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Kapitel 2

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Bei wohlwollenden Temperaturen und prächtigen Bedingungen, ohne jeglichen Luftzug, erstrahlte mit Aufgang der Sonne die Kleinstadt Adlerstal. Der Geruch von frischem Holz lag über der Stadt, da sämtliche Gebäude mit diesem beständigen Material errichtet worden waren. Das Treiben auf den Straßen war enorm, als die jeweiligen Häuser verlassen und pünktlich der Weg zur Arbeit angetreten wurde. Die Menschen marschierten wie programmiert in die vorgegebene Richtung, um ihren Beitrag zum Wohlstand der Waldlande zu leisten. Mit dem viermaligen Läuten der Glocken wirkten die Straßen jählings wie ausgestorben und der Hochbetrieb verlagerte sich in die verschiedenartigen Bauten.

Die zahlreichen Räume der stattlichen Lehranstalt waren ohne Ausnahme homogen eingerichtet und ausgestattet. Um die Auszubildenden vor Ablenkungen zu bewahren, dienten den Räumen ausschließlich schlichte Stühle und Tische aus Holz als Inventar sowie zur Unterstützung der Lehrkraft eine große Tafel. Einzig die zahlreich vorhandenen Fenster brachten eine gewisse Schönheit ins Innere der Räumlichkeiten.

Die Wände waren weiß und kalt, keinerlei Verzierungen oder Bilder erfüllten das Anwesen mit bunten Farben, mit Ausnahme einer ansehnlichen Landkarte von Waldlande und dem Symbol des Zirkels. Dabei war die Landkarte so konstruiert, dass die Region Eden als einzigartige Wohlgestalt erschien und Hel dagegen das Abbild des Grauens und der Bosheit darstellte.

Mit dem Glockengeläut platzierten sich die Auszubildenden pflichtgetreu auf den ihnen zugeteilten Plätzen und warteten auf das Eintreffen ihrer Lehrmeisterin für Geschichte. Einer der zu Lehrenden war Anjo, mit achtzehn Jahren der Älteste seiner Gruppe, die allesamt ungefähr gleichalt waren und die neunte von insgesamt zehn Stufen besuchten. Mit dem etwa neunzehnten Lebensjahr wurde der Lehranstalt üblicherweise der Rücken zugedreht und der wahre Ernst des Lebens konnte beginnen.

Die Leitsätze der Lehranstalt in Adlerstal waren äußerst drakonisch ausgelegt, wodurch niemand im Geringsten daran dachte, einmal dem Lehrvortrag fernzubleiben. Ein harmloser Fehler konnte das restliche Leben eines jungen Menschen erheblich erschweren. In der Historie dieser Lehranstalt war ein Fernbleiben erst ein einziges Mal vorgekommen, allerdings wusste niemand, wie dieser Fall endete, da der Auszubildende kurz vor seinem Abschluss unverzüglich aus der Anstalt ausgeschlossen und nie mehr offiziell gesichtet worden war. Mittlerweile zogen ungefähr zehn weitere Jahre ins Lande. Gerüchten zufolge war der Ausgestoßene seitdem einige Male im verfluchten Landesteil Hel gesichtet worden.

Die Lehranstalt von Adlerstal lag dagegen in der Region Eden, dem kleineren östlichen Teil von Waldlande. Eden war als die gutbürgerliche und reiche Seite des Landes bekannt und beinhaltete neben der Kleinstadt Adlerstal weiters die Hauptstadt, Bronzestadt, sowie das kleine Dorf Altfelde an der östlichen Grenze des Landes. Dieses wurde allerdings seit Jahrhunderten nicht mehr bewohnt. Es lag nahe, dass die Anstalt in Adlerstal eigens von Menschen aus Eden und somit Auszubildenden aus vermögenden Familien besucht werden konnte. In dieser Region gab es keine mittellosen Häuser. Wären sie unbemittelt, blieb ihnen keine andere Wahl als die Flucht nach Hel zu ergreifen.

Adlerstal war eine äußerst moderne Stadt, die besonders strukturiert war und mehrere befestigte Wege und Straßen bot, damit sich die Einheimischen rasch und sicher fortbewegen konnten. Das Zentrum der Stadt bot einen Marktplatz, der belebt von zahlreichen wohlhabenden Geschäftsleuten war, welche die neuwertigsten Waren anboten. Obwohl das Waldlande für artenreiche Bäume bekannt war, mussten diese in Adlerstal lange gesucht werden. Einzig ein gegenüber der Lehranstalt geschaffener kleiner Park mit Bäumen, die in gütigem Abstand eingepflanzt worden waren, versprühte noch eine gewisse Atmosphäre der einstigen Waldlande.

