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KAPITEL 2 DER FRIEDHOF VON ÅSEDA

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«Die Stadt heißt Åseda», sagte die Beamtin der Migrationsbehörde; wir waren zwei Stunden von Malmö hierhergefahren. Sie forderte mich auf, den Bus zu verlassen, und sprach dann mit dem Fahrer. Ich stand vor einem dreistöckigen Gebäude mit mehreren Balkonen, das hellgrün gestrichen war. Davor lagen hunderte von Zigarettenkippen auf dem Boden. Auf jedem Balkon sah man die dunklen Gesichter neugieriger Kinder, die durch die Stäbe des Geländers schauten. Die Männer und Frauen auf der Veranda starrten mich an. Ich blickte ihnen in die Gesichter und erkannte Menschen aus verschiedenen Ländern, von denen jeder eine Geschichte zu erzählen hatte. Im zweiten Stock sah ich einen einzelnen Mann und spürte, dass er Syrer war.

Die Beamtin gab mir einen Plastiksack, so strahlend blau wie der Himmel an diesem Tag. Aus dem Bus holte sie einen Karton, einen gewöhnlichen Pappkarton ohne besondere Merkmale. Das blasse Braun erinnerte mich an die karge Landschaft der endlosen Wüste wischen Deir ez-Zor und Damaskus. Ich nahm den Karton; er war nicht so schwer, wie ich vermutet hatte. Sie bat mich, ihr zu folgen, und als wir die Treppen emporstiegen, sah ich, dass sie einen Schlüsselbund in der Hand hatte. Wir betraten das Gebäude. Ein starker Duft nach Curry und Öl wehte durchs Treppenhaus, außerdem der vertraute Geruch eines arabischen Gerichts namens Muluchiya *. Die Mischung dieser starken Gerüche war abstoßend; um meine Verwirrung zu überwinden, drückte ich den Karton und den blauen Sack fest an die Brust und ging die Treppen hinauf.

Wir gingen in den zweiten Stock; die Beamtin schaute sich um, um sicherzugehen, dass dies die Wohnung war, die sie gesucht hatte. Ich stand ein kleines Stück hinter ihr und blickte auf ihren Rücken, mein Kopf war vollkommen leer. Sie klopfte mehrmals an die Tür und wartete. Von drinnen war nichts zu hören. Wir standen schweigend, während sie den richtigen Schlüssel suchte. Ich betrachtete die ungewohnte Umgebung und sah auf der Wand den schlecht gezeichneten Umriss einer Katze, die eine Ratte fing. Wahrscheinlich eine Warnung an die Bewohner, keinen Abfall im Treppenhaus liegen zu lassen. Nach mehreren Versuchen gelang es ihr, die Tür aufzuschließen, und wir gingen in die Wohnung. Der Flur war zugestellt mit Kartons und kaputten Möbeln. Ich sah in einer Ecke ein schmutziges Sofa und anderen aufgestapelten Müll. Die Beamtin der Migrationsbehörde war nicht überrascht von diesem Anblick. Sie führte mich in den Raum, in dem ich schlafen sollte, stieß die Tür mit dem Fuß auf und trat zur Seite, um mich eintreten zu lassen, während sie auf ihr Handy schaute. Wiederwillig betrat ich den Raum mit dem Karton und dem Plastiksack. Ich kam mir vor wie ein Gefangener.

Mit Ausnahme von zwei Bettgestellen ohne Matratzen war der Raum schmucklos und leer. Ein Bett stand unter einem großen Fenster mit einem quadratischen Stück schwarzer Baumwolle anstelle des Vorhangs.

«Dies ist Ihr Zimmer», sagte die Beamtin. «Hier bleiben Sie, bis Sie erfahren, was wir entschieden haben. In den nächsten Tagen wird jemand den Raum mit Ihnen teilen.»

