Читать книгу Mond der verlorenen Seelen - Kim Landers - Страница 7

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Amber fühlte sich schwerelos. Eine angenehm entspannende Wärme durchflutete ihren Körper. Es war ihr leicht gefallen, sich in Trance zu versetzen. Sie hatte nur auf die Kerze starren müssen. Allmählich begab sich ihr Geist auf eine ungewisse Reise in die Dämonenwelt. Unter halb geöffneten Lidern sah sie zu Hermit, der sie mit sorgenvollem Blick betrachtete, bevor er im Nebel verschwand.

„Du bist noch nicht so weit, Amber. Das kann gefährlich werden“, hörte sie seine Stimme wie aus weiter Ferne. Er legte seine Hand auf ihre Schulter, doch sie schüttelte den Kopf.

„Ich … bin … bereit.“ Ihre Zunge schwoll an und ließ sich nur schwer dirigieren.

„Amber …“ Hermits Stimme hallte wie ein endloses Echo in ihrem Kopf.

Tausend Arme schienen sie rückwärts zu zerren. Widerstandslos ließ sie geschehen, dass ihr Geist aus dem Körper gesogen wurde. Sie schwebte kurz über ihrem Körper und betrachtete ihn, bevor Dunkelheit sie einhüllte.

Nach einiger Zeit, die Amber wie eine Ewigkeit vorkam, erhellte ein rötlicher Schein die Finsternis. Wenn sie nicht wüsste, wo sie sich befand, glaubte sie, einen Sonnenaufgang zu erleben. Ihr Körper war leicht wie eine Feder und milchig, fast transparent. Sie sah ihr Herz in der Brust schlagen. Ein neues, aufregendes Gefühl voller Faszination. So weit war sie noch nie gegangen.

Ihre Augen gewöhnten sich recht schnell an die schummrigen Lichtverhältnisse. Kaum zu glauben, dass sie jetzt ein körperloses Wesen war, wo sie sich doch sehen und ihren Körper fühlen konnte. So musste es auch nach dem Tod sein, jedenfalls stellte sie es sich so vor. Ein beruhigender Gedanke.

Es dauerte eine Weile, bis sie die ersten Umrisse am Horizont erkannte, spitzzackige Berge, die den scharlachroten Himmel mit ihren Gipfeln kratzten. Ein bizarres Panorama, das alles übertraf, was sie bisher gesehen hatte. Vor ihr lag der Pfad, der sie ins Ungewisse führte, in eine Welt, von deren Existenz sie nur aus Legenden wusste. Die Welt der Dämonen. Hermit war schon einmal als junger Druide hier gewesen und hatte ihr davon berichtet. Jeder Druide musste sich dieser Herausforderung stellen, früher oder später. Sie hatte sich für früher entschieden, um das drohende Unheil abzuwenden, das wie eine Dunstglocke über den Highlands schwebte.

Vor ihr schlängelte sich der Pfad, der dem nach Clava Cairn täuschend ähnlich war. Aber sie musste auf der Hut sein, alles in dieser Welt barg eine Täuschung. Dämonen verstanden es meisterhaft, Trugbilder zu erschaffen. Sie zwang sich, ruhig ein- und auszuatmen, bevor sie den Weg betrat. Waren ihre ersten Schritte noch vorsichtig, wurde sie nun zunehmend mutiger. Schließlich rannte Amber den schmalen Weg hinauf, vorbei an einem See, der wie Loch Gealach aussah, bis sie den Wald erreichte, an dessen Ende der Steinkreis lag. Schwerkraft existierte hier nicht. Unter der Wasseroberfläche erkannte sie bleiche Gesichter mit starren Augen, deren Lippen sich bewegten. Stimmen flüsterten ihren Namen.

Der Waldboden unter ihren Füßen verschluckte jeden Schritt. Immer wieder warf Amber einen Blick zurück, um sich zu vergewissern, ob sie ihr bereits folgten.

