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Amber wählte den kürzesten Weg nach Gealach Castle, fernab der Landstraße, an sanften Hügeln vorbei, auf denen zu dieser Jahreszeit normalerweise der Ginster blühte. Doch in diesem Jahr schien der Winter dem Frühling nicht weichen zu wollen. Noch immer herrschten in der Nacht frostige Temperaturen, und es wurde früh dunkel. Wie sehr sehnte sie sich nach warmen Sonnenstrahlen, die alles zum Blühen brachten.

Amber blieb stehen und ließ ihren Blick über die vertraute Landschaft schweifen. Jeder Baum, jeder Stein war mit einer Erinnerung verbunden, die meisten davon schlecht. Seitdem sie hier in Schottland lebte, fühlte sie sich der Natur verbunden, was sie nie für möglich gehalten hätte. In ihrem Londoner Leben war kein Platz für solche Empfindungen gewesen. Sie wäre ausgelacht worden, wenn sie von Geistern der Elemente gesprochen hätte. Sie konnte es selbst kaum glauben, und doch gab es diese. Dort auf einer der Hügelkuppen befand sich der Steinkreis von Clava Cairn. Jedes Mal, wenn sie einen Gedanken an ihn verschwendete, lief ihr ein Schauder den Rücken hinunter. Seit Monaten hatte sie diesen Ort gemieden, denn es war zu viel Schreckliches geschehen, an das sie nicht erinnert werden mochte. Überall glaubte sie, in seiner Nähe die anklagenden Stimmen verlorener Seelen zu hören. Ausgelöst durch die Geschehnisse hatte sie mehr über ihre übersinnlichen Wahrnehmungen gelernt, was ihre Neugier weckte. Aber jetzt begann sie, diese Gabe als einen Fluch zu betrachten.

Ihre Schritte lenkten sie automatisch zu dem kleinen Wald, der ebenso viele Erinnerungen barg wie der Steinkreis. Erinnerungen an ihre Flucht, an das Moor. Plötzlich spannten ihre Narben an der Schulter, die ihr die Werwölfin zugefügt hatte, als wäre die Haut zu eng. Die Furcht von damals war erdrückend präsent. Sie konnte den Wald nicht betreten, alles in ihr sträubte sich. Lieber nahm sie den schmalen Pfad, der entlang des Waldes lief und den sonst die Jäger wählten.

Die Welt um sie hatte sich verändert, war düster geworden. Die Sonne strahlte nicht mehr so golden und das Grün des Waldes erschien ihr eine Nuance dunkler und nicht mehr so üppig wie einst. Überhaupt war nichts mehr so, wie es einmal war, über jedem Ort schwebte die Erinnerung an das Grauen. Wenn sie einen der Bäume berührte, würde dies sie erneut in die Vergangenheit ziehen, und das konnte sie nicht ertragen. Die Zeit der Geborgenheit im Schoß der Familie verschwand mit einem Schlag, als sie zum ersten Mal Schloss Gealach mit seiner Aura des Bösen betrat, das sie in einen Sumpf der Finsternis zog. Dads Tod hinterließ eine tiefe Leere in ihr. Gott, wie sehr vermisste sie sein Lachen, sein Verständnis, seine Gegenwart. Wie hatte sie immer seine Geradlinigkeit bewundert, das, was ihrem Leben fehlte, denn sie war stets auf der Suche nach sich selbst.

Nach Dads Tod gab es Momente, in denen sie Gealach verlassen wollte, doch den Gedanken wieder verwarf, weil Aidan seiner Heimat nicht den Rücken kehren würde. Sein Leben und das seiner Vorfahren waren untrennbar mit diesem alten Gemäuer verbunden, das mehr Schreckens- als Freudenschreie vernommen hatte. Aber ohne ihn wollte sie nicht mehr leben. Er gab ihr durch seine Liebe den Halt, den sie brauchte. Sie klammerte sich daran wie an einen rettenden Strohhalm. Die Ereignisse hatten auch sein Leben verändert. Der einst verständnis- und humorvolle Mann verwandelte sich in einen Vampir, der in einer Welt lebte, zu der für sie kein Zugang existierte. Die unsichtbare Mauer zwischen ihnen war unüberwindbar, selbst wenn sie sich noch so sehr bemühte, ihn zu verstehen. Das bedrückte sie jeden Tag mehr.

