Читать книгу Mond der verlorenen Seelen - Kim Landers - Страница 9

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Amber betrat die Terrasse, auf der Cecilia an dem ausladenden Teaktisch Kräuter sortierte. Wie immer trug sie einen Jogginganzug, der an Knien und Ellbogen verschlissen war. Die Hexe ging Hermit seit geraumer Zeit im Haushalt zur Hand. Der Alte vermochte sich an manchen Tagen wegen seiner Gicht kaum zu rühren. Amber fühlte sich in Cecilias Nähe unwohl. Nicht, dass diese ihr unfreundlich entgegentrat, im Gegenteil. Aber in ihren Augen lag ein abweisender Ausdruck. In Gealach genoss sie Anerkennung, weil sie sich für soziale Projekte engagierte. Alle sagten nur Gutes über sie. Trotzdem misstraute Amber ihr.

„Ach, hallo, Amber, wie schön, dass du Hermit wieder besuchst.“ Cecilia setzte ein strahlendes Lächeln auf, das aus einer Zahnpastawerbung stammen könnte.

„Hallo.“ Amber verspürte nach der Auseinandersetzung mit Hermit nicht die geringste Lust auf einen Small Talk mit der schrulligen Frau, nickte ihr zum Gruß zu und spazierte quer über den Rasen. Der Garten war ebenso Hermits Leidenschaft wie sein Leben nach den Regeln der Natur. „In jedem Halm spürst du die Schöpfung“, pflegte er immer zu sagen, und ein Leuchten trat in seine Augen. Besonders liebte er die Kräuter, die er hegte und pflegte, und die alte Rose aus seinen Kindertagen. Für Amber barg jeder Winkel hier Erinnerungen, die sie lieber vergessen wollte, wie an den Morgen, als Dad gestorben war und sie mit Kevin an Hermits Tisch gesessen hatte. Nichts ließ sich ungeschehen machen, obwohl sie alles dafür gegeben hätte.

Amber schlenderte zu einem der vielen Kräuterhochbeete, die Hermit selbst angelegt hatte. Sein Wissen um Rezepturen für jede Erkrankung beeindruckte Amber immer wieder aufs Neue. Seit unzähligen Generationen reichten Druiden dieses Wissen an ihre Nachfolger weiter. Amber war eine wissbegierige Schülerin, die seine Worte wie ein Schwamm aufsaugte und ihm nacheiferte.

Ihre Vorwürfe vorhin waren ungerecht gewesen, und sie bedauerte es zutiefst.

Der süßliche Duft von Magnolienblüten lag in der Luft und lockte zahlreiche Insekten an. Die Frühlingssonne vertrieb ihre trüben Gedanken. Amber liebte diesen Baum besonders, ebenso wie Hermit. Die Magnolienblüten schienen vollkommen. Bäume besaßen für Druiden eine besondere Bedeutung, etwas Heiliges. Sie waren tief verwurzelt und verliehen dem Leben Festigkeit, vergleichbar mit Heimattreue. Amber fühlte sich im Gegensatz zu Hermit nicht verwurzelt, sondern wie Treibholz, das an ein ungewisses Ufer geschwemmt worden war. Die Magnolienblüte in jedem Frühjahr war überwältigend. Leider dauerte sie nur kurze Zeit. Wie das Leben, dachte Amber und verspürte einen Anflug von Traurigkeit. Ihr Blick glitt über den großzügigen Garten, dessen Mitte eine Findlingsgruppe zierte, Hermits Druidensteine, auf denen er Rituale zelebrierte. Gelbe und blaue Krokusse unterbrachen das zarte Grün des Rasens, der mehr von einer Wildblumenwiese besaß als einem Zierstück.

Schlurfende Schritte verrieten, dass er ihr gefolgt war. Sie wollte mit ihm genauso wenig streiten wie mit Aidan, und doch geschah es in der letzten Zeit oft, viel zu oft.

Amber drehte sich um und sah ihm entgegen. Sein Gang war steif und unsicher. Plötzlich rutschte er auf dem feuchten Gras aus und landete mit einem Fluch auf seinem Hinterteil, mitten im Kräuterbeet. Zuerst schimpfte er wie ein Rohrspatz und stieß Ambers dargebotene Hand beiseite, aber schließlich begann er, schallend zu lachen.