Kurz bevor sie den Wald erreichte, stoppte sie. Alle ihre Sinne waren aufs Äußerste geschärft. Der Himmel wölbte sich scharlachrot über den schwarzen Wipfeln. Hier herrschte absolute Stille, die nur durch ihr Atmen unterbrochen wurde. Jede Faser ihres Körpers war bis in den kleinen Zeh angespannt, Schweiß rann ihren Rücken hinab, nicht vor Anstrengung, sondern vor Anspannung. Überall wähnte sie Augen, die sie verfolgten, zwischen den Bäumen, selbst im See. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Dämonen über sie herfielen. Doch sie war vorbereitet, um den Kampf aufzunehmen.

Mit zusammengebissenen Zähnen verdoppelte sie ihr Tempo. Sie war fest entschlossen, ihre herangereiften Fähigkeiten zu beweisen. Sollte der Alte doch an ihr Versagen glauben, sie würde ihn eines Besseren belehren. Hermits Zweifel ärgerten sie, schließlich hatte sie ihm oft genug gezeigt, welche Kräfte in ihr schlummerten, und wie sicher sie diese in der Zwischenzeit beherrschte.

Lass dich nicht ablenken, konzentriere dich auf dein Inneres, das mehr sieht, als deine Augen es jemals vermögen. Dieser Satz verlieh ihr Mut.

Lange folgte sie dem Pfad, der sich zwischen den Bäumen den Hügel emporschlängelte, ohne dass etwas geschah. Eine trügerische Sicherheit, denn sie spürte die Blicke der glühenden Augen auf sich. Der Pfad verengte sich, bis sie sich einen Weg durch dichtes Gestrüpp bahnen musste. Sie schrie auf, als dornige Zweige ihr ins Gesicht peitschten. Die Striemen brannten wie Feuer. Blut lief über ihre Lippen, das sie mit dem Ärmel abwischte. Als sie die Blutflecke auf dem weißen Stoff betrachtete, erinnerte sie das wieder an die ermordeten Frauen und die grausame Art ihres Todes. Ihre Leichen wurden rund um Gealach gefunden, nackt, vergewaltigt und übel zugerichtet wie Schafe, die von einem Wolf gerissen wurden. Nur eine Bestie wäre zu dieser Tat fähig. Amber konnte spüren, wie die Schattenwelt erneut ihre todbringenden Finger ausstreckte.

Vielleicht ein Werwolf oder ein … Nein, das Tor war verschlossen und Aidan würde das nie tun. Oder doch?

„Nein!“, rief sie und rannte mit geballten Fäusten weiter. Der Pfad mündete in eine dichte Nebelwand. Amber zögerte, bevor sie sich dann entschied, dem Pfad nicht zu folgen und stattdessen den Wald zu betreten. Im Nebel wäre sie blind den dämonischen Attacken ausgeliefert.

Sie war schon eine Weile gegangen, als sie ganz in der Nähe das Kichern einer Frau hörte. Etwas Gelbes huschte an ihr vorbei und verschwand zwischen den Bäumen. Amber übersprang einen schmalen Graben und erkannte eine blonde Frau in einem gelben Overall, die vor ihr davonrannte. Kichernd warf die Blonde einen Blick über die Schulter zurück, als wolle sie Amber necken und verbarg sich hinter einem Baum. Amber erreichte kurz darauf atemlos die Stelle, an der sie die Frau aus den Augen verloren hatte. Ihr Blick glitt suchend zwischen den Bäumen umher, ohne sie zu entdecken. Diese raffinierten Dämonen waren ihr einen Schritt voraus! Sie hatten damit gerechnet, dass sie die Nebelwand umging und in den Wald lief. Amber bereute ihren Entschluss, aber umkehren mochte sie auch nicht.

Das Knacken eines Zweiges ließ sie herumfahren. Wieder folgte das Kichern. Sie durfte sich nicht irritieren lassen. Der Boden wurde morastig, sie sackte knöcheltief ein. Alles fühlte sich so echt an, als stecke sie in ihrem Körper.