Als es im Unterholz knackte, blieb sie abrupt stehen. Dann herrschte Stille. Die Dämonenprüfung hatte sie sensibilisiert. Wieder ein kurzes Knacken, diesmal dicht neben ihr.

Nichts geschah.

Noch einen Moment verharrte sie und lauschte, doch es blieb still. Nach wenigen Schritten wirbelte sie herum. Irgendetwas folgte ihr. Und es fühlte sich nach einer Präsenz an, die nicht von dieser Welt stammte.

Ein Dämon! All ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich.

Ihr blieb keine Zeit für eine Flucht, denn etwas traf sie mit voller Wucht von hinten zwischen die Schulterblätter und riss sie zu Boden, wie ein Hirsch, der einen Blattschuss erhielt. Doch anstelle einer Schrotkugel bohrten sich Krallen in ihren Rücken. Amber schrie und langte nach dem Dämon, der sie auf den Boden drückte, doch sie griff ins Leere. Hermit hatte recht, in Wirklichkeit waren diese widerlichen Kreaturen noch schlimmer. Mit aller Kraft stützte sie sich auf die Hände und stemmte ihren Oberkörper nach oben. Aber je weiter sie versuchte, ihren Rücken anzuheben, desto stärker drückte der Dämon sie wieder nieder.

„Lass mich los, du verfluchtes Biest!“

Eine eiskalte Hand presste sich gegen ihre Wange. Verzweifelt versuchte Amber, sie abzustreifen, aber sie griff erneut ins Leere. Schon spürte sie, wie rasiermesserscharfe Krallen in ihre Wange schnitten. Der brennende Schmerz an Rücken und Gesicht machte Amber rasend. Sie fühlte sich so hilflos wie eine Fliege im Netz einer Spinne. Nach einer Weile blieb sie keuchend liegen. Dann versuchte sie es mit Rütteln und Schütteln, alles erfolglos. Wie ein schwerer Sack hing er weiter auf ihr. Als ihre Gegenwehr erlahmte, wurde das Gewicht auf ihren Schultern leichter. Das brachte zwar einen kurzen Moment der Erleichterung, aber schon ging es weiter, als sie sich befreien wollte. Fieberhaft suchte ihr Hirn nach einer Möglichkeit, sich dieses widerwärtigen Geschöpfes zu entledigen. Sie musste sich auf ihre Kräfte konzentrieren, so wie es ihr in der Dämonenwelt gelungen war. Ein Werwolf aus Fleisch und Blut wäre ihr weiß Gott lieber gewesen.

„Was willst du von mir?“ Ein Arm legte sich um ihren Hals und drückte gegen ihren Kehlkopf. Amber begann, zu würgen. Der Druck auf ihren Kehlkopf ließ unerwartet nach, und der Dämon malträtierte ihre Arme. Das gewährte ihr einen kurzen Moment der Konzentration, den sie brauchte. Sie schloss die Augen, breitete die Arme aus und flüsterte: „Geister des Windes, helft eurer Tochter.“

Kaum hatte sie die Worte gesprochen, wehte ein heftiger Wind. Leider blieb auch das ohne Erfolg. Der Dämon schien an ihr festgewachsen zu sein.

„Scheiße!“, stieß Amber aus und knirschte mit den Zähnen. Der Druck auf ihren Nacken verstärkte sich wieder, bis er unerträglich wurde. „Geister aller Elemente, vereint eure Kräfte gegen den Feind eurer Tochter“, flüsterte sie mit erstickter Stimme. Jetzt konnte sie nur auf die Hilfe der Naturgeister vertrauen.

