Читать книгу Selamlik - Khaled Alesmael - Страница 8
ZWISCHEN RAUM 334 UND 333
ОглавлениеDer Tag zuvor, 9. Juni 2000, um drei Uhr nachmittags. Ich war in meinem Zimmer im Flügel der männlichen Medizinstudenten. Das Wohnheim war genau so, wie ich mir ein Selamlik immer vorgestellt hatte, ein Ort, an dem die Männer sich frei fühlen konnten, mit bloßem Oberkörper, nur in Unterwäsche oder mit einem Handtuch um die Hüften herumliefen und über ihre sexuellen Sehnsüchte und sogar die Größe ihrer Schwänze redeten.
Das Studentenwohnheim war neu, denn wir waren die ersten Studenten in diesem Jahr. Es lag in Furqan, einem der schicksten Stadtviertel im Westen Aleppos, wo die reichen Händler mit ihren Familien lebten. Eigentlich wollte ich nicht zur Universität von Aleppo, aber ich musste das erste Jahr dort studieren, bevor ich nach Damaskus ging.
Ich fühlte mich träge, verschwitzt und geil, wie ich so auf dem Bett lag. Für den Kurs über englische Literatur mussten wir Engel und Narren lesen, einen Roman des britischen Schriftstellers E. M. Forster, der die Geschichte einer englischen Dame erzählt, die sich auf einer Reise durch die Toskana in einen Italiener verliebt, der viel jünger ist als sie. Ich hatte mehrere Anläufe unternommen, das Buch zu lesen, doch es begann mich zu langweilen. Ich benutzte es nur noch als Fächer, um mir frische Luft zuzufächeln. Die Luft in dem winzigen Raum war bereits stickig, also öffnete ich das Fenster. Da hörte ich, wie die Tür zum Nachbarzimmer aufgeschlossen wurde, und unerwartet drang derselbe frische und scharfe Duft in meine Nase, den ich schon einmal gerochen hatte, als ich im Flur beinah mit meinem Zimmernachbarn zusammengestoßen war.
Ich hatte ihn schon oft gesehen und spürte, dass er einen besonderen Platz in meinem Leben einnehmen würde. Wie ich herausgefunden hatte, studierte er Dermatologie; seine Zimmernummer war 333.
Ich zog schnell die Shorts zurecht, schnappte mir das Buch und ging in den Flur; einige Studenten liefen lachend ohne Hemd herum, mit einem Handtuch über der Schulter unterwegs zu den Duschen, denn die Zimmer hatten keine Badezimmer. Auf die weiße Tür nebenan war die Nummer 333 gemalt. Ich hörte, wie meine Faust nervös gegen das Holz klopfte. In meinem Kopf überschlugen sich die Vorstellungen, wie er auf mein Eindringen reagieren würde; ich versuchte, mir die Worte zurechtzulegen, die ich sagen würde … die Tür öffnete sich.
Ich errötete bei seinem Anblick. Über den breiten Schultern das bärtige, dunkle Gesicht mit großen dunklen Augen unter buschigen Brauen – so anders als die anderen Medizinstudenten. Er knöpfte sein weißes Polohemd zu und sah mich erstaunt an. Mit einem schnellen Blick sah ich, dass er ein Handtuch und Seife in der Hand hielt. Ich stöhnte «Mir wird schlecht» und sank zu Boden.
Er beugte sich über mich, um mir aufzuhelfen. Ich klammerte mich an ihn, den Kopf auf seiner Schulter, und roch seinen verschwitzten Körper. Unwillkürlich reckte ich mich empor, bis meine Nase sein Ohr berührte. Seine Hände hielten meinen Oberkörper, und unsere Augen trafen sich. Ich war verlegen. Seit ich ihn das erste Mal in der Eingangshalle der Universität gesehen hatte, träumte ich von ihm. Ich spürte seine große Hand auf meiner Stirn. «Komm rein; hast du Fieber?» Er setzte mich auf sein Bett. Mein Herz schlug immer schneller. Ich klammerte mich mit einer Mischung aus Verlangen und Furcht an mein Buch. Er legte Handtuch und Seife auf den Tisch und ging hinaus, ließ mich allein zurück. Ich ertrank in meiner Sehnsucht, ihn zu küssen.
Im Zimmer standen zwei Einzelbetten, von denen nur das eine gemacht war. Auf dem anderen lag die nackte Matratze. In der Ecke stand ein kleiner, halb voller Koffer. Ich öffnete ihn und schaute vorsichtig hinein; seine Unterwäsche und Kleidung waren sorgfältig gepackt. Es war Donnerstag, der Tag, an dem die meisten Studenten zum Wochenende in die Heimat zu ihren Familien fuhren, und er war im Begriff aufzubrechen. Plötzlich wurde ich mir meines kindischen Verhaltens bewusst und ich schämte mich.