Ich bat um einen Schlüssel für das Zimmer. «Asylsuchende haben nicht das Recht, ihre Türen abzuschließen», erwiderte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, und gab mir eine Mappe voller Papiere. Auf dem Deckel standen auf Arabisch die Worte «Willkommen in Schweden».

«Sie haben Glück, dass Sie im Sommer in Schweden eingetroffen sind», sagte die Beamtin und ging.

Ich starrte auf die Wände, die gelb von Nikotin waren, und eine Welle von Gefühlen schlug über mir zusammen. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis ich schließlich den Plastiksack öffnete, den ich bekommen hatte. Darin befanden sich eine Matratze, ein blaues Handtuch und Bettwäsche. Dann öffnete ich den Pappkarton und fand einen Kochtopf, einen weißen Plastikteller, einen Becher, eine Gabel, einen Löffel und ein gezacktes Küchenmesser. Instinktiv entschied ich mich für das Bett unter dem Fenster und schob den Karton mit dem Fuß unter das Bett. Ich rollte die Matratze aus und legte Kissen und Decke auf das Bett. Das Tuch vorm Fenster hing schief; es war nur teilweise an der Schiene befestigt und kaum länger als das Fenster selbst. Als ich es zurechtzog, stieg eine Staubwolke auf; ich musste husten und öffnete das Fenster, um frische Luft zu schnappen. Erstaunt blickte ich direkt auf einen Friedhof. In dem Moment wurde mir klar, welchen Titel die Geschichte über meinen Aufenthalt in diesem Raum tragen würde.

Beim Blick auf die Gräber ließ ich mutlos die Schultern sinken; schon wieder war der Tod mein Nachbar. Wusste die Frau von der Migrationsbehörde nicht, woher ich kam? Natürlich nicht. Wie sollte sie wissen, dass mein Weg nach Schweden mit Leichen gepflastert war? Ich war über Tote hinweggestiegen, hatte mich unter Leichen versteckt und neben ihnen geschlafen, das noch frische Blut gerochen, das aus ihren Mündern lief. Nein, die Beamtin wusste nichts über meine Begegnungen mit dem Tod, über mein Leben, bevor wir uns in der Migrationsbehörde getroffen hatten. Sie konnte nicht wissen, dass ich als Kind meinen Vater im Sarg gesehen hatte und dass ich meine Mutter behelfsmäßig in einem Park beerdigen musste. Auch meine Freunde hatte ich auf einem provisorischen Friedhof zurückgelassen. Mein Geist ist ein Friedhof voller Erinnerungen an die Toten, ihre Geister verfolgen mich, wohin ich auch gehe.

Ich schloss das Fenster, zog das Tuch davor und setzte mich in frischer Trauer auf mein Bett. Auf der Suche nach ein wenig Hoffnung strich ich mit der Hand über die Zimmerwand, dann rollte ich mich auf der neuen Matratze zusammen, um die Gedanken in meinem Kopf zu beruhigen. Immer wiederkehrende Albträume verwirrten mich, machten mich müde und hungrig. An der Zimmerdecke sah ich eine feuchte braune Stelle, sie sah aus wie eine Landkarte von Syrien. Ich starrte sie an, ohne zu merken, wie die Zeit verging. Schließlich vertrieb ich diese Halluzination.

In den nächsten Wochen verlor die Zeit ihre Bedeutung, Stunde um Stunde verging, in denen ich nutzlos herumsaß. Eines Morgens erwachte ich mit Magenschmerzen. Ich stand auf, trank etwas Wasser und verließ die Unterkunft für einen Spaziergang – nicht zum Vergnügen, sondern um die unendliche Langeweile zu bekämpfen. Nur wenn ich abends erschöpft war, konnte ich schlafen.