Heftige Windböen erfassten sie und zerrten an dem Geschöpf, das sie noch immer eisern umklammert hielt. Aber sie bewirkten nichts und Ambers Hoffnung schwand wieder. Sie wollte um Hilfe rufen, aber nur ein heiseres Röcheln drang aus ihrer Kehle. Die Luftgeister vermochten ihr nicht zu helfen. Doch noch wollte sie den Kampf nicht aufgeben. Während sie nach Atem rang, fiel ihr Blick auf vertrocknete Gräser, Relikte des Winters. Dazwischen mogelten sich die ersten grünen Frühlingstriebe. Sie streckte einen Arm aus und spreizte die Finger, als könne sie die Gräser berühren. Vor ihren Augen begannen Punkte zu tanzen und ihre Zunge fühlte sich taub an. Jetzt gelang es ihr, sich auf die Kräfte in ihrem Inneren zu konzentrieren. In ihrem Bauch spürte sie eine steigende Hitze, die sich über ihren gesamten Körper ausbreitete. Wie ein Fieber, das von ihr Besitz ergriff, sie aber nicht schwächte, im Gegenteil, ihren Leib mit Energie versorgte. Die Hitze stieg bis in ihre Fingerspitzen und drang aus ihnen als sichtbare Strahlen, die sich in Flammen wandelten. Amber murmelte einen Bannspruch in Ogham, den Hermit sie gelehrt hatte. Sie wusste nur nicht, ob er auf jeden Dämon übertragbar war, aber einen Versuch war es wert. Die Flammen entzündeten die gelben Gräser und schlossen sie ein. Sie bildeten ein Muster, einen Drudenfuß oder auch Pentagramm genannt. Wie hypnotisiert verfolgte Amber das bizarre Schauspiel. Im selben Augenblick, in dem das Pentagramm vollendet war, lockerte sich der Griff um ihren Hals. Mit einem durchdringenden Kreischen, das an Raubvogelschreie erinnerte, ließ der Dämon von ihr ab. Er floh über ihren Kopf, und als er das lodernde Feuer überqueren wollte, griffen Arme aus den Flammen nach ihm und zogen ihn herab. Alles, was Amber auf die Schnelle von diesem Dämon erkennen konnte, war der dralle, nackte Körper eines Engels mit hässlicher Fratze und spitzen Zähnen. Sie war das Opfer eines Aufhockerdämons gewesen. Mit einem letzten Aufschrei ging der Dämon in Flammen auf. Im gleichen Augenblick erlosch das Feuer mit einem Zischen, als hätte Wasser es gelöscht. Feiner Dampf stieg empor, den der Wind forttrug.

Erleichtert atmete Amber auf und streckte ihre Glieder auf dem Boden aus. Nur langsam kühlte ihr Körper ab. Sie fühlte über ihre Wange nach den Kratzern, aber es gab keine. Alles Illusion. Zurück blieb ein hohles Gefühl, als sei sie ausgebrannt. Sie brauchte eine Weile, um zu sich zu kommen.

Jedes Mal entdeckte sie neue Fähigkeiten an sich, die sie überraschten. Zu welchen Dingen war sie eigentlich noch fähig? Mit einem Seufzer barg sie ihr Gesicht in den Händen.

Nach einer Weile rappelte sie sich auf, bis sie schwankend auf den Beinen stand. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen, als hätte sie nüchtern Whisky getrunken. Der Wind kroch eisig in ihre Kleidung. Zitternd taumelte sie den schmalen Pfad weiter.

Warum zum Teufel wurde sie das blöde Gefühl nicht los, dass sie noch immer beobachtet wurde? Nicht schon wieder ein Dämon. Sie fühlte sich total erschöpft. Ihre Batterien waren verbraucht. Sie humpelte und kam langsamer voran, als sie gehofft hatte, denn ihre aufgeschlagenen Knie brannten. Vielleicht würde Aidan nach ihr suchen. Oder Mom. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, kein Dämon möge sie wieder heimsuchen. Wie konnte sie nur ihr Handy vergessen? Regelmäßig vergaß sie ihr Handy, genauso oft, wie sie sich verspätete. Bis Gealach Castle war es mindestens noch eine knappe Stunde Fußmarsch, und ihre Beine wurden schwer wie Blei. In dieser einsamen Gegend, fernab der Straße, zwischen Hochmoor und Wald, würde sie kaum einer Menschenseele begegnen.

