Читать книгу Selamlik - Khaled Alesmael - Страница 10
IN RAUM 333, TEIL 1
ОглавлениеIch stellte die Tasche auf den Boden. Sein Bett war nicht gemacht; das Matepulver im Glas war getrocknet und ein markanter Geruch entströmte der Teekanne. Auf der Kommode lagen Medikamentenschachteln und der Sessel war übersät mit Papieren. Ich wischte den Tisch ab und räumte die Medikamente und CDs zur Seite. Dann nahm ich meine Sachen aus der Tasche, eine lange und zwei kurze Hosen, mein blaues Hemd und ein paar Unterhosen. Ich hängte alles in den Schrank neben meinem Bett. Die zwei Bücher, die ich gekauft hatte, einen englischen Roman und einen Band Theaterstücke, stellte ich auf den Tisch neben seine dermatologischen Fachbücher. Er hatte einen CD-Player und eine CD von Mustafa Yuzbaschi. Ich hatte noch nie von dem Sänger gehört, also nahm ich die CD und las die Titel der Songs: Ich sehne mich nach deinen dunklen Augen, Weshalb hat dein Herz mich verlassen? und Erlöse mich, eins von Alis Lieblingsliedern, wie ich später erfahren sollte. Ich wollte die CD gerade abspielen, als mich der Gedanke durchfuhr: «Heute ist al-Assads Trauertag, es ist verboten, Musik zu hören oder Filme zu schauen.» Ich hielt die CD in der Hand, fragte mich, was für eine Art von Musik sie wohl enthielt und stellte mir vor, wie Ali sie sich anhörte.
Es mag zwei Uhr morgens gewesen sein; ich saß auf dem Sessel und hatte die Fenster weit geöffnet. Eine ungewöhnliche Stille erfüllte die Nacht, aber aus irgendeinem Grund spürte ich, dass sich am Morgen alles ändern würde. Eine Zeit der Ungewissheit würde anbrechen, in der Hafiz’ allgegenwärtiges Gesicht nicht mehr an den Wänden der Unterrichtsräume von Schulen, Colleges und Universitäten überall im Land hängen würde. Doch wie würde es weitergehen, jetzt, wo er fort war? Der Staat war es schon so lange gewohnt, unter seiner Knute zu stehen, dass man sich nichts anderes mehr vorstellen konnte. Ich zog mich aus und legte mich auf Alis Bett, stellte mir vor, wie er meine Hand hielt. Ich rief die Erinnerung wach, wie er mich berührt hatte und ein Stromschlag von Kopf bis Fuß durch mich hindurchgefahren war. Schließlich gewann die Müdigkeit die Oberhand und ich fiel in tiefen Schlaf.
Fahrgeräusche weckten mich. Das Sonnenlicht füllte bereits den Raum. Ich drehte mich um, um nach der Uhr zu greifen. Mein Rücken war nass vom Schweiß, meine Brust, die Arme und das Laken waren so nass, als ob ich die ganze Nacht Sex gehabt hätte. Ich zog die Shorts an und öffnete die Tür. Einige Studenten, die die Nacht hier verbracht hatten, gingen mit ihren Taschen schnell den Flur entlang. Auf dem Weg zum Waschraum ging ich an ihnen vorbei. Der Waschraum war leer, aber ich hörte die Stimmen der Studenten, die draußen für den Bus Schlange standen. «Woher stammst du?» Ich drehte mich um. Ein mittelalter Typ, klein und stämmig, war aus dem Nichts aufgetaucht. Er betrachtete mich verstohlen aus einer Ecke des Waschraums. An seinem verwuschelten Haar sah man, dass er gerade erst aufgewacht war. Seine Brille rutschte ihm fast von der großen Nase. «Ich komme aus Deir ez-Zor», erwiderte ich. Er stellte sich als Doktor Omar vor. «Sieht so aus, als gingen die meisten der alawitischen Studenten zurück in ihre Dörfer in den Bergen.» Er grinste. «Sie sind traurig, dass ihr unsterblicher Held gestorben ist, und haben Angst vor dem, was jetzt passieren könnte. Es ist sicherer, die Stadt erst einmal zu verlassen, meinst du nicht auch?» Wegen seines starken Akzents nahm ich an, dass er aus der Provinz Idlib stammte. Was er sagte, klang verdächtig nach Muhabarat, deshalb schlich ich mich davon, ohne zu antworten.
Ich zog mich in mein Zimmer zurück. Die zufällige Begegnung mit einem Fremden machte mir klar, dass sich Gefahr und Anspannung im gesamten Gebäude ausbreiteten.
Meine Tasche stand noch mitten im Raum und starrte mich an. Ich spürte das Bedürfnis, sofort abzureisen. Mich erotischen Fantasien über einen Mann wie Ali hinzugeben war äußerst gefährlich. Er kam aus einer berühmten Alawitenfamilie und könnte mich und meine Familie in den Fokus der Geheimpolizei bringen. Ich ging hastig die Treppen hinunter und hinüber zur Telefonzelle am Eingang, in der linken Hand fest umklammert mein Buch. Die Sonnenstrahlen trafen erbarmungslos jeden, der sich ihnen aussetzte, mein Kopf begann wieder zu schwitzen. Ich hob das Buch, um mich vor ihnen zu schützen. In der Telefonzelle stand ein riesiger bärtiger Mann und rief: «Der Löwe ist tot, hast du verstanden, du Hurensohn? Bist du jetzt glücklich? Wir werden dich schon kriegen!» Er warf den Hörer auf die Gabel, knallte die Tür zu und stieg schnell in den Bus.