Ich schlenderte zum Friedhof auf der rechten Straßenseite. Gegenüber stand eine Ansammlung einstöckiger Häuser, die ich für ein Altenheim hielt. Ich fand es merkwürdig, dass die Regierung den älteren Dorfbewohnern den Weg zum Tod derart abkürzte. Ich ging den Hügel hinauf und bemerkte einige Holzhäuser, die in Pastellfarben gestrichen waren. Sie erinnerten mich an die Zeichentrickfilme, die ich als Kind gesehen hatte. Das Dorf selbst wirkte verlassen und leblos, wie versteinert. Wohin ich auch ging, alles sah wie ein Stillleben aus. Bei Wikipedia hatte ich gelesen, dass die Einwohnerzahl von Åseda 2430 betrug; ich hatte das merkwürdige Gefühl, das sie alle verstorben waren.

Ich ließ die letzten Häuser hinter mir zurück und ging in den Wald, in dem es geheimnisvoll ruhig war. Die tödliche Stille wurde nur durch meine Schritte und meinen Atem durchbrochen. Ein Fischadler drehte seine Kreise über dem Dach aus Koniferen; seine gleichmäßigen Bewegungen faszinierten mich. Wir waren beide aus demselben Grund hierher geflohen, zu diesem sicheren Hafen, einem schönen Ort mitten im Nirgendwo und ohne Bezug zur Welt. Selbst an diesem sonnigen Tag war der Boden feucht und dumpfig. Stundenlang streifte ich durch den Wald, ohne zu wissen, wo ich war, wie ein Kind auf der Suche nach dem Lebkuchenhaus. Von Zeit zu Zeit streifte eine sanfte Brise mein Gesicht und meine tropfende Nase. Diese Wanderung ließ mich das gespenstische Bild des Friedhofs vergessen. Als bei Sonnenuntergang der Tag zu Ende ging, kehrte ich zu meinem Bett zurück und legte den Kopf auf das Kissen, noch immer überwältigt von lebhaften Erinnerungen an mein früheres Leben, das unter all diesem Schutt begraben ist.

«Die Flitterwochen sind vorbei», hörte ich eine Stimme sagen. Ich stand draußen auf dem Küchenbalkon und sah hinab auf den leeren Spielplatz. Ich schaute mich um und sah Abu Halab, meinen Nachbarn, der eine Zigarette rauchte. Er erwartete keine Antwort; wir nahmen die Gegenwart des andern zur Kenntnis, lebten aber zurückgezogen in unseren inneren Welten. Er war Mitte zwanzig, trug einen schwarzen Bart und einen dicken Schnurrbart; er war nicht direkt schön, aber seine dicken Augenbrauen und langen Wimpern über den dunklen Augen ließen ihn attraktiv wirken. Obwohl er noch so jung war, verkörperte er eine spezielle Art männlicher Schönheit. Sein Kopf war rasiert wie bei vielen Männern hier, denn das Honorar des Friseurs betrug beinahe die Hälfte der Unterstützungszahlung für Asylbewerber. Abu Halab war einige Monate vor mir angekommen und erzählte mir, schon nach wenigen Wochen habe die schöne Landschaft begonnen, ihn zu langweilen. Zu Anfang fand er es aufregend, im Wald spazieren zu gehen und die Umgebung zu genießen. Doch seit einiger Zeit blieb er lieber in seinem Zimmer, lag im Bett, aß, masturbierte oder schlief. Schließlich bekam er die Erlaubnis, sich in Schweden niederzulassen, aber er fand keine Wohnung, um den Stall, wie er die Asylbewerberunterkunft nannte, verlassen und seine Frau aus Aleppo holen zu können.