Der Wind fuhr durch die Bäume, und Amber zuckte zusammen. Sie zog den Kragen enger um den Hals und lief schneller, so gut es ging. Hatte sie sich getäuscht oder leuchteten da zwischen den Bäumen zwei rote Punkte auf? Mit letzter Kraft verbiss sie den Schmerz in den krampfenden Beinen, der jede Bewegung zur Qual machte. Doch bereits nach wenigen Schritten sackte sie auf einen der Findlinge und stützte den Kopf in die Hände. Sie war am Ende ihrer Kräfte und den Tränen nahe. Keinen einzigen Meter konnte sie gehen und musste sich ausruhen, selbst wenn die Angst vor einem weiteren Dämonenangriff sie drängte, ihrer Erschöpfung nicht nachzugeben. Es dämmerte, und der Wind peitschte die Zweige stärker als zuvor. Ihr Treffen mit Beth konnte sie abhaken. Wenn sie noch vor Einbruch der Dunkelheit Gealach Castle erreichen wollte, musste sie sich zusammenreißen und weitergehen.

Plötzliches Motorengeräusch ertönte. Im Landschaftsschutzgebiet zu fahren, war verboten. Wer in Gottes Namen setzte sich über alles hinweg und bretterte durch den Glen? Aber sie wäre dankbar für jede Hilfe. Ein Motorrad preschte den schmalen Pfad am Waldrand hinauf direkt auf sie zu. Hatte Aidan vielleicht doch …? Nein, er fuhr kein Motorrad.

Das Hinterrad brach aus und schleuderte feuchte Erde hoch, die ihr in Klumpen um die Ohren flog. Flegel! Der Fahrer war ein breitschultriger Kerl in einem schwarzen Lederoutfit. Er zog den Helm vom Kopf und schüttelte sein hellbraunes, dichtes Haar, das zerzaust bis auf die Schultern fiel. Seine strengen Züge und ein Dreitagebart verliehen ihm einen Hauch von Verwegenheit und Arroganz. Sie konnte Machos nicht ausstehen. Und der hier gehörte bestimmt dazu. Aber sein Lächeln war umwerfend, musste sie gestehen.

„Hi“, sagte er und hob die Hand zum Gruß.

‚Du siehst ja ziemlich ramponiert aus’, las sie aus seinem Blick. Amber fühlte sich unwohl in ihrer Haut mit der zerrissenen Jeans über den Knien und den unzähligen Flecken auf der Jacke.

„Was machst du hier draußen so allein? Ist das nicht zu gefährlich? Es wird gleich dunkel. Und deine Hose hat auch schon bessere Tage gesehen. Hattest du einen Unfall?“

Sein Blick war ihr eine Spur zu intensiv. Er deutete mit der Hand auf die Löcher in ihrer Hose. „Ich wurde von einem Tier angesprungen und bin gestürzt.“

Sein Lächeln wurde breiter. Er hielt sie für verrückt, das konnte sie spüren. „Was für ein Tier? Ein Moorhuhn?“

Es war ja auch eine blöde Idee gewesen, zu behaupten, ein Tier hätte sie angegriffen. Doch hätte sie von einem Dämon gesprochen, wäre er vermutlich in schallendes Gelächter ausgebrochen. Dann eben doch ein Moorhuhn.

„Vielleicht bist du es ja gewesen, der mir ins Kreuz gesprungen ist?“, fragte sie.

„Hätte ich zwar gern, aber das ist nicht meine Art, eine Frau flachzulegen.“ Er grinste.

„Ich weiß nicht, was es war. Vielleicht ein Dämon?“, wagte sie sich vor. Wie vorausgesehen, brach er in schallendes Gelächter aus.