Ein Leben in dieser schönen Region war geprägt von harter Arbeit, dies war der allgemeine Tenor aller. Daher pochten Eltern bei ihren Nachkommen ohne Kompromisse auf Ordnung, Fleiß und Ehrgeiz, wobei Faulheit und jegliche Schwäche nicht toleriert wurden. Dabei kam nicht selten vor, dass Kinder von ihren Erzeugern verstoßen wurden, da diese der Meinung waren, ein Leben im Überfluss nicht verdient zu haben. Nicht das Glück und die Tatsache in Eden geboren zu werden, sollte über ein Bleiberecht entscheiden, sondern der Verdienst von harter und schonungsloser Arbeit. Alle diese Bedingungen und ungeschriebenen Gesetze waren den Kindern von Beginn ihres Lebens an eingebläut worden, um den Traum von Eden fortwährend erhalten und beschützen zu können.

Dabei gab es für die Nachkommen keine größere Motivation als der Anblick von Hel selbst. Anjo und seine Gruppe kannten einige Auszubildende aus Helheim, der angrenzenden Nachbarstadt von Adlerstal. Die Schlafunterkünfte der Auszubildenden der beiden Städte trennte nur ein großer Park, der die Grenze zwischen Helheim und Adlerstal sowie den Regionen Hel und Eden darstellt. Geteilt wurde das Lande vor 35 Jahren, wobei Helheim damals noch nicht existierte, da Adlerstal aus beiden Städten bestand und erst mit der Teilung halbiert wurde. Bis dahin waren Unterkünfte und Lehranstalten der beiden Städte noch mit allen gesellschaftlichen Schichten durchgemischt. Dies führte keineswegs zu Problemen, im Gegenteil, zahlreiche Freundschaften entstanden über die diversen Ortschaften verteilt und niemand fragte nach dem Besitz seines Gegenübers.

Allerdings gehörte dies nun der Vergangenheit an, ohne Ausnahme war mit der Zeit nur noch in den eigenen Kreisen verkehrt worden. Die kürzliche Ziehung einer Grenze und das Ausrufen von zwei unterschiedlichen Regionen stellte das Leben im gesamten Lande auf den Kopf. Niemand aus Eden durfte Gespräche mit Menschen aus Hel führen, geschweige denn jemanden aus Hel zu lieben oder zu begehren. Dies war besonders von der geküssten Seite des Landes, wie die Menschen von Eden gerne betonten, eisern hochgehalten und gelebt worden. In der Region Hel war diese Abneigung stets mit Bedauern aufgenommen worden, dennoch blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich den Bestimmungen zu fügen und die Distanz zur gesellschaftlichen Oberschicht zu halten. Die Bewohner und Bewohnerinnen der größeren westlichen Seite waren machtlos - das Sagen hatten andere. Das Waldlande war von einer offiziell gewählten Fraktion geführt worden, die sich alle fünf Jahre der Wahl stellen musste und nun seit 1957 ununterbrochen die Geschicke des Landes leitete, »der Zirkel«.

Mit der uneingeschränkten Kontrolle über das Waldlande konnten die zehn Fraktionsangehörigen des Zirkels ihre Wünsche und Vorstellungen ausleben und schrittweise einführen. Da das Lande, nach Meinung des Zirkels, nur einen Nutzen von besitzstarken Familien hatte, war fortwährend die vermögendere Region des Landes modernisiert und verschönert worden. Im Jahre 2000 war anschließend mit der Teilung des Landes eine neue Zeitrechnung eingeführt worden, die speziell für Eden schlagen sollte.

Über Nacht waren die Menschen aus Hel zu Abschaum und Ausgestoßenen aus der Gesellschaft geworden, denen kein Blick gewürdigt wurde und die lediglich lebten, um den Aufträgen aus Eden zu dienen. Dabei war es ihnen nicht gestattet, auch nur einen Fuß nach Eden zu setzen, denn die dort lebenden Menschen hatten Angst ihres Reichtums beraubt zu werden. Mit der Einführung einer Grenze war diese Angst Vergangenheit, ab dann waren die besitzstarken Familien endlich unter sich.

Wenige Augenblicke nach dem Glockengeläut trat Lehrmeisterin Xuan, eine mit 35 Jahren äußerst junge Lehrkraft, in den Raum ein. Artig wurde sie von ihren Auszubildenden begrüßt. Sie strahlte beharrlich eine gewisse Portion Verbissenheit aus und war zu jeder Zeit ihres Lebens enorm unter Stress. Daher war es keineswegs eine Überraschung, dass sie eintrat und ohne jegliche Umschweife mit dem Lehrvortrag fortfuhr.