Das Kichern verstummte. Stille. Eine seltsame Stille, wie auf einem anderen Planeten. Wie gebannt verharrte sie, wartete auf einen Angriff. Ihr Blick flog umher, suchte jeden Zentimeter ab.

Plötzlich schoben sich ein Dutzend Hände aus dem Moorboden vor ihr, dann tauchten Arme und Köpfe auf. Amber erstarrte beim Anblick der bleichen Frauenköpfe, die sie böse anglotzten. Die Toten aus Gealach. Sie hatte Fotos von ihnen gesehen, damals, in der Zeitung und im Fernsehen. Ihr wurde übel, sodass sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Das schaurige Klagegeheul ließ Amber schließlich kehrtmachen. Hier hielten sie keine zehn Pferde mehr.

Prompt stolperte sie beim Umdrehen über eine Baumwurzel und fiel der Länge nach hin. Etwas umschlang ihren Knöchel. Amber strampelte, aber die Hand der Toten hielt sie fest. Sie holte aus und trat mit voller Wucht gegen den Kopf. Zwar trennte sie mit dem Tritt den Schädel vom Rumpf, aber die Hand hielt sie noch immer eisern umklammert. Je mehr Amber zappelte, desto fester schlossen sich die bleichen Finger um ihren Fuß und zogen sie rückwärts. Sie fluchte.

„Geister der Erde, helft eurer Tochter“, murmelte sie, während ihre Finger sich in die feuchte Erde krallten und Rillen zogen. Warum halfen ihr die Schutzgeister nicht?

Als der Boden zu beben begann, wurde sie losgelassen. Amber sah zurück. Das Moor versank und zog die Toten in die Tiefe. Erleichtert rappelte sie sich auf und lief weiter, als das Jaulen eines Wolfes erklang.

Lass dich nicht schon wieder ablenken, ermahnte sie sich und raste den steilen Hügel hoch. Es war ein seltsames Gefühl, dabei nicht außer Atem zu geraten.

Bevor sie die Kuppe erreichte, erfasste sie der kalte Atem eines Dämons. Er war dicht hinter ihr. Ein Schauder lief ihren Rücken hinab. Sie lief im Zickzack zwischen den Bäumen. Der Dämon klebte an ihren Hacken. Ein Surren wie das eines Bienenschwarms ertönte über ihr, bis es abrupt verstummte. Amber wagte nicht, einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen. Da versperrte ihr der Verfolger den Weg. Amber erstarrte, als der Dämon in Gestalt eines riesigen Wolfs mit Greifenflügeln und Schlangenschwanz vor ihr stand und voller Gier auf sie herabblickte. Er riss mit lautem Jaulen sein Maul weit auf und spie Flammen. In letzter Sekunde sprang Amber beiseite. Sie spürte die Energie, die sie durchflutete, und streckte ihm die Arme entgegen. Blitze zuckten aus ihren Händen und zielten auf den Dämon. Doch in Bruchteilen von Sekunden wechselte er die Position und stand fauchend hinter ihr. Amber wirbelte herum, ihre Arme in Abwehrposition, aber der Dämon war schneller. Bevor sie sich auf die Energieblitze konzentrieren konnte, peitschte sein Schwanz durch die Luft und traf sie mit voller Wucht an der Hüfte. Vor Schmerz schrie sie auf und kippte um wie ein gefällter Baum. Erneut holte der Dämon aus. Diesmal rollte Amber zur Seite, bevor der Schwanz eine dampfende Furche im Boden hinterließ, wo sie eben noch gelegen hatte. Als sie aufblickte, stand der Dämon über ihr. Seine Lefzen zogen sich hoch und entblößten dolchartige Hauer, von denen Geifer auf sie herabtropfte. In seinen Augen lagen Triumph und Gier. Sie glaubte, seinen üblen Geruch nach Fäulnis zu riechen.

