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KAPITEL 1 IM ZIMMER MEINER SCHWESTER
ОглавлениеAleppo, das Haus meiner Schwester. Ich stand mitten in ihrem Schlafzimmer, das in mildem Halbschatten lag. Die klapprigen Fensterläden waren geschlossen, um die Nachmittagshitze abzuwehren, doch sie hatte die Fenster geöffnet, und eine warme Brise wehte sanft herein. Der Wind blähte die durchsichtigen Vorhänge, bevor er meinen nackten Körper streifte. Nach der kalten Dusche glitzerte meine Haut, und mein Nacken war feucht von Schweiß. Ich zitterte beim Gedanken an das, was vielleicht bald geschehen würde. Das weiße Handtuch lag zwischen meinen Füßen auf dem feuchten Boden. Ich hob es auf und versuchte, meinen Körper noch einmal damit abzutrocknen; dabei ließ ich den Blick durch den vertrauten Raum schweifen. Das Doppelbett mit reich verziertem Kopfende war ordentlich gemacht und mit einem goldenen Dammasttuch bedeckt. Darüber hing ein großer Kristallleuchter. Auf dem Schminktisch standen zahllose kleine Parfumflakons und Cremetöpfchen; unter den vielen Lippenstiften, Feuchtigkeitscremes und anderen Accessoires meiner Schwester suchte ich nach der Pinzette. Erregt näherte ich mich dem großen Drehspiegel, der die Silhouette meiner Nacktheit reflektierte. Ein neunzehnjähriger Junge, glatt und jungfräulich.
Hinter mir auf dem Boden lag meine Sporttasche. Ich kniete mich hin und durchwühlte die Sachen auf der Suche nach den Unterhosen. Dann stellte ich mich wieder vor den Spiegel und streichelte meine bebenden Muskeln. Ich hob und senkte mehrmals den Unterarm, ging in die Kniebeuge und drückte die Finger in die Achselhöhle; das junge Fleisch dehnte sich elastisch. Ich beschloss, die blau-weiße Hose aus Trikotstoff anzuziehen, es war die schickste Unterhose, die ich damals besaß. Mein Cousin hatte sie mir zur Feier meines ersten Studienjahres an der Universität von Aleppo geschenkt. Dann zog ich mein weißes T-Shirt und kurze Jeans an. Ein Tropfen Wasser oder Schweiß fiel von meiner rechten Armbeuge und lief den Oberkörper hinunter, ich spürte ein leichtes Kitzeln.
Ich nahm die Tasche und meine Turnschuhe und ging langsam ins Wohnzimmer, wo es kühler war. Im Fernsehen lief eine Dokumentationssendung von National Geographic; in der Ecke des Bildschirms wurden Datum und Uhrzeit in digitalen Ziffern angezeigt, 10/06/2000 04:45 pm. Ich setzte mich aufs Sofa; von dort konnte ich meine Schwester in der Küche sehen. Sie bereitete die Lunchbox vor, die ich mit ins Studentenwohnheim nehmen sollte.
Meine Schwester Miriam ist die älteste von uns sechs Geschwistern und das einzige Mädchen. Sie ist fünfzehn Jahre älter als ich. In dem Jahr, in dem ich geboren wurde, zog sie von Deir ez-Zor nach Aleppo. Sie verließ unser Zuhause, um an der Universität von Aleppo Elektrotechnik zu studieren, und verliebte sich dort in einen Kollegen. Er war der älteste Sohn eines der bekanntesten und reichsten Pistazienhändler in Aleppo. Sie heirateten noch während des Studiums. Ich erinnere mich nicht an ihre Hochzeit, aber sie kostete ein Vermögen. Der berühmte syrische Sänger Sabah Fakhri sang auf der Hochzeitsfeier. Ich war ungefähr fünf Jahre alt. Meine Mutter sagte immer, durch Miriams Hochzeit wurde unser Haus ein Selamlik *; das ist türkisch und bedeutet Palast der Männer, denn meine Mutter stammt aus der Türkei. Meine Schwester und ihr Mann machten ihre Examen und zogen in ein schickes Haus in der König-Faisal-Straße, wo sie ihre gerahmten Diplome an die Wand hängten. Ihr Mann arbeitet für seinen Vater, und meine Schwester wurde eine verwöhnte Ehefrau. Sie hat zwei Haushaltshilfen, doch das Essen für ihren Ehemann kocht sie selbst.
Plötzlich wurde die Fernsehsendung unterbrochen, und das bekannte Gesicht eines Geistlichen erschien auf dem Bildschirm. Sein rundes Gesicht mit den dicken Backen war jeden Freitagmorgen im Fernsehen zu sehen, ich kannte es, seit ich ein kleines Kind war. Er starrte in die Kamera, und sein grauer Schnurrbart schien die Worte, die aus seinem Mund kamen, zu bürsten. Doch jetzt zitterte er wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Seine sonst heisere Stimme war ein unverständliches Piepsen geworden.
Meine Schwester kam mit der Lunchbox ins Wohnzimmer. Sie blieb mitten im Raum stehen und flüsterte: «Hafiz al-Assad ist tot.» Ich nahm die Fernbedienung und stellte den Ton lauter.