»Liebe Auszubildende, wir machen unmittelbar dort weiter, wo wir zuletzt aufhören mussten. Bitte öffnet in eurem Geschichtsbuch Seite 333.« Unverzüglich gehorchten die Jugendlichen und blickten beflissen in deren umfangreiches Buch.

»Flora, bitte lese an der zuletzt markierten Stelle weiter. Der Rest lauscht sittsam.«

Die Auszubildende räusperte sich und strich mit ihren zarten Fingern ihre langen schwarzen Haare hinter die Ohren. Normalerweise kamen bei ihr nun glitzernde Ohrringe zum Vorschein, allerdings war in der Lehrzeit jeglicher Schmuck nicht gestattet. Jeder und jede Auszubildende in Adlerstal hatte die idente Uniform zu tragen. Über dieses geschlossene Auftreten war Flora keineswegs erfreut, denn sie zeigte sich gerne in bunten Kleidern. Dadurch konnte sie aus ihrem grauen Dasein ausbrechen, das sie seit dem Tod ihrer Mutter umhüllte. Ihr blieben in ihrem Zuhause nichts als Stress und zu ihrem Glück Bücher, in die sie leidenschaftlich gerne ihre Nase gesteckt hatte.

Mit zurückhaltender und sanfter Stimme begann die 18-Jährige zu lesen. »Der Rebellionsanführer Hektor rief seinen Anhängern lautstark zu. >Meine lieben Mitstreiter, beruhigt euch. Solange wir wirr durcheinanderreden, ist keine Kommunikation möglich< Doch seine ruhige Stimme drang nicht in die Ohren der spärlich anwesenden Wütenden. Seine rechte Hand Zlatan bemerkte dies und brüllte den Schäumenden entgegen, ruhig zu sein. Stille kehrte ein und Hektor konnte fortfahren.

>Das Adelshaus wurde unterwandert. Diese für uns bedrohliche Entwicklung fand schleichend über mehrere Jahrzehnte statt und führt unser Lande in ein Elend, in eine Abhängigkeit, die wir nicht dulden können und dürfen< Seine Zuhörer wirkten aufgebracht, beinahe fassungslos über das, was sie zu hören bekamen. Doch nicht der Inhalt konsternierte sie, sondern Hektor, den sie für einen gefährlichen, kranken Mann hielten. Das Adelshaus war gütig und gerecht, welcher Laus konnte sich in Hektors Kopf nur festgesetzt und in ihm solche Gedanken verursacht haben? Bestürzt sahen die Anwesenden zu Hektor und Zlatan auf, die durch Zlatans dargestellter Brutalität immens eingeschüchtert waren.

Niemand erwog Hektor Gegenkehr zu geben, zu groß war die Angst vor Zlatan, dem Friedensstörer.

Hektor vernahm von seiner Erhöhung ein zustimmendes Nicken seiner Verbündeten und führte fort. >Ich habe alles Mögliche versucht, um mit dem Adel zu sprechen und sie davon abzubringen, diesen Weg der Abhängigkeit einzuschlagen. Leider stieß ich bloß auf taube Ohren und vergiftete Herzen< Hektor senkte dramatisch seinen Kopf, er wirkte verzweifelt. >Mir ist Hochverrat vorgeworfen worden, wodurch zugleich ihr, da ihr nun meinen Worten lauscht, Hochverrat begeht<

Schlagartig ging ein Raunen durch das anwesende Volk. Die Skepsis gegenüber Hektor und seinem geplanten Aufstand gegen das gutartige Adelshaus wuchs in unvorstellbare Höhen. Abschreckende Geschichten von vergangenen Verbrechen gegenüber dem Adel und der folgenden Bestrafungen tauchten in den wenigen Köpfen auf. Keineswegs wollte irgendjemand gehängt oder noch schlimmer auf unvorstellbarste Weise verbrannt werden. Diese drohenden Szenarien machten ihnen Angst, sodass sie mit schnellstem Fuß die Versammlung hinter sich ließen und sich die kommenden Tage zur Sicherheit in den eigenen Wänden einsperrten.