Was hätte sie in diesem Augenblick um das Flammenschwert gegeben. Aber es war nur möglich, ohne Waffen in die Dämonenwelt einzutauchen. Eine verfluchte Prüfung, auf die sie sich da eingelassen hatte, aber die sie selbst verlangt hatte. Sie versuchte es mit erneuten Energiestößen aus ihren Händen, konzentrierte sich auf deren Stärke, aber es wollte ihr nicht gelingen. Stattdessen packte der Dämon sie am Bein und schleuderte sie durch die Luft wie eine Puppe, dass ihr schwindlig wurde. Sie hatte Karussellfahren noch nie leiden können.

Plötzlich ließ er sie los, und Amber segelte meterweit durch die Luft. Sie schrie und ruderte Halt suchend mit ihren Armen, bis sie gegen den Stamm einer Kiefer krachte. Ihre Knochen knackten, und sie glaubte, ihre letzte Stunde sei gekommen. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Wie konnte sie Schmerzen ohne Körper empfinden? Doch es blieb keine Zeit, dem Schmerz nachzugeben und darüber nachzugrübeln, denn schon folgte die nächste Attacke ihres Gegners, der sie rechtzeitig ausweichen konnte. Verdammt, wie sollte sie sich bei dieser Schnelligkeit des Dämons auf ihr Innerstes konzentrieren, um ihre Kräfte zu mobilisieren? Unmöglich.

„Scheiße, die Schwäche, seine Schwäche, verdammt, was hat dieser Dämon bloß für eine Schwäche?“, murmelte sie, aber die Lösung wollte ihr nicht einfallen. Sie beobachtete, wie sein Schwanz ein weiteres Mal ausholte, während ihr Hirn fieberhaft noch immer nach einer Lösung suchte. Sie wollte nicht versagen, wollte Hermit beweisen, dass sie es schaffen konnte.

Amber schloss die Augen. Was konnte ihr in einer Welt voller Geister helfen? „Geister des Windes, tragt mich davon!“, rief sie und breitete die Arme aus.

Der Schwanz des Dämons schlug gegen den Baum und zertrümmerte Stamm und Krone. Aber da befand Amber sich bereits von unsichtbaren Händen getragen hoch über ihm. Der Dämon brüllte vor Zorn und spie erneut Feuer. Auch wenn sie ihm jetzt entkommen war, noch hatte sie das Ziel nicht erreicht.

„Setzt mich da unten ab“, befahl sie ihren unsichtbaren Rettern, die die Schwelle zum Steinkreis nicht übertreten durften. Kurz darauf landete sie hinter dem Wald und der Nebelbank auf der Wiese mit dem aufrechten Menhir. Erst wenn sie dort dem süß lockenden Ruf der Schattenwelt widerstand, hätte sie ihr Ziel erreicht. Wie schwer das war, wusste sie aus Erfahrung, aus der Zeit, als sie das Mal getragen hatte.

Hermit hatte ihr erklärt, es erginge ihr ähnlich wie Odysseus vor der Sireneninsel, und vielleicht noch schlimmer. Das Herz hämmerte in ihrer Brust, als sie langsam die Wiese überquerte und sich der Feuerwand näherte, die den Steinkreis umgab. Diese musste sie durchqueren, um ans Ziel zu gelangen.

Augen fixierten sie durch die Flammen. Sie wurde bereits erwartet.

„Amber, komm zu mir“, hörte sie Aidans flehende Stimme aus der Mitte der Flammen.

Es fiel ihr schwer, einzuschätzen, ob Dämonen Aidan imitierten oder er selbst durch seine mentalen Fähigkeiten trotz der Trance in ihr Bewusstsein gedrungen war.

„Amber! Amber, geh für mich durch die Flammen.“

Amber zögerte noch immer. Falls sie es schaffte, unbeschadet das Feuer zu durchqueren, was würde sie dahinter erwarten? Hermit hatte dieses Feuer nie erwähnt. Sie straffte die Schultern und ging mutig darauf zu. Die Hitze brannte auf ihrer Haut. Das Feuer war heißer als irdisches, weil es von Feuerdämonen gespeist wurde. Sie züngelten nach ihr. Amber wich ihnen geschickt aus.