«Schön, dich zu sehen!» Ali lächelte breit. Die Sonne brannte, ich konnte kaum die Augen öffnen. Er hatte sich zwei Tage lang nicht rasiert und sah noch männlicher aus. «Lass uns wieder reingehen, hier ist es zu heiß», flüsterte er. Er trug ein hellgraues Shirt und eine dunkelgraue Hose. Ich hatte Angst davor, mich der Gefahr auszusetzen, die er jetzt darstellte, aber das Verlangen nach ihm war stärker.
Unser Raum war wirklich sehr klein, ohne Badezimmer und mit nur einem Sessel unter dem offenen Fenster, durch das warme Luft hereinkam. Ali zog die Jalousie hinunter. «Bei dieser Hitze machen wir sie lieber zu, okay?» Bei den Worten fing er an, sein Hemd aufzuknöpfen. Die letzten beiden Tage waren für mich eine Achterbahn der Gefühle gewesen; die Vorstellung, mit ihm allein zu sein, hatte mich erregt, aber jetzt schämte ich mich, weil er merken könnte, dass ich in seinem Bett geschlafen hatte. Er zog das Hemd aus; sein muskulöser Körper und die braune Haut waren eine enorme Versuchung. «Du bist solch ein schöner Junge», sagte er und ging zum Schrank, um sein Hemd aufzuhängen. Ich blickte starr auf meine Reisetasche; mein Verlangen zu bleiben war stärker als der Wunsch, aus Furcht wegzulaufen. Ich hatte das Buch in der Hand zusammengerollt; meine verkrampften Finger pulsierten in elektrischen Zuckungen, aus Furcht, mich meinem sexuellen Verlangen hinzugeben. Bevor ich etwas sagen konnte, nahm Ali meine Hand und zog mich zum Bett. Instinktiv wich ich zurück, aber er hielt meine Handgelenke fest im Griff; seine warmen Lippen küssten meinen Nacken. Seine behaarte Brust rieb sich an meinem Rücken, und mit der linken Hand streichelte er mir den Kopf. Als sein Atem heftiger wurde, schloss ich fest die Augen. Er zog mich an den Haaren und fuhr mit dem Bart über meine Lippen, wie ein Tier, das seine Beute begutachtet, bevor es sie verschlingt. Mein Körper zitterte bei dem Gedanken, dass das, was wir taten, äußerst gefährlich war. Er führte meine Hand an seine Leiste und gab mir mit dem Kopf das Zeichen, ihm den Reißverschluss zu öffnen. Meine Hand war erstarrt und mein Verstand kurz davor zu implodieren; alles sträubte sich dagegen, die Grenze zum unbekannten Territorium der Lust zu überschreiten. Ich legte die Hand auf seine Hüfte. Er schob mich zum Bett und flüsterte: «Hab keine Angst.» Dann öffnete er selbst den Reißverschluss. «Nur zu, fass ihn an.»
Unsere nackten Körper lagen auf dem Bett, bedeckt mit Samen und Schweiß. Meine Schulter berührte Alis Rücken, braun und glatt. Er schlief, doch sein ruhiger Atem konnte meinen Verstand nicht davon abbringen zu denken, dass das, was wir gerade getan hatten, haram * war. Der Roman lag auf dem Boden, er war aus dem Bett gefallen, als Ali mir die Shorts ausgezogen hatte. Ich fragte mich, ob Gott nach dem, was ich getan hatte, meine Literaturprüfung segnen würde. Plötzlich nahm Ali meine Hand und legte sie auf seine Brust. «Ich habe immer davon geträumt, einen Zimmergenossen wie dich zu haben.»
«Meinst du, sie würden uns einsperren?», fragte ich. Er stand auf und ging zum Tisch, nahm die Teekanne und schüttelte sie. «Zieh dich an und hol Wasser, damit ich Mate kochen kann.» Ich drehte mich im Bett nach ihm um. «Ich meine das ernst, meinst du, sie würden uns einsperren?» Er stellte die Teekanne wieder auf den Tisch. «Wenn du die Geheimpolizei meinst, die sind so dumm, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, zwei Männer könnten Sex haben. Sie verfolgen heterosexuelle Männer, die Frauen belästigen.» Er lachte und fuhr fort: «Wusstest du das? Ich habe gehört, dass Studenten sich Burkas angezogen haben, um sich in den Mädchenflügel zu schleichen und dort Sex zu haben.»
Ich fragte ihn nach Gott. Er meinte: «Welcher Gott würde dich bestrafen, weil du Liebe gefunden hast?» Ich nahm die Teekanne und ging in die Küche.
Am Nachmittag schoben wir die beiden Einzelbetten zusammen. Ali merkte, wie ich ihn beobachtete, als er die Matratze und die Kopfkissen bezog. Ich spürte, dass er der Mann war, den ich wollte. Das Zimmer fühlte sich plötzlich wie ein Zuhause an, obwohl kaum Möbel darin standen. All meine Ängste waren verflogen, doch ich bat ihn, keine Musik zu spielen und die Staatstrauer zu respektieren. «Ich hoffe, du sagst das nicht, weil du weißt, dass ich zur selben Konfession gehöre wie die Familie al-Assad. Aber ich werde mein Lieblingslied spielen.» Er drehte die Lautstärke des CD-Players so weit hinunter, dass wir fast nichts mehr hören konnten. Wir lachten beide über die absurde Situation, hielten uns aber die Hand vor den Mund, damit uns niemand hörte. Ich holte meine Kopfhörer und wir setzten uns nebeneinander auf das schmale Bett, um Erlöse mich zu hören. Ali summte mit und küsste mich sanft auf die Stirn.