Einige wenige Anhänger von Hektor blieben jedoch und verschworen sich mit dem Rebellionsanführer gegen den Adel. Großen Anteil daran hatte Zlatan, der mit seinen fokussierten Augen den Haufen musterte und folglich noch mehr Angst verbreitete als die Todesstrafe des Adels. Zlatan hatte ein hervorragendes Gedächtnis, das ihn dabei unterstützte, alte Feinde selbst nach langer Zeit wiederzuerkennen. Sobald er sich ein Gesicht eingeprägt hatte, war dieses seinen Ideen ausgeliefert, dessen waren sich die kümmerlichen Anwesenden bewusst.«

Lehrmeisterin Xuan unterbrach Flora. »Was hältst du davon, wenn Menschen psychisch unter Druck gesetzt werden und was macht dies folglich mit einem Individuum?«, fragte Xuan die Auszubildende Flora.

Überrascht über die Frage, kam Flora ins Stottern. »Ehm, ich, ich kann dies nicht nachvollziehen, bekanntermaßen hemmt solcher Druck den Menschen und blockiert sein natürliches Ich. Zlatan nutzte seine Kraft und Brutalität aus, um die anderen gefügig zu machen.«

»Kann dies auf Dauer gutgehen?«, fragte Lehrmeisterin Xuan abermals nach.

Betroffen und traurig sah Flora zu ihrer Lehrmeisterin auf. »Ich denke nicht. Wenn sich ein Mensch nicht entfalten kann, werden sich über kurz oder lang Defekte in der Psyche kenntlich machen.«

»Gut gemacht Flora, dein Wissen wird der Waldlande in ein paar Jahren enorm zunutze werden. Eines noch, was denkst du über Hektor?«

»Ich empfinde es als großen Fehler, was er macht, denn im Adelshaus saßen die für das Waldlande besten Köpfe und deren Entscheidungen mussten akzeptiert werden. Wie kommt ein einzelnes Individuum dazu, seine unbedachte Meinung über die Entscheidung von Experten zu stellen?« Flora war wieder gefasster geworden, unzählige Male hatte sie sich bereits mit dieser Rebellion mit Hilfe von Geschichtsbüchern beschäftigt.

»Denkst du, eine solche Rebellion wäre heute noch möglich? 300 Jahre später?«, fragte die Lehrmeisterin.

»Ich denke nicht. In meinem Freundeskreis und überdies zuhause hätte ich noch niemals Kritik über den Zirkel gehört.« Die gefestigte und sichere Art, mit der Flora dies aussprach, spiegelte allerdings keinesfalls ihre Haltung wider. Nervös blickte sie zu Adeva, mit der sie seit einem Jahr liiert war.

Lehrmeisterin Xuan war erfreut und lächelte ihr zu. »Gut. Anjo, bitte weiterlesen.«

Anjo, benannt nach einem Urahnen, freute sich, weiterlesen zu dürfen. Sein kurzes blondes Haar war stets perfekt zur Seite gekämmt, dies betonte insbesondere sein schmales Gesicht. Geboren wurde der sprachgewandte Jugendliche in Bronzestadt, wobei sein Vater ein aktives Mitglied des Zirkels war und somit seine Familie in reichen Gefilden verkehrte. An den muskulösen Oberarmen war rasch erkennbar, wie sportlich begabt er war, wobei er sich dennoch mehr für Politik interessierte. Gleich seinem Vater hegte er lediglich einen Traum - eines Tages ebenfalls Mitglied des Zirkels zu werden und die Geschicke über das Lande zu lenken.

»Der Rebellionsanführer und seine wenigen Gefährten zogen los, um den Adel zu stürzen. Gleichwohl überlebte dieser Wunsch nicht allzu lange, es führte kein Weg an den Wachen des Adelshauses vorbei. Von Beginn an war dieser Kampf zum Scheitern verurteilt gewesen, denn die karge Anzahl an Rebellen stellte niemals eine ernstzunehmende Gefahr für das Adelshaus dar. Den verschiedenen Geschichtsbüchern zufolge dauerte die Rebellion ganze vier Jahre, jedoch spielte sich diese hauptsächlich in den Köpfen weniger ab. Der Kampf und somit das Ende der Rebellion gegen das Adelshaus, war 1737 an nur einem Tag problemlos von den Wachen des Landes geschlagen worden.