„Amber, komm zu mir.“

Aidans Stimme wurde drängender. Er musste es sein, denn sie spürte seine Verzweiflung, die wie eine Welle zu ihr brandete. Sie verfluchte ihre Entscheidung, den Pfad der Dämonen gewählt zu haben. Realität und Illusion vermischten sich immer mehr, sodass sie nicht unterscheiden konnte, wo das eine begann und das andere endete. Und wenn auch das Feuer nur dazu diente, sie zu verwirren und falsche Entscheidungen treffen zu lassen wie die Nebelwand? Vielleicht hatte Hermit es deshalb nie erwähnt. Vielleicht war er durch den Nebel gegangen.

Ein tiefes Knurren hinter ihr ließ sie zusammenfahren. Der Wolfsdämon schnitt ihr den möglichen Rückweg ab. Die Entscheidung war gefallen.

„Geister des Feuers, ich brauche eure Hilfe!“

Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, schoss Feuer aus dem Boden, das sie vor dem Wolfsdämon abschirmte.

„Wie kann ich in die Feuermitte gelangen? Helft mir.“

„Wir dürfen die Grenze nicht überschreiten. Du musst allein den Weg gehen“, flüsterten zarte Stimmen.

„Welche Grenze?“

Ihre Frage blieb unbeantwortet.

Na, toll, ohne die Hilfe der Feuergeister gelänge ihr das nie. Ambers Mut sank auf den Nullpunkt. Die flammenden Hände der Feuerdämonen versuchten, sie zu greifen. Sie schrie vor Schmerz auf, als sie nicht rechtzeitig auswich und das Feuer sie berührte. Ihr blieb keine Zeit, sie musste auf die andere Seite gelangen.

Besinn dich auf deine Kraft und die Wahrhaftigkeit, flüsterte eine Stimme. Wie sollte das gehen, wenn der Schmerz sie fast umbrachte?

„Kraft, Wahrhaftigkeit, Kraft, Wahrhaftigkeit“, murmelte sie, bevor durch ihre Unaufmerksamkeit ihr rechter Arm plötzlich in Flammen stand. Amber brüllte wie ein Tier und wälzte sich auf der Erde, um die Flammen zu ersticken.

„Kraft und Wahrhaftigkeit“, wimmerte sie. Das vereinte Ingwaz. Die Rune Ingwaz, zwei übereinandergestellte X. Warum war sie nicht gleich darauf gekommen? Sie streckte ihren zitternden Arm aus und schrieb die Rune mit dem Finger in die Erde. Wie durch ein Wunder öffnete sich hinter der Rune ein Durchlass in der Feuerwand. Tränen strömten über ihr Gesicht, und sie schluchzte vor Erleichterung auf. Auf allen vieren kroch sie durch den schmalen Spalt, bis sie den ersten Menhir des Steinkreises erreichte. Sofort schloss sich hinter ihr der Durchgang. Es gab kein Zurück mehr.

Eisige Kälte hüllte sie ein und linderte den Schmerz. Aber auch der Schmerz war eine Illusion gewesen. Amber war am Ende ihrer Kräfte. Mühsam rappelte sie sich auf. Alles wirkte friedlich, tödlich friedlich. Kein Laut drang zu ihr, keine Luftbewegung nahm sie wahr, keinen Geruch. Als befände sie sich in einem Vakuum, in dem kein Platz für Leben existierte. Die Zeit schien stillzustehen. Am Horizont loderten Feuer auf den Bergen, die das Rot des Himmels speisten.

Oft hatte sie von diesem Ort geträumt und nun war sie hier. Am Ende des Dämonenpfades lag die Schattenwelt. Revenants Welt. Ihr Schicksal und seins waren miteinander verwoben.