„Guter Witz.“ Sein Blick wurde hart, nur für einen Wimpernschlag, aber es entging Ambers Aufmerksamkeit nicht. „Ich heiße Samuel Duncan“, sagte er und reichte ihr die Hand. „Die meisten nennen mich Sam.“

„Hi, Sam. Amber Stern.“

Seine Hand steckte noch immer im Handschuh, sein Griff war eine Spur zu fest. Amber zog den Hautkontakt vor, der ihr mehr über das Innenleben ihres Gegenübers verraten hätte. Bestimmt zählte er zu dem Typ Mann, der sich über alle Regeln hinwegsetzt, jedoch stets damit durchkommt, weil keiner seinem Charme widersteht. Nur eines irritierte sie. Jedes Lebewesen besaß eine Aura, die Emotionen offenlegte. Er nicht. Bei ihm fühlte sie nichts, als blocke er sein Innerstes ab. Wie schaffte er das?

Aber sie musste jetzt pragmatisch denken. Er war hier und besaß ein Motorrad. Und sie fror entsetzlich. „Sam, könntest du mich bitte nach Gealach Castle bringen? Mir ist kalt und meine Knie schmerzen höllisch.“

„Klar doch, steig auf.“

Ambers Knie zitterten, als sie sich hinter ihm aufs Motorrad setzte. Durch das Leder fühlte sie das Spiel seiner Muskeln. Es fühlte sich seltsam an, einem anderen Mann als Aidan nah zu sein.

„Wohin wolltest du eigentlich?“, fragte sie und schlang die Arme um seinen Bauch.

„Einen alten Bekannten besuchen. Ambrose Hornby. Kennst du ihn?“

„Wer kennt Hermit nicht? Er hat dich noch nie erwähnt.“

„Das enttäuscht mich aber. Aber ich war lange von Gealach fort und bin erst seit ein paar Tagen wieder zurück.“

„Warst du im Ausland?“

„Du bist ganz schön neugierig. Ja, auch. War hier und da, aber nie lange an einem Ort.“

„Und was führt dich zurück? Die Familie?“

„Nein, ein Job. Ich habe die ausgeschriebene Dozentenstelle für Literatur angenommen.“

„Etwa in der Westhighland-Universität?“

„Kennst du die etwa auch?“

„Ich habe dort meinen Abschluss im Fach Schauspiel absolviert. Manchmal helfe ich mit einer Freundin bei den Proben aus.“

„Dann laufen wir uns dort bestimmt mal über den Weg.“

„Ja, sicher“, antwortete sie, obwohl sie nicht daran glaubte. Schließlich hatte sie ihr Studium beendet und besuchte nur bei Gelegenheit die Uni. Ein Hauch von Wehmut stieg in ihr auf, weil sie an Aidan dachte, der dort seinen Job als begnadeter Schauspiellehrer aufgegeben hatte, um sich der Brennerei zu widmen.

Sie hörte wieder ein Knacken im Unterholz und drehte sich um. Rote Augen glotzten sie an, voller Hass und Gier. „Wir sollten fahren. Ich bin ganz durchgefroren und todmüde.“

Er nickte und trat das Gaspedal durch, der Motor heulte auf. Im gleichen Moment schoss das Motorrad mit einem solch gewaltigen Ruck nach vorn, dass Amber sich an Samuel klammern musste, um nicht runterzufallen. In halsbrecherischem Tempo fegten sie den Pfad hinab. Die Räder wühlten Sand und Steine auf, die zu beiden Seiten hochspritzten.

„Sam, nicht so schnell!“, rief sie, aber ihre Worte gingen im Motorengeräusch und seinem Gelächter unter. Bei dem rasanten Tempo schloss Amber die Augen und presste sich eng an seinen Rücken. Sie war froh, als sie den Innenhof des Schlosses erreichten. Sam bremste abrupt. Sie stieg ab und schlug ihm gegen die Schulter.

„Wieso musstest du so rasen? Ich wurde heute schon genug geschockt!“

„Fürchtest du dich vor dem Tod, Amber?“, flüsterte er.