Daraufhin setzte der Adel ein mächtiges Statement, um vor künftigen Schnellschussreaktionen und weiteren Rebellionen abzuraten. Sämtliche Familienmitglieder der Rebellen waren aufgesucht und wegen Hochverrat hingerichtet worden. Der Vollzug ging mit Hilfe einer großen Statue eines Adlers aus Bronze, die bis heute in Bronzestadt am Hauptplatz emporragt, vonstatten. Die Statue hat am Hinterteil eine winzige Öffnung, durch die schändliche Menschen in das Innere geschoben werden konnten. Bei schmalen Körpern ließ es sich einrichten, zwei Menschen gleichzeitig hinzurichten. Unter dem Adler befand sich eine Feuerstelle, die entfacht worden war, sobald die Angeklagten im Körper der Statue waren. Durch das einzigartige Luftsystem im Adler waren die Todesschreie derart verstärkt, wodurch diese laut Zeugenberichten im gesamten Lande zu hören waren.«

Lehrmeisterin Xuan musterte an dieser Stelle des Buches üblicherweise die Gesichter der Auszubildenden, um deren Gefühlsregung zu beobachten. Ein Teil war schockiert, ob dieser Brutalität der Hinrichtung. Andere waren fasziniert und wirkten erfreut, endlich die Wahrheit über den bronzenen Adler erfahren zu haben. Alle in der Gruppe sahen ihn bereits hautnah am Hauptplatz von Bronzestadt, nur kannte niemand dessen Historie und Bedeutung.

»Hektor, der Rebellionsanführer, musste zusehen, wie seine Frau und Kinder hingerichtet worden waren, ehe die Wachen des Landes ihn und seine Verbündeten in den verfluchten Hundert-Tode-Wald verbannten. Bis zum heutigen Tag war keiner der Rebellen je wieder gesichtet worden.«

»Danke Anjo, denkst du, diese Rebellion hatte einen Zusammenhang zur Rebellion 120 Jahre später?«, fragte Xuan ihren Auszubildenden.

»Ich denke nicht, da die Rebellionsanhänger und alle ihre Familienmitglieder hingerichtet oder vertrieben worden waren und somit die Glut gelöscht werden konnte. Dennoch bin ich der Meinung, wie übrigens ferner meine Eltern, dass damals die Saat des Hasses gesät worden war, die 120 Jahre später bei der zweiten und leider erfolgreichen Rebellion geerntet worden war. Lange Zeit mussten wir unter dieser Tragödie leiden, trotzdem bin ich der Überzeugung, dass unser Lande dank des Zirkels wieder auf dem rechten Weg ist.«

»Großartig Anjo, eine hochgradig reife Meinung, mit der du und deine vorbildhaften Eltern sicherlich nicht allein dastehen«, sagte Lehrmeisterin Xuan und zwinkerte ihrem Vorzeige-Auszubildenden zu. Der Rest der Gruppe wollte der Lehrmeisterin ebenfalls vermitteln, derselben Meinung zu sein, wodurch eine offene Befürwortungsrunde entstand, in dem die Arbeit des Zirkels honoriert wurde. Xuan ließ ihre Auszubildenden reden und war äußerst zufrieden, wie energisch sich die Diskussion entwickelte und wie rege sich alle beteiligten.

»Sie sollten alle bestraft werden, für das, was ihre Vorfahren während der Rebellion angestellt haben. In ihnen fließt dasselbe Blut und solange noch einige von denen draußen herumlaufen, können wir uns nicht sicher fühlen«, rief Milan hinaus. Alle applaudierten und nickten sich gegenseitig anerkennend zu. Die Lobhuldigungen des Zirkels und der Hass gegen die Rebellion dauerten bis zum fünfmaligen Glockengeläut an, ehe die jungen Auszubildenden sich auf den Weg in einen anderen Raum begaben und eine zufriedene Lehrmeisterin hinterließen. Sie war augenscheinlich stolz und begeistert von ihrer Gruppe.


Mit dem siebenmaligen Glockengeläut kehrten die Auszubildenden der neunten Stufe aus ihrer Essenspause zurück. Pünktlich fand sich desgleichen der Lehrmeister für Landkunde, Aviv, im Raum ein. Trotz seines hohen Alters von 63 Jahren behielt er mit seinen kurzen grauen Haaren und gestutztem Vollbart stets ein verführerisches Aussehen. Zudem trug er jederzeit unzählige Armbänder, die zum Teil seinen Unterarm bedeckten. Geboren war er in einem damals noch vereinten Adlerstal worden, vor der Teilung des Landes in zwei Regionen.

Seine Ausbildung als Lehrmeister schloss Aviv mit 30 Jahren ab, wodurch er mit den Jahren reichlich an Erfahrung sammeln konnte und bereits zahlreiche Zirkelmitglieder lehren durfte, wie beispielsweise Anjos Vater, Arvid. In Landkunde konnte Aviv niemand die Stirn bieten, er wanderte bereits durch das gesamte Waldlande und las sämtliche Bücher, die ihm in die Quere kamen. Tagtäglich jagte er neuen Entdeckungen und Erfahrungen nach, der Durst nach Neuem schien sich nie stillen zu lassen.