«Syrer und Araber! Heute ist unser mächtiger Führer von uns gegangen, der stets das Recht unserer Nation und unseres Landes verteidigt hat! Der Führer ist von uns gegangen … er, der all unsere Werte und Ideale verkörperte! Der Führer ist von uns gegangen!» Seine Stimme brach. «Der Führer ist von uns gegangen – er, der mehr als ein halbes Jahrhundert für die Einheit der Araber und ihr Ansehen in der Welt gekämpft hat, für ihre Freiheit und ihre Rechte! Er, der die Hurrikans besiegte!»
Erschrocken und verwirrt begann mein Körper wieder zu schwitzen. In der linken Hand hielt ich einen Schuh, und in meinem Kopf brodelten die verschiedensten Gedanken. Eigentlich hätte ich mich freuen sollen, denn dies war das Ende von dreißig Jahren Unterdrückung, doch ich machte ein enttäuschtes Gesicht. Meine Schwester spürte das und fragte mich, ob ich traurig sei. Ich sagte nichts; im wirbelnden Durcheinander in meinem Schädel quälte mich vor allem der Gedanke, was für ein Pech ich hatte: «Verdammt, warum muss er ausgerechnet heute sterben?»
Ich schüttelte den Kopf und verließ den Raum, ging im Flur auf und ab wie ein Tier im Käfig und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich trug nur einen Schuh, den anderen hielt ich noch immer in der Hand. Schließlich ging ich ins Badezimmer und schloss mich ein. Die Stimme des Geistlichen verfolgte mich: «Heute ist ein Tag der Traurigkeit in jedem syrischen Heim, jeder Schule, Universität, Fabrik, jedem Bau-ernhof und jedem Laden», rief er. «Alle Herzen sind voll Trauer, gleich ob Mann, Frau oder Kind. Der Gewaltige, der uns verlassen hat, war ein Stück unseres Herzens.»
Zurück im Wohnzimmer. Mein Schwager leistete meiner Schwester schweigend Gesellschaft, beide verfolgten die Übertragungen zum Ende der dreißigjährigen Präsidentschaft von Hafiz al-Assad. Die Nachrichten wurden unablässig wiederholt; das immer gleiche Mantra würde in den nächsten fünf Tagen zu jeder vollen Stunde zu hören sein.
Der Geistliche schluchzte wie ein Kind. Er trocknete seine Tränen und blickte in die Kamera: «Wir schalten nun zur Volksversammlung nach Damaskus.»
Dann verschwand er.
Todesstille erfüllte den Parlamentssaal; die Abgeordneten vergruben sich in ihre Sessel und warteten. Niemand rührte sich. In der Totale eingefroren wurde die Kamera zum unwandelbaren Zeugen des feierlichen Szenarios. Ich stand vor dem Bildschirm und vertiefte mich in die Einzelheiten. Die Wände waren mit wundervollen Damaszener Ornamenten bedeckt, ein sorgfältig handgefertigtes, perfektes Mosaik. Den Boden bedeckte ein auffällig roter Teppich. Von zwei Beisitzern flankiert, verkündete der Vorsitzende der Volksversammlung in feierlicher Pose den Tod des Präsidenten, al-Assad, genannt der Löwe. Die Kamera schwenkte langsam nach rechts und zeigte andere Abgeordnete, ruhte dann auf den Ministern für Gesundheit und Wirtschaft; beide schienen zu weinen und bemühten sich, die heilige Stille nicht durch ihr Schluchzen zu stören. Ein alter Mann in traditioneller syrischer Kleidung stand hinter ihnen, in tiefste Trauer versunken. Der Vorsitzende rief: «Ich bitte um Ruhe!» Seine Stimme klang nun pompös und kräftig. Heute, siebzehn Jahre später, verstehe ich die bedrohliche Bedeutung seiner Mitteilung. «Ehrenwerte Abgeordnete, ich habe soeben die förmliche Petition von mehr als dreißig Prozent dieser Versammlung erhalten, den Artikel 83 * der Verfassung der Syrischen Arabischen Republik zu ändern. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zu dieser Ergänzung, um sie im Protokoll der heutigen Sitzung niederzuschreiben. Stimmen Sie alle zu?», fragte der Vorsitzende.
Langsam hoben die Abgeordneten erst die gesenkten Köpfe und dann die Hände als Zeichen der Zustimmung. Erleichtert verkündete der Vorsitzende: «Nach Abschnitt 187 der Geschäftsordnung hat die Mehrheit des Präsidiums beschlossen, ein Komitee einzusetzen, um die Änderung der Verfassung vorzubereiten.» Er nannte einige Namen. Aus gutem Grund war ich furchtbar enttäuscht von diesen Nachrichten, die wahrscheinlich die Aussicht vereitelten, ihn heute wiederzusehen. Ich ging auf den Balkon, um frische Luft zu schnappen. Noch immer erregt, zog ich den Schlüssel aus der Tasche; das daran befestigte Schild trug die Nummer 333.