu lieben und von dir geliebt zu werden. Du warst nicht nur mein König und mein Mann, für mich und die Menschen in diesem Lande wirst du ewig eine Legende bleiben. Möge Aegir dich freundlich sowie mit offenen Armen empfangen und behutsam in seinem Reich aufnehmen.«
Alle erhoben sich von ihren Plätzen und klatschten eine gefühlte Ewigkeit für den verstorbenen König. Ein rührender Moment für Königin Runa, die ebenfalls in den Applaus für ihren Mann einstieg. Nachdem der Beifall abebbte, wünschte Königin Runa allen Anwesenden einen schönen Abend und nahm anschließend zwischen Robin und Ragnarr Platz. Während Ragnarr Königin Runa einen anerkennenden Blick für eine großartige Rede schenkte, saß Robin in Gedanken versunken auf seinem Platz. Der Grund dafür war, dass ihn die Rede seiner Mutter tief traf und er nicht anders konnte, als in den Raum seiner Gedanken einzutauchen, um ein Weinen zu verhindern.
Bei Trauerfeiern im Eislande war es üblich, dass jeder der Anwesenden seine Erinnerungen an Erlebnisse und Erfahrungen mit dem verstorbenen König mit den anderen teilen durfte. Bei König Sigurd war die Bühne dauerbesetzt, sobald jemand seine Rede beendet hatte, wollten unzählige weitere Personen auf die Bühne und über deren eigene Gespräche mit dem König berichten.
Da Sigurd ein umgänglicher und geselliger Mensch gewesen war, der sich am liebsten mit jedem Lebewesen vom Eislande mindestens einmal unterhalten hätte, reichte der Abend nicht, alle Anwesenden zu Wort kommen zu lassen.
Neben Königin Runa war insbesondere die Rede von Einar, einem großen, muskulösen Mann mit glatten, langen schwarzen Haaren, erwähnenswert. Auffallende Goldketten um seinen Hals lenkten von seinen Narben im Gesicht ab, die für das Alter von etwa 54 Jahren stark ausgeprägt waren. Einar, seine Frau Hulda und die vier Kinder lebten hauptsächlich vom Ruhm der Vergangenheit. Denn Einar war ein Nachfahre von König Wodan, dem Zwölften, das Volk nannte ihn »der Wütende«, der von 1682 bis 1740 das Eislande regieren durfte.
Für Robin war Einar kein Unbekannter, da er dessen Sohn Gunnar schon länger kannte. Die beiden verband nicht wirklich eine Freundschaft, ganz im Gegenteil. Daher horchte Robin neugierig auf, als sich Einar gemächlichen Schrittes hin zur Bühne bewegte und das Wort ergriff. Stets wählte er seine Worte mit Sorgfalt und sprach diese absichtlich deutlich und langsam aus, damit sie bei allen Gehör fanden.
»Wir haben uns heute versammelt, um König Sigurd zu verabschieden. Ich habe mit Sigurd unzählige Gespräche geführt, wir hatten einige Meinungsverschiedenheiten, keine Frage, jedoch fanden wir gegen Ende des Gespräches regelmäßig zueinander und trennten uns ohne Groll.« Königin Runa, Ragnarr und Robin wussten, dass dies nicht der Wahrheit entsprach, aber sie hatten ferner nicht erwartet, einer Rede von Einar lauschen zu müssen.
»Ich plädiere dazu und halte den baldigen neuen König dazu an, den Weg von König Sigurd fortzuführen, insbesondere den engen Austausch mit den gewöhnlichen Menschen vom Eislande.«
»Da will sich jemand beliebt machen«, flüsterte Ragnarr der Königin zu. »Vermutlich für seine Kinder.«
»Denke ich auch«, erwiderte Runa, müde von Einars Rede.
»Um in Sigurds Fußstapfen zu treten, benötigt der neue König Mut, Stärke und einen unbändigen Willen. Das Eislande muss herrschen und keinesfalls beherrscht werden, wie beispielsweise von Barbaren«, verkündete Einar mit seiner tiefen, schmeichlerischen Stimme.