Als Aviv den Raum betrat, blickte er in erschöpfte Gesichter, dies war für ihn kurz nach der großen Essenspause keine Überraschung, sondern alltägliche Normalität. Aviv war bekannt, dass die Lehrvorträge beim siebenmaligen Glockengeläut regelmäßig eine Herausforderung waren und die Auszubildenden erst aus ihrer Müdigkeit befreit werden mussten. Ebenso wusste er, welch hoher Druck auf den Aufzuklärenden lastete. Die tagtägliche Menge an Neuigkeiten, die aufgenommen werden mussten, war nach Meinung von Aviv nicht endend wollend. Somit hatte er großes Verständnis für die Erschöpfung der Auszubildenden und versuchte in seinen Vorträgen stets mit einem sachten Tempo zu starten, ehe sich Besserung sichtbar machte.

»Liebe Auszubildende, ich hoffe, ihr habt gut gespeist und könnt nun einen Teil eurer kostbaren Energie für Landkunde aufwenden. Ist dies für den heutigen Tag euer letzter Vortrag und könnt ihr mit dem Klang von acht Glocken den Heimweg in die Unterkunft antreten?«, fragte Lehrmeister Aviv.

Rasch kamen ihm jede Menge erfreute Zustimmungen und Kopfnicken entgegen, wodurch Aviv erleichtert war, diese mitleiderregenden jungen Menschen nicht allzu gequält zu sehen. Aviv konnte sich nicht erinnern, damals eine ähnliche schonungslose Ausbildung zum Erwachsenen durchgemacht haben zu müssen.

»Heute widmen wir uns dem südlichsten Gebiet unserer Fünf Lande, dem Südlande. Dieses ist extremen Bedingungen ausgesetzt, über das gesamte Jahr herrschen durchwegs unmenschlich hohe Temperaturen. Diese sollen die Menschen angeblich von Zeit zu Zeit verrückt machen und im schlimmsten Falle zum Tode führen. Für uns völlig unvorstellbar, wie sich solch eine glühende Hitze anfühlen muss, sind die Menschen aus dem Südlande den Gegebenheiten Tag und Nacht ausgesetzt. Die Wenigen, die eine Reise aus den Waldlande in das Südlande wagten, kehrten entweder an der Grenze bereits um oder verloren ihr Leben, weil sie bei lebendigem Leibe verbrannten. Wie es dazu kommen kann, dass die Sonne in diesem Lande über das gesamte Jahr hinweg ununterbrochen stärker scheint als bei uns oder in Westlande, dieses Phänomen konnte bis zum heutigen Tage nicht geklärt werden.«

Für die Auszubildenden war spürbar, wie Lehrmeister Aviv jedes Mal in seinem Element war, sobald er mit seinem Lehrvortrag startete. Er lebte für seine Arbeit und damit seine Berufung, Jugendlichen die Fünf Lande anschaulich zu erklären und nahezubringen. Der größte Traum von Aviv war, die gesamten Fünf Lande zu bereisen, allerdings verhinderten immerwährend unterschiedliche Gründe und Vorfälle dieses imposante Unterfangen. Mittlerweile war er in einem hohen Alter angekommen, das seinen Traum nicht unbedingt erschwinglicher gestaltete.

»Ebenfalls ist uns überliefert worden, dass der nördliche Teil vom Südlande ungemein hügelig und gemäßigter zu beleben ist. Je weiter in den Süden vorgedrungen wird, desto heißer werden die Temperaturen und mehr Sand verteilt sich über den verbrannten Boden. Im Südosten soll sich eine unbewohnbare Wüsteninsel befinden, doch darüber sind leider nicht mehr Details bekannt, was ich zutiefst bedauere.«

Dem Lehrmeister Aviv war anzusehen, wie gerne er dieses Geheimnis für sich gelüftet hätte, trotzdem war es kaum möglich solcherlei Details zu erfahren, denn einen offiziellen Austausch mit dem Südlande gab es seit hunderten von Jahren nicht mehr. Daher war Aviv, wie ebenso die Auszubildenden, an Erzählungen und Überlieferungen von vor langer Zeit angewiesen. Welche Entwicklung das Südlande mittlerweile vollzogen hatte, ging somit spurlos an Aviv vorbei.

»Hat jemand von euch eine Ahnung, wie über das Südlande geherrscht wird?«, fragte Aviv in die Runde.

Niemand antwortete, womöglich waren alle überrascht, nach dem langen Vortrag eine Frage gestellt zu bekommen.