„Jetzt hat mein schrumpeliger Hintern die Kräuter zerdrückt. Die wollte ich noch ernten.“

Amber ließ sich von seinem Lachen anstecken. Die gespannte Stimmung von vorhin verflog. Das tat so gut. Seit Dads Tod lachte sie nur selten. Früher hatten sie oft gelacht, Dad, Mom und Kevin, wenn sie sich gegenseitig neckten. Aber diese Zeit war vorbei – endgültig, und Dad lebte nur noch in ihrer Erinnerung. Amber schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an. Immer, wenn sie an Dad dachte, stiegen Tränen in ihre Augen. Sie blinzelte sie fort und reichte Hermit erneut die Hand, um ihn hochzuziehen.

„Bei drei ziehst du dich hoch.“

Hermit war kein Leichtgewicht, und er war steif, was Amber Mühe bereitete. Der Alte umklammerte ihren Arm, Amber verlor das Gleichgewicht und rutschte mit ihren Joggingschuhen auf dem nassen Rasen aus. Beide plumpsten lachend ins Kräuterbeet zurück.

„Ich war dir ja ne große Hilfe.“ Amber wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Dann blickte sie an sich hinunter. „Igitt, meine Hose. Jetzt muss ich mich auch noch umziehen.“ Sie stöhnte und wischte mit den Fingern über die Erdflecken, die auf ihrer hellblauen Jeans prangten.

„Keine Sorge, kann man reinigen. Hat doch was, wir beide hier zusammen. Welcher alte Knacker kann behaupten, mit einer schönen, jungen Frau im Beet gelegen zu haben?“ Hermit zwinkerte ihr zu und zog die Gartenschürze zurecht.

„Alter Casanova. Komm, versuchen wir noch mal gemeinsam, aufzustehen.“

Sie brauchten zwei Versuche, bis sie es endlich geschafft hatten. Bewundernd sah Amber den alten Druiden an. Auch wenn sein Körper nicht mehr so mitspielte, verlor er weder seinen Lebensmut noch den trockenen Humor.

„Hast du dir wehgetan?“ Amber hatte über ihr Missgeschick fast Hermits Gicht vergessen. Besorgt legte sie ihre Hand auf seine Schulter und forschte in seiner Miene.

„Passt schon, solch nen kernigen Kerl wie mich haut so schnell nichts um“, antwortete er und schmunzelte.

„Klar, bist doch noch jung und knackig.“ Amber kniff ihn freundschaftlich in den Arm.

„Knackig schon, aber nur in den Gelenken.“

Lachend drehte er sich zu dem Magnolienbaum um und schnupperte an einer Blüte. „Ich erfreue mich jedes Frühjahr an ihm. Bäume können viel erzählen.“

Er brach ein Stück vom Zweig ab und reichte ihn ihr. „Nimm und sag mir, was du fühlst.“ Lauernd ruhte sein Blick auf ihr.

Ambers Finger umschlossen das fingerdicke Holz. Vorsichtig rieb sie mit den Fingern über die Oberfläche. „Fühlt sich rau an, die Rinde bröckelt. Der Baum hat Moos angesetzt.“

„Herrgott, nicht so nüchtern! Ich will nicht hören, was deine Hände ertasten, sondern was du fühlst, wenn du ihn berührst! Druiden erfassen das Leben mit allen Sinnen.“

Trotz seines barschen Tonfalls wusste Amber, dass er sie nur ermutigen wollte, in sich hineinzuhorchen. Sie schloss die Augen, damit es ihr leichter fiel, sich ihrem Inneren zu öffnen. Dabei überkam sie wieder das seltsame Gefühl des Entrückens, als zöge der Zweig sie in eine andere Welt. Sie hörte ein Flüstern, als wolle er ihr etwas erzählen. Der Ausflug in die Dämonenwelt hatte anscheinend ihre Sinne geschärft.

„Erinnerungen“, flüsterte sie, „ich fühle Erinnerungen.“ Bilder erschienen vor ihrem geistigen Auge, zuerst verschwommen, bis sie immer klarer wurden.