Ich ging in die Küche, bereitete mir einen Tee und zog mich in mein Zimmer zurück; schloss den Vorhang und öffnete das Fenster. Mir wurde klar, dass Abu Halab recht hatte: Die Tage wiederholten sich monoton, die Schönheit verlor ihren Zauber, und die hässlichen und scheußlichen Dinge wurden vertraut. Der deprimierend dunkle Vorhang war jetzt praktisch, denn er schützte vor dem Licht der weißen Nächte. Der Friedhof kam mir nicht mehr unheimlich vor, ich sah die Grabsteine als kleine Statuen mit geometrischen Mustern. Ich schaute die Blumen an, die liebevoll vor jeden Grabstein gestellt wurden, und bald wartete ich geradezu auf das Eintreffen des Mannes mit Hut, der jeden Morgen mit seinem Jack-Russell-Terrier den Friedhof besuchte; wenn er einmal nicht kam, vermisste ich ihn. In Schweden sehen Friedhöfe wie Parks aus, in denen man spazieren geht, während in Syrien die Gärten und öffentlichen Parks zu behelfsmäßigen Friedhöfen geworden sind, weil sonst kein Platz ist, die Toten zu begraben.

Ich erwachte spät aus meinen Träumen, zitternd, zog den Vorhang zur Seite und sah, dass das Fenster an den Rändern von einem Spitzenmuster aus Raureif überzogen war. Ich schaute hinaus; das Laub der großen Eichen war gelb, rot und orange geworden und fiel zu Boden, ein Abschied vom Sommer. Die Blätter schwebten sanft zu Boden, ohne jedes Geräusch. Nur die immer noch grünen hielten sich stur an den Zweigen fest. Getrocknetes Laub bedeckte den Friedhof. Im Lauf der Nacht war die Temperatur abrupt gesunken, deshalb rückten die Toten zusammen und umarmten sich, um ihre Seelen zu wärmen. Im Herbstkostüm wirkte der Friedhof intimer. Eine sanfte Brise strich über die Gräber und fuhr unter die trockenen Blätter, dass es aussah, als würden sie an diesem kalten, aber sonnigen Morgen tanzen. Ich wandte mich vom Fenster ab und suchte nach jemandem, mit dem ich diesen flüchtigen Glücksmoment teilen könnte, aber ich sah niemanden. Alles war so ruhig, als würden die Bewohner noch schlafen. An der Wand der alten Kirche lehnte ein Fahrrad, die Kette hing hinab auf den Boden. Die Uhr oben am Turm zeigte immerzu Viertel nach zehn. Wie an jedem Morgen war nur eine kleine Gruppe von Enten auf der Straße unterwegs.

Ich zog meinen roten Mantel an und wickelte mir einen braunen Schal um den Hals. Die linke obere Ecke des Spiegels war abgebrochen, sodass ich nur mein halbes Gesicht sehen konnte. Als ich die Treppe hinabging, stellte ich mir vor, das ganze Haus würde nach dem Parfum duften, das ich nur zu besonderen Anlässen auflegte. Sobald ich draußen war, spürte ich die kalte Luft an den Fingerspitzen und Augen. Ich erinnerte mich, wie in Damaskus die Sonne auf das alte Haus schien, in dem ich wohnte. Ich konnte den Duft frisch gebackenen Brots am Morgen riechen und den würzigen Geruch von Geflügel mit Kichererbsen und Kumin. Ich drang immer tiefer in das Reich der Erinnerung ein und hörte Teelöffel und Teller beim Frühstück klappern. Das Gesicht meiner verstorbenen Mutter sah mich lächelnd an. Reisen in die Vergangenheit brauchen weder Pass noch Visum. Der Tagtraum war die einzige Hand, die sich mir zum Tanz entgegenstreckte.