»Anhand der letzten Überlieferungen wird das Südlande von einem König regiert. Nach Berechnungen und losen, geheimen Kontaktversuchen müsste derzeit der 41. König des Landes an der Macht sein, welcher ein hohes Ansehen unter seinem Volk genießen soll, wie überraschenderweise alle vergangenen Könige aus diesem Lande. Mir wurde überliefert, dass die Menschen dort stets ihre Könige verehren und huldigen, egal welche Entscheidungen von diesen getroffen worden waren.«


Aviv führte fort. »Historisch sind weder Widerstände noch Aufstände gegen die Herrschaft der Könige bekannt, obwohl die Macht mancherlei Könige in einer unvorstellbaren Tyrannei ausartete. Aber davon habt ihr bestimmt bereits von Lehrmeisterin Xuan gehört.«

Anjo signalisierte eine Frage stellen zu wollen, dieses Thema schien ihn besonders zu interessieren. »Ist es nicht vernünftig, die Worte und Entscheidungen des Königs zu akzeptieren und als Gesetz zu betrachten?«, fragte Anjo überzeugt.

»Würdest du behaupten, es sei vernünftig und gut?«, antwortete Aviv mit einer Gegenfrage.

»Ja, natürlich. Wir haben gleichfalls unseren Zirkel gewählt und richten uns nach deren durchdachten Entscheidungen.«

»Genau das ist der Unterschied, die Mehrheit der Wählenden in Waldlande hat den Zirkel gewählt, das Volk im Südlande kann sich deren Herrscher allerdings nicht aussuchen. Der Titel des Königs wurde bislang stets vom Vater zum Sohn weitervererbt, seit knapp 1.600 Jahren.«

Durch diese Feststellung fühlte sich Milo bemüßigt, seine Gedanken mit den anderen zu teilen. Er streckte seine Hand über seinen Kopf, welchen kurze braune Haare zierten, die stets zerzaust in die Luft ragten. Wie die meisten Menschen in Waldlande, war er mit leuchtend grünen Augen versehen. Eine allzu große Laufbahn nach der Ausbildung erwartete er von sich selbst nicht, zu durchschnittlich waren seine Fähigkeiten und folgend gedämpft die Erwartungen. Die Fußstapfen seines Vaters, der als bekannter Architekt hohen Status im Lande genoss, waren für Milo nicht in Reichweite.

»Das Adelshaus war damals auch nicht gewählt worden und die Menschen waren zufrieden«, sagte ein überzeugter Milo.

Erstaunt blickte Lehrmeister Aviv auf und wendete sich an den Auszubildenden. »Waren tatsächlich alle damit zufrieden? Wieso kam es dann zweimal zu einer Rebellion?«, fragte er eifrig nach.

Diese Fragen veranlasste Anjo, sich abermals einzubinden. »Es wird immer Querdenker geben, die ein Problem mit deren eigenem Versagen und jämmerlichen Leben haben. Nur weil sie sich selbst nicht ertragen können, wollen sie ferner andere dafür leiden sehen.«

Dies kostete Lehrmeister Aviv ein Grinsen. »Dieser Ansicht sind unzählige Menschen in diesem Lande, besonders in Eden. Es ist aber essenziell, ebenso andere Ansichten und Meinungen wahrzunehmen und zu akzeptieren, sonst entsteht Unmut und in weiterer Folge eine Rebellion.« Aviv beobachtete, welch Wut seine Worte in Anjo auslösten.

»Sind sie auf der Seite der Rebellen?«, fragte Anjo ungehalten mit bissigem Ton. Der Rest der Gruppe schien schockiert über diese Frage und wartete gespannt auf die Reaktion des Lehrmeisters.

Dieser blieb jedoch ruhig und sachlich, wie eh und je. »Anjo, ich muss euch beibringen, über das Augenscheinliche hinauszublicken. Nur weil eure Freunde und eure Familie glücklich sind, bedeutet es noch lange nicht, alle Menschen in Waldlande würden desgleichen empfinden. Wenn wir anderen Meinungen aufdrängen und sie zu gewissem zwingen, nehmen wir ihnen deren zustehende Freiheit. Wir rauben sie ihnen, indessen ist die Freiheit unser allerhöchstes Gut. Es muss möglich sein, dass jeder seine Meinung frei kundtut. Woran denkt ihr liegt es, dass die Könige im Süden auf derartige Weise verehrt werden?«

Totenstille breitete sich im Raum aus, während die Luft mit jedem Augenblick dünner wurde. Da niemand antwortete, führte Lehrmeister Aviv fort. »

Könnte es nicht daran liegen, dass die Menschen im Südlande gezwungen und mundtot gemacht wurden? Deren Freiheit ist nicht ansatzweise mit unserer Freiheit zu vergleichen und trotzdem sind sie vermutlich glücklich, da sie es nicht besser wissen.«

Die Auszubildenden wussten nicht, was sie darauf erwidern sollten und was der Lehrmeister versuchte, ihnen weiszumachen. »War er ein Anhänger der Rebellion und sollte dem Zirkel gemeldet werden«, fragte sich Milo insgeheim. Misstrauisch blickten sich die Anwesenden in die Augen und vermuteten denselben Gedanken zu haben.