Es war mehr der Tonfall, der ihr unter die Haut ging, als der Sinn seiner Worte.

„Du etwa nicht?“

Jetzt lachte er wieder, tief und melodisch, was sie auf eine merkwürdige Weise berührte.

„Danke, Sam. Bye bye.“ Amber nickte ihm zu und wandte sich dann um. Überrascht starrte sie auf die behandschuhte Hand, die ihr Handgelenk schnappte.

„Wir sehen uns wieder, Amber.“

Er klappte das Visier hoch, seine Augen hielten ihren Blick gefangen. Nur Aidan sprach sonst ihren Namen in diesem sinnlichen Ton aus. Samuel war geheimnisvoll, distanziert und auf eine gefährliche Art faszinierend.

Hinter ihr knarrte eine Tür. Als sie sich umwandte, begegnete sie Aidans Blick, der anklagend war, als hätte sie etwas Verbotenes getan. Sam ließ sie los und sah ebenfalls zu Aidan hinüber. Die beiden Männer maßen sich mit Blicken wie zwei Platzhirsche in der Brunft. Amber spürte, dass keiner dem anderen gegenüber kompromissbereit war, im Gegenteil, es brauchte nur einen winzigen Moment, um eine unüberbrückbare Kluft entstehen zu lassen. Aidans Augenbrauen zogen sich drohend zusammen, woraufhin Sam den Kopf in den Nacken legte und auflachte. Dann stülpte er das Visier wieder runter, tippte zum Gruß an seinen Helm und brauste davon. Wie eine dunkle Gewitterwolke hing Aidans Missstimmung über Amber und würde sich gleich entladen. Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, platzte er auch schon heraus.

„Wo zur Hölle bist du die ganze Zeit gewesen? Und was hast du mit diesem Kerl zu schaffen?“

Er sollte sich lieber erkundigen, weshalb sie so abgekämpft aussah, und sich Sorgen machen. „Was regst du dich so auf? Mein Gott, Aidan, ich bin doch nur bei Hermit gewesen.“ Mit knappen Worten berichtete sie von ihrem Erlebnis nach dem Besuch beim Eremiten, ohne ein Detail auszulassen. Allmählich beruhigte sich Aidan.

„Ein Dämon? Bist du sicher?“

„Natürlich. Hast du nicht gespürt, dass ich Hilfe gebraucht habe?“

Aidan schüttelte den Kopf.

Amber versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

Aidan blickte sie liebevoll an. „Nicht auszudenken, was dir hätte geschehen können.“ Er zog sie an sich, barg ihren Kopf an seiner Brust und küsste sie aufs Haar. „Versprich mir, dass du nicht mehr allein durch den Glen rennst.“

Amber antwortete nicht sofort. Sie spürte, wie sehr er sich um sie sorgte. Aber eine bleierne Schwere hatte sie erfasst. Sie war zu erschöpft und genoss das Gefühl seiner Arme um sie.

„Versprich es mir, Amber.“

„Okay“, antwortete sie und sah zu ihm auf.

„Trotzdem finde ich es seltsam, dass der Kerl so plötzlich in der Botanik mit seinem Motorrad auftauchte.“

„Der war bestimmt auf einer Spritztour. Da oben gibt es geile Kurven für Motorradfahrer.“ Amber gähnte herzhaft und ließ sich seufzend gegen seine Brust sinken. Samuel war ihr völlig egal, was sie brauchte, war Ruhe. Sie konnte nicht verstehen, was Aidan vor sich hinmurmelte, aber es war bestimmt nichts Gutes über diesen Samuel Duncan. Sie wollte nur noch schlafen. Aidan hob sie auf die Arme und trug sie in die Wohnhalle, wo er sie sanft auf eines der breiten Ledersofas bettete. Seine Fürsorge tat gut. Das war der Aidan, den sie kannte. Leise seufzend kuschelte sie sich in die Kissen und bedeutete ihm, sich zu ihr zu setzen. Gleich darauf schlief sie ein.

Mond der verlorenen Seelen

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