Natürlich wusste ich, wo ich war; die Google Map auf meinem Smartphone zeigte einen Punkt «mitten im Nirgendwo», wie ein Freund sagte, als ich die Karte über Whats-App mit ihm teilte. Tatsächlich war ich in Småland, in der Provinz Kronoberg. Hier stand ich am Friedhof von Åseda, umgeben von einem bunten Teppich aus Herbstlaub. Plötzlich legte sich der Wind, und die Vögel verstummten. Alles um mich herum versank in Schweigen, wie auf einer Party, wenn alle Gäste ohne Abschied gegangen sind. Ich blieb lange stehen, während der Regen durch die Bäume niederfiel. Hinter den Grabsteinen hatte sich ein Rinnsal gebildet, über dem zwei Libellen um die Blumen flirrten. Als ich näher heranging, stieg vom feuchten Boden ein angenehmer Geruch auf. Im Gras neben einem Grabstein wuchsen Pilze; sie sahen aus wie die Zehen einer Leiche. Von Weitem zerstörte ein Rasenmäher den friedlichen Moment. Ich schlenderte zwischen den schwarzen Grabsteinen umher, auf denen Namen eingemeißelt waren wie die Signatur des Künstlers auf einer Statue. Mir fiel auf, dass die meisten Nachnamen auf «son» endeten; einer nach dem anderen, wie ein Museum der Geschichte des Todes. In der ersten Reihe schienen die ältesten Gräber zu liegen. Ihre Inschriften nannten Daten vor dem Ersten Weltkrieg, und die Todestage lagen nah beieinander, nach einem langen Leben. Zwischen diesen Toten fühlte ich mich wie ein Fremder; die meisten von ihnen lebten und starben, bevor ich geboren war.

Als ich den Süden des Friedhofs erreichte, rief der Geruch eines vertrauten Gewürzes die Erinnerung an die kleine Statue der Schmerzhaften Mutter wach, die in einer Ecke der Ananias-Gasse in der Altstadt von Damaskus steht. Ich dachte, der Geruch käme von der Kirche im Norden des Friedhofs, aber ich hatte mich geirrt. Ich ging zu dem kleinen Grab, auf dem in einem Schälchen Weihrauch brannte und eine dünne Rauchsäule aufsteigen ließ, daneben ein Klumpen von hartem, staubigem Wachs und ein Strauß roter Rosen, den man auf den weißen Marmor gelegt hatte. Auf dem Grabstein war das Foto eines jungen Mannes zu sehen, mit blauen Augen und schönem Lächeln, und einer Matrosenmütze auf dem langen, blonden Haar – ein Bild jugendlicher Lebensfreude. Er war 1996 geboren worden und 2014 gestorben. Unter dem Datum war ein Epitaph in den Stein gemeißelt, das ich nicht verstehen konnte. Der Anblick löste ein inniges Gefühl in mir aus; dass der Tod soeben erst eingetreten war, weckte Erinnerungen an meine Träume, die der Krieg zerstört hatte und die ich seit Monaten zu unterdrücken versuchte.

Ich schaute über die Gräber hinweg hinauf zu meinem Schlafzimmer. Der schwarze Vorhang wehte durch das offene Fenster. Mir wurde klar, dass ich an dem Grab stand, das der Mann mit Hut jeden Tag besuchte.

Mit Tränen in den Augen ging ich fort.

Von jetzt an besuchte ich das Grab jeden Abend und entzündete eine Kerze. Von meinem Zimmer aus konnte ich dann das flackernde Licht in der Dunkelheit sehen. Merkwürdigerweise minderte der Anblick der kleinen Flamme den Kummer meiner einsamen Nächte. Eine Stimme in mir begann mit den Toten zu reden. Am Morgen, wenn ich meinen Kaffee trank, sah ich zu ihnen hinab und sprach von Dingen, die ich vor langer Zeit vergessen hatte. In ihren ordentlich aufgereihten Gräbern schienen sie mir respektvoll zu lauschen. Von Tag zu Tag wurden sie mir vertrauter, sie wurden Freunde, denen ich all meine Geheimnisse anvertrauen konnte. Wir lachten und weinten zusammen. Verstorbene sind aufmerksame Zuhörer, und das war alles, was ich brauchte, jemand, der mich beachtete.