Während alle gefesselt der Rede lauschten, waren Ragnarr und Runa verärgert über die versteckte Kritik von Einar. Sigurds Abmachung mit den Barbaren war aus deren Sicht eine Lösung, mit der beide Seiten glücklich sein konnten und dem Eislande endlich Frieden bescherte. Einar dagegen empfand diese Vereinbarung als Verbeugung vor den Barbaren und als Schwäche des Königshauses.
»Wenn Härte und Fleiß gefragt ist, dann muss der neue König dazu bereit sein und nicht davor zurückschrecken. Verweichlichung und Schwäche hat in diesem höchsten Amt des Landes keinen Platz. Schönen Abend noch.«
Robin verstand den Seitenhieb auf ihn, selbst wenn er damit vermutlich der Einzige im Saal war. Einar schlich sich unbemerkt in die Köpfe der Anwesenden und signalisierte ihnen so, was für Eigenschaften der neue König unbedingt haben sollte und welche auf keinen Fall. Daher quälte Robin nun das Gefühl, dass ihn die Menschen mit anderen Augen sahen und Mitleid für ihn empfanden, obwohl das nie Robins Bestreben gewesen war.
Neben all den vorgetragenen Reden war ausgelassen gegessen und getrunken worden, wie es bei Trauerfeiern im Eislande Usus war. Zu fortgeschrittener Zeit war mehr getrunken als gegessen worden und die Menschen erzählten sich mittlerweile untereinander an ihren Tischen Geschichten über den alten König. All die Erzählungen erwiesen König Sigurd die letzte Ehre und säten in Robin noch mehr Zweifel.
Der Sohn des Königs fühlte sich, als sei er noch lange nicht bereit, in die Fußstapfen seines Vaters und seines Großvaters zu treten. Seit 1902, also insgesamt 133 Jahre, herrschte dieselbe Familie bereits über das Eislande. Diese lange Zeit setzte Robin nur noch mehr unter Druck, da er nun die einzige Hoffnung der Königsfamilie war, der jedoch ein baldiges Ende am Thron drohte.
Robin dachte zurück an all die Taten seiner Vorfahren und konnte sich nicht im Traum vorstellen, jemals solche Errungenschaften vorweisen zu können. Dass ausgerechnet er einen hohen Durchsetzungswillen aufbringen könnte, um das Lande pflichtbewusst zu führen, zweifelte er stark an. Keiner der im Festsaal Anwesenden konnte seine Stimmung ändern, weder seine Mutter noch Ragnarr oder sein Freund Sven.
»Dein Vater war ein großartiger Mann und ebenfalls ein hervorragender König. Du hast jede Menge von ihm gelernt und du könntest ein würdiger Nachfolger werden.«
Robin verzog müde das Gesicht, derartige Aufmunterungen von Sven wollte er zurzeit nicht hören.
»Setz dich selbst nicht unter Druck, glaub an dich und gib dir Zeit, um das alles zu verarbeiten!«, sprach Sven weiter, ein mit kurzen braunen Haaren bestückter Mann im ungefähr selben Alter wie Robin, der wohl zurecht als bester Freund von Robin bezeichnet werden konnte.
Im Augenwinkel bemerkte Robin die Bemühungen von Ragnarr, ihn auf die Bühne zu bewegen, um seinem Vater die letzte Ehre zu erweisen. »Sven, ich weiß deine Worte zu schätzen und ebenso was du damit bewirken willst, aber sei mir nicht böse, dass ich so etwas im Moment nicht hören will und hören kann.«
Mit diesen Worten verließ Robin die Trauerfeier und ging zu Bett. Endlich konnte er ohne Hemmungen um seinen Vater trauern, zu dem er eine innige Bindung hatte. Ein solches Verhältnis kam eher selten vor.
Robin weinte sich diese Nacht in den Schlaf, in dem er von einem Traum in den nächsten fiel.
Sein Vater erschien neben seinem Bett und sprach Robin Mut zu. »Mein Sohn, gib niemals auf und glaube stets an das Gute. Wenn du nur allzu oft daran glaubst, werden Wunder geschehen.« Sigurd sprach weiter, obgleich seine Stimme immerzu leiser wurde, Robin konnte den Rest kaum noch verstehen. »Pass auf deine Mutter auf«, war der einzige Satz, der Robin noch erreichte und den er in seinem restlichen Leben nicht mehr vergessen sollte.