„Das ist gut. Weiter. Was siehst du?“

„Einen Mann, der einen Baum unter dem Arm trägt. Er spricht zu jemandem, den ich nicht sehen kann …“

„Was noch?“

„In seiner linken Hand hält er einen Spaten. Er will den Baum einpflanzen. Es ist für ihn ein besonderer Tag.“

„Empfindet er Freude? Trauer? Ist er allein?“

„Er empfindet Trauer. Der Baum ist eine Erinnerung.“ Amber spürte die tiefe Trauer des Mannes und seine Furcht vor der Einsamkeit. Plötzlich begann sie, zu frösteln.

„Ist er allein?“

„Ich weiß es nicht, kann niemanden sehen, aber irgendjemand spricht mit ihm.“ So sehr Amber sich auch konzentrierte, es wollte ihr nicht gelingen, die Worte zu verstehen. Hinter ihren Schläfen pochte es wieder schmerzhaft.

„Ist er allein?“

Die Stimme Hermits dröhnte in ihrem Kopf wie ein gewaltiger Paukenschlag. Amber zuckte zusammen und hielt sich die Ohren zu. Das Bild wurde klarer.

„Nein! Da ist noch ein Kind! Ein Junge!“, rief sie aus und taumelte von einem plötzlichen Schwindelgefühl erfasst.

„Schon gut. Beruhige dich“, sagte Hermit leise und zog den Zweig sanft aus ihrer Hand.

Amber stützte sich am Stamm ab und öffnete benommen die Augen. Die Erinnerung war so deutlich gewesen, als wäre es die eigene. „Wen habe ich da eben gesehen?“ Sie schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben.

Hermit nagte an seiner Unterlippe und seufzte. „Du hast mich gesehen.“

„Dich? Und wer war der Junge?“

„Mein Sohn.“

Ein Ruck durchfuhr Amber. „Dein Sohn? Du hast ihn nie erwähnt.“

Irgendwie passte Hermit so gar nicht in ihre Vorstellung eines Vaters und Ehemannes. Dafür war er zu eigenbrötlerisch. Andererseits besaß auch er ein Vorleben wie jeder andere.

„Seine Mutter und er haben mich verlassen, als er fünf war. Diesen Magnolienbaum habe ich damals für Elsie gepflanzt, damit ein Teil von ihr bei mir blieb.“

„Hast du gar keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt?“

„Elsie und er haben sich nie mehr bei mir gemeldet. Eine Adresse hatte ich nicht.“

Hermits Schultern sanken kraftlos nach vorn. Amber spürte, wie sehr er noch immer um Elsie und seinen Sohn trauerte.

„Hast du nie versucht, sie zu finden?“

Hermit fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Er wirkte auf einmal erschöpft, die Ringe unter seinen Augen erschienen noch eine Nuance dunkler als sonst. „Doch, viele Jahre, aber vergeblich. Irgendwann habe ich aufgegeben. Ach, glaub mir, ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und alles ändern. Ich habe viele Fehler gemacht, den größten, Elsie gehen zu lassen.“

„Weshalb ist sie gegangen?“

„Sie hat Schottland gehasst, das raue Land, die Einsamkeit und … mein Leben als Druide. Sie sagte immer, dass die Druidenlehren Gift für Colin seien. Recht hatte sie, aber damals wollte ich ihr nicht glauben.“

Er stieß seinen Atem aus, als würde es ihn von einer Last befreien. Amber dachte an Gordon Macfarlane und musste dem Alten zustimmen.

Hermit fasste nach ihrer Hand. Eine Weile standen sie da, jeder seinen Gedanken nachhängend, bis er das Schweigen brach.

„Deine Fähigkeiten reifen erstaunlich, Amber. In jedem Tier, jeder Pflanze liegen für alle Ewigkeit die Erinnerungen verborgen, wie ein durchsichtiger Mantel, zu dem nur besondere Menschen mentalen Zugriff haben. Wenigen Druiden ist es möglich, diese Erinnerungen abzurufen. Mir blieb es bis heute versagt.“

„Und weshalb kann gerade ich das?“

Der Alte zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“

„Ich kenne niemanden, der über eine solche Gabe verfügt. Wir Sterns waren immer stinknormal.“