Er kam mit einem Glas Wasser zurück. Als er es mir gab, entschuldigte ich mich. Ich berührte seine Hand, die noch feucht war. Er drückte mich sanft zurück auf das Bett und forderte mich auf zu trinken. «Ich weiß nicht, was dieser Schmerz zu bedeuten hat. Mein Herz schlägt viel zu schnell und meine Brust krampft sich zusammen.» Er öffnete den Schrank und nahm die Arzttasche heraus. Er nahm das Stethoskop und versuchte mich zu beruhigen. «Leg das Buch zur Seite und zieh das Hemd aus, junger Mann.» Er klemmte sich mein Hemd unter den Arm. «Wie alt bist du?»
Dann kam er näher und drückte mir das kalte Metall auf die heiße Brust. Ich sah ihm zu, wie er das Blutdruckmessgerät an meinem Oberarm befestigte. Ich betete, das Gerät möge etwas finden, um meine Lügen zu rechtfertigen. Er lächelte und legte die Instrumente auf den Tisch. «Alles prima, kein Grund zur Sorge.» Er setzte sich zu mir aufs Bett und ließ die dicht behaarten Beine langsam hin und her pendeln. Jedes Mal, wenn sie mein Bein berührten, spürte ich einen Stromschlag. Ein paar Sekunden lang dachte ich, er würde mich küssen. Er nahm mein Buch und betrachtete den Umschlag. «Was für ein eigenartiger Titel.» Er schlug es irgendwo auf und las: «Tu nicht so geheimnisvoll, so viel Zeit haben wir nicht.» Er wandte sich zu mir und fragte erstaunt: «Liest du das selbst oder ist es für das Studium?» Dann ließ er die Beine wieder pendeln.
Meine Angst ließ nach und ich gestand, dass ich im ersten Jahr Englische Literatur studierte. Gegenstand dieses Semesters war die Erzählprosa. «Und wie ist das, einen Roman zu studieren?», fragte er und sah mich mit seinen braunen Augen neugierig an. «Inspirierend», sagte ich. «Es ist sehr inspirierend, von den Figuren in diesen Geschichten zu lernen, wie man sein eigenes Leben lebt.»
Er war überrascht, dass ich in dem Flügel des Wohnheims wohnte, der Medizinstudenten vorbehalten ist. Ich sagte ihm, dass mein Onkel in den Siebzigern Bürgermeister von Aleppo war und noch immer großen Einfluss hatte. Er hatte mir dieses Zimmer besorgt, damit ich mich ungestört auf die Prüfungen vorbereiten konnte. Ich schwieg und sah ihn an, mein Gesicht glühte noch immer. Er sagte: «Ich bin Ali aus Tartus.»
Nach seinem Familiennamen zu urteilen gehörte er vielleicht zu einem mächtigen Alawiten-Clan; später erzählte er mir, sein Vater habe eine hohe Stellung in der Regierung. Kinder aus solchen Familien wuchsen ohne Einschränkungen auf, sie konnten zelten, auf Partys gehen und sogar verreisen. Die Mädchen kommandierten beim Friseur die Angestellten herum und drohten, sie dem Besitzer zu melden, wenn sie ihnen die Fingernägel nicht makellos polierten. Die flegelhaften Jungs lernten früh vom Egoismus ihrer Väter und behandelten die Lehrer mit geradezu unglaublicher Arroganz. Auf dem Spielplatz verschütteten sie Saft und ließen Muffins zu Boden fallen, ohne den Dreck selbst wegzumachen. In der Mittelstufe hatte ich einen frechen Mitschüler, dessen Vater Kommandant der Militärpolizei in der Bergregion war, aus der auch Ali stammte. Überall im Land versuchte jeder, von seiner beruflichen Position zu profitieren, genau wie mein Onkel, der mich im besten Teil des Studentenwohnheims unterbrachte.
Ali unterbrach meine Gedanken und bot mir ein heißes Getränk an, Mate. Ich nickte, weil ich ihm mit allen Mitteln gefallen wollte, bedauerte es aber sofort. Der erdige Geruch stieg mir in die Nase, doch er konnte die Erinnerung an meinen Widerwillen gegen den bitteren Nachgeschmack nicht verdrängen, den ich das einzige Mal, das ich Mate getrunken hatte, empfunden hatte. «Ich glaube, es geht mir besser», sagte ich und rieb mir den Bauch. «Du wolltest gerade verreisen, stimmt’s? Ich will nicht, dass du zu spät zum Zug kommst.» Ich nahm mein Hemd vom Bett und spürte seine Hand auf meiner Schulter. «Ich mag dich und möchte dich als Zimmergenossen», sagte er und kam näher heran. «Sonst quartieren sie hier noch irgend so ein Arschloch ein.» Er zeigte auf das freie Bett. «Das ist für dich, aber beeil dich, es bleibt nicht ewig frei.» Bevor ich antworten konnte, nahm er die Schlüssel aus der Tasche. «Sprich mit dem Hausmeister und bring deine Sachen herüber; ich möchte, dass du hier bist, wenn ich morgen Abend zurückkomme», sagte er und nahm meine Hand in seine, die noch immer feucht war. «Und jetzt geh ich duschen.»