Leider sind die guten Dinge oft nicht von Dauer. Gerüchte gingen um, dass alle Asylsuchenden in andere Unterkünfte verlegt werden sollten. Es hieß, die Bewohner des Altersheims gleich nebenan hätten sich über uns beschwert. Der Grund war anscheinend, dass wir lärmende Fledermäuse waren, die nachts aktiv wurden. Unsere Stimmen waren laut und störten sie besonders, wenn wir vor der Unterkunft telefonierten. Die Kinder waren zu lebhaft, sie schrien die ganze Zeit. Die Mülleimer neben dem Altenheim quollen über von unseren Abfällen, und die Luft war vom Qualm unserer Zigaretten verpestet. Ihr Leben war durch unsere Anwesenheit bedroht. Niemand wusste, ob diese Gerüchte auf Tatsachen beruhten, bis eines Morgens jeder von uns einen Brief erhielt, in dem uns mitgeteilt wurde, die Asylboende würde im November geschlossen werden. Es war beschlossen worden, uns auf verschiedene andere Unterkünfte in Kronoberg zu verteilen.

Bei meiner Ankunft war mir von der Beamten der Migrationsverket gesagt worden, ich würde diesen Ort erst dann verlassen, wenn mir eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde, doch nun schien es so, als würde ich schon vorher gehen. In der folgenden Woche wurden wir gedrängt, uns darauf vorzubereiten, dass verschiedene Busse uns und unsere blauen Plastiksäcke an andere Orte bringen würden. Von meinem Fenster aus beobachtete ich, wie sich die Bewohner voneinander verabschiedeten. Ich blieb allein und trank einen letzten Kaffee mit meinen verstorbenen Freunden. Ich genoss den letzten Blick auf diejenigen, die meine neue Familie geworden waren.

«Du wirst mir fehlen», flüsterte ich meinem jungen Freund zu.

Die Zimmertür wurde aufgerissen, und die Beamtin kam herein. Sie wirkte verärgert, sagte aber nichts. Sie untersuchte den Fensterrahmen und schüttelte die Vorhänge; ich war mir sicher, dass sie mich im Verdacht hatte, etwas zu verstecken. Dann befahl sie mir, ihr zum Ausgang zu folgen. Ich trug denselben Sack und Karton wie bei meiner Ankunft, außerdem ein Schreibheft, das ich im ICA-Geschäft in Åseda gekauft hatte. Die Szene erinnerte mich an meine Ankunft vor einigen Monaten, nur dass es dieses Mal nicht nach Essen roch. Sobald wir draußen waren, forderte sie mich auf, in den Wagen zu steigen. Ein anderer Mann saß bereits auf der Rückbank; auch er hatte einen blauen Sack. Ich schwieg. Eine Digitaluhr zeigt 03:00 nachmittags, und das Autoradio übertrug einen Bericht auf Schwedisch. Dann stieg auch die Beamtin ein und setzte sich neben den Fahrer.

«Lenhovda», antwortete sie, als ich fragte, wohin wir fuhren.

Es begann stark zu regnen. Die Scheibenwischer zuckten hektisch von links nach rechts. Ich drehte mich um und warf einen letzten Blick auf meine toten Freunde. Friede sei mit euch, ihr Menschen in den Gräbern, ihr seid uns vorangegangen, und wir werden euch folgen … Der Wagen fuhr langsam um den Friedhof herum, ich konnte ihn noch durch das Rückfenster sehen. Der Regen trommelte auf das Autofenster; bald konnte ich die Gräber durch die regennasse Scheibe nicht mehr erkennen. Das Bild des Friedhofs würde in den nächsten Monaten neben vielen anderen Geschichten in meinem Geist fortbestehen. Mein Schreibheft fiel zu Boden; ich konnte es mit Mühe unter dem Vordersitz hervorziehen. Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich, dass Abu Halab mich mit seinen weit geöffneten Augen ansah; sein Gesicht war ganz nah, ich konnte seinen warmen Atem auf den Lippen spüren.

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