„Passt schon. Irgendwann wirst du vielleicht erfahren, woher diese Gabe stammt.“

„Du weißt, jedem, dem ich davon erzählen würde, eine Geistreise in die Dämonenwelt zu machen, hielte mich für verrückt. Ich kann’s ja selbst kaum glauben. Manchmal fürchte ich mich vor meinen Gaben.“

Aus geschlitzten Augen sah er sie an. Seine Lippen zitterten, es fiel ihm sichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden. „Ist normal. Du wirst dir deiner Fähigkeiten nach und nach bewusst. Nimm es als ein besonderes Erbe an, das dir zuteilwird.“

In ihrem Kopf ging sie alle Familienmitglieder durch, und das waren nicht wenige, aber keiner von ihnen wirkte irgendwie außergewöhnlich. „Ich weiß nur nicht, ob ich noch mehr Überraschungen ertragen kann.“

Cecilias blechern klingende Stimme unterbrach ihr Gespräch. „Hermit? Randy ist am Apparat. Kommst du, oder rufst du nachher zurück?“

„Passt schon. Ich komme. Amber, wartest du auf mich?“

„Nein, ich muss heute Abend noch nach Edinburgh.“

„Triffst du dich wieder mit Beth?“

„Hatte ich vor. Sie scheint einen Job für mich zu haben. Endlich. Du weißt ja, wie lange ich auf der Suche bin. Die Chance muss ich nutzen.“

Amber stellte sich vor, wie es Beth gelungen war, den Intendanten von ihr zu überzeugen. Bestimmt hatte sie so lange auf ihn eingeredet, bis er völlig entnervt nachgegeben hatte, um ihren Redefluss zu stoppen. Typisch Beth. Als sie sich damals kennenlernten, war auch ihr Beths Redseligkeit gehörig auf die Nerven gefallen. In der Zwischenzeit hatte sie erkannt, wie hilfsbereit Beth sein konnte und dass ihr Gerede nicht bösartig gemeint war.

„Klar. Also, bis dann.“ Er tätschelte ihre Hand und ging ins Haus.

Cecilia lehnte im Rahmen der Terrassentür und starrte zu ihr herüber. Amber kehrte ihr den Rücken zu und zog wieder einen Magnolienzweig zu sich herunter, um an den blassrosa Blüten zu schnuppern. Sie liebte diesen zarten Duft. Und wieder drängten sich Bilder in ihrem Kopf, diesmal von blutgetränkten Blütenblättern. Es schien, als hätte Hermit mit diesem Versuch einen Knopf bei ihr eingeschaltet, der ein Programm ablaufen ließ, wenn sie etwas berührte. Ruckartig ließ Amber den Zweig los. Der schnellte hoch, und seine Blütenblätter rieselten herab.

„Wie vergänglich diese Blüten sind, wie alles irdische Leben.“

Amber fuhr zusammen, als sie Cecilias Stimme dicht an ihrem Ohr hörte. „Mein Gott, Cecilia, Sie haben mich vielleicht erschreckt.“

Die Blonde hob ihre schmal gezupften Augenbrauen und spitzte die Lippen. Sie kann mich nicht ausstehen, obwohl sie so freundlich tut, fuhr es Amber durch den Sinn.

„Das tut mir leid.“ Cecilia lächelte entschuldigend.

Auf andere hätte ihr Bedauern vielleicht ehrlich gewirkt, nur Amber ließ sich nicht täuschen, denn in den Worten Cecilias schwang ein seltsamer Unterton mit.

„Jaja, schon gut“, antwortete Amber.

„Amber?“ Hermit stand in der Tür, das tragbare Telefon in der Hand. „Mein Freund Randy wird mich in einer halben Stunde besuchen. Er möchte dich gern kennenlernen.“

„Vielleicht ein andermal, ich muss jetzt wirklich los. Viel Spaß mit deinem Besuch.“ Dabei warf sie einen Seitenblick auf Cecilia, deren Lippen ein zufriedenes Lächeln umspielte.

„Sehen wir uns morgen?“, fragte Hermit.

„Mal sehen.“

„Grüße Aidan von mir.“

„Mach ich.“

„Bye, Amber.“ Cecilia hob zum Gruß die Hand und lächelte wie eingefroren.

Es dämmerte bereits, als Amber sich auf den Weg nach Gealach Castle begab.

Mond der verlorenen Seelen

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