Das Schweigen war allerdings erst durch Haru beendet worden. »Aber die Leute aus Hel können doch in Freiheit leben, ihr Gebiet ist sogar größer als unseres. Sie haben somit mehr als ihnen zustehen sollte, dafür könnten sie sodann einfach dankbar sein.«

»Tatsächlich hat Hel eine größere Fläche als Eden, aber gibt es nicht dafür einen Grund, warum sie in einem größeren Gebiet leben? Warst du schon einmal in der Region Hel?«, fragte Aviv nach.

Haru schüttelte den Kopf.

»War überhaupt einer von euch schon mal dort? Ich gehe nicht davon aus, da es seit eurer Geburt verboten ist. Die Landschaft in Hel ist noch wie seit Anbeginn der Zeit, Wälder wohin das Auge reicht und darum trägt unser Lande diesen Namen, Waldlande. Obgleich die Wälder bedauerlicherweise immer weniger werden, wurde befohlen diese roden zu lassen und damit den Reichtum in Eden auszubauen und fortwährend zu garantieren.«

Lehrmeister Aviv bemerkte seine innere Wut und wie er sich durch sein Reden in eine verzwickte und gefährliche Lage versetzte, doch konnte er sich nicht zügeln.

»Wie euch auffällt, gibt es in Eden kaum noch Wälder, da sie längst beseitigt worden sind, um immer mehr und modernere Gebäude zu schaffen. Dabei wurde übersehen, gleichzeitig neue Bäume zu pflanzen und somit die Wälder am Leben zu halten. Denn Bäume und Pflanzen, die uns von der atemberaubenden Natur geschenkt wurden, sind lebensnotwendig für uns Menschen.« Kurz musste der Lehrmeister verschnaufen. »Oder seid ihr anderer Meinung?«, fragte Aviv interessiert nach.

Keinerlei Regung in der Gruppe, woraufhin der Lehrmeister sichtlich enttäuscht war, denn derartiges hätte den Auszubildenden mittlerweile in Naturlehre beigebracht werden sollen. Als Aviv einst neben Landkunde zusätzlich Vorträge über Naturlehre hielt, war dies zumindest noch in den Büchern enthalten. Allerdings würde es ihn nicht überraschen, wenn dies den jährlichen Änderungswünschen des Zirkels ebenfalls zum Opfer gefallen war.

Lehrmeister Aviv redete sich ein Stück weit in Rage und ertappte sich selbst dabei. Daher war er erfreut über das achtmalige Glockengeläut, wodurch er den Raum schleunigst verlassen konnte, ehe er mehr Schaden anrichtete. Die Auszubildenden unterhielten sich jedoch anschließend über das gerade Geschehene. Sie flüsterten sich zu, damit niemand Falsches davon Wind bekam.

»Der alte Aviv wird immer schräger im Kopf. Natürlich ist es seine Aufgabe uns aufzuklären, doch wirkt er offen und freundlich Hel gegenüber«, merkte Anjo an.

»Den brauchen wir nicht ernst nehmen, ich habe von meinen Eltern gehört, dass der Alte seit langer Zeit an Verwirrtheit erkrankt sein soll«, sagte Vesna, die Partnerin von Anjo. »Und wenn ich ihn derart reden höre, muss es definitiv die Wahrheit sein.« Gelächter brach aus, als Vesna ihren Satz zu Ende brachte.

Ein anstrengender Lehrtag ging für die Auszubildenden zu Ende, es war keineswegs einfach, derart massenhaft Informationen aufzunehmen, doch war deren Lehranstalt auch als die beste des Landes bekannt. Somit war es kein Wunder, welch Herausforderung auf die jungen Menschen wartete, denn ein Abschluss konnte ein künftig sorgenfreies Leben garantieren. Die meisten ehemaligen und aktuellen Zirkelmitglieder besuchten einst diese Lehranstalt, wodurch sämtliche Familien in Eden ihr gesamtes Hab und Gut zusammenscheffelten, um ihren Nachwuchs ebenfalls hier ausbilden zu lassen, damit diese eines Tages ähnlich gute Menschen wie sie werden würden.

Die Schlacht der Fünf Lande

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