Amber drehte sich im Kreis und stellte fest, dass alles hier Clava Cairn fast bis ins Detail glich. Nur waren die riesigen Menhire nicht verwittert, sondern sahen glatt aus, als kämen sie eben erst aus der Werkstatt eines Steinmetzes. Waagerechte Decksteine verbanden die einzelnen Menhire und bildeten ein schützendes Dach. Imposanter als Stonehenge. Im Zentrum befand sich ein Druidenaltar, umgeben von zahlreichen Fackeln. Es war ein Blick in die Vergangenheit. So musste dieser Platz einst ausgesehen haben.

Amber vergaß ihre Furcht und ging darauf zu. Sie streckte die Hand aus, um den behauenen Stein zu berühren, aber ihre Hand griff ins Leere. Auch das hier entsprang einer von Dämonen erschaffenen Illusion.

Sie fuhr zusammen, als sich ein Schatten aus einem der Steine löste und hinter ihr vorbeihuschte. Sie waren hier, beobachteten sie noch immer. Die Menhire begannen, zu flüstern. Obwohl sie es nicht verstand, klang es bedrohlich. Was würde als Nächstes geschehen? Weshalb erwachte sie nicht aus der Trance, wenn sie das Ziel erreicht hatte?

„Was soll das Versteckspiel? Warum greift ihr nicht endlich an?“, rief sie und drehte sich im Kreis. Eine Schmerzwelle erfasste ihren Arm, als wäre das die Antwort der Dämonen auf ihre Frage. Sie biss vor Schmerz in ihre Unterlippe.

„Amber.“

Da war wieder Aidans Stimme. „Aidan, wo bist du? Ist dein Geist wirklich hier?“

Er tauchte zwischen den Menhiren plötzlich aus dem Nichts auf, eine fluoreszierende Erscheinung.

„Amber, endlich bist du hier. Jede Hoffnung darauf hatte ich aufgegeben. Ich habe mich so danach gesehnt“, sagte er und streckte die Arme nach ihr aus.

In seinem Blick lagen Qual und Schmerz. Sie ging auf ihn zu, um ihn zu umarmen, aber auch durch ihn griff sie hindurch.

„Oh, Aidan, was …?“ Ihre Stimme zitterte. Sie schlug die Hand vors Gesicht und wich entsetzt zurück. Seine Gesichtszüge begannen, sich zu verändern, das Haar wechselte zu blond, und seine Lippen verzogen sich zu einem zynischen Grinsen.

Es war Revenant, dem sie gegenüberstand.

„Nein!“, rief sie und hob abwehrend die Arme. Schon verwandelte er sich wieder zurück in Aidan.

„Amber, ich bin gekommen, um dir zu zeigen, wer ich wirklich bin. Wir sind eins geworden, der Dunkle Lord und ich“, antwortete er und näherte sich ihr aufs Neue.

Amber wich zurück. „Nein, Aidan, das ist eine Illusion.“

„Das ist es nicht. Nur hier kannst du alles verstehen. Die Welten beginnen, sich zu vermischen.“

„Das darf niemals geschehen. Lass nicht zu, dass Revenant diese Macht ausübt. Ich weiß es, du kannst dich von ihm lösen. Gemeinsam können wir das verhindern.“

„Zu spät, Amber, zu spät.“

„Es ist nie zu spät. Du musst an dich und uns glauben. Dann schaffst du es.“

Wie gern hätte sie ihn in diesem Augenblick umarmt, getröstet. Selbst ihr Leben würde sie für ihn geben, um seine Seele von der Schattenwelt zu lösen.

„Nein, Amber, es gibt keine Hoffnung mehr für mich. Ich gehöre jetzt hierher, zu Revenant. Du wirst das Verschmelzen der Welten nicht verhindern.“

„Nein, Aidan! Hör auf damit.“

Schon spürte sie wieder, wie Aidans Geist entglitt und Revenant seinen Platz einnahm. Sein Lachen dröhnte in ihren Ohren.

„Lass ihn endlich gehen. Du kannst das Schicksal nicht aufhalten“, forderte er und sah sie drohend an.

„Niemals!“ Amber zitterte am ganzen Körper. „Verflucht, Aidan, kämpfe und komm zurück.“

Revenants Züge verwischten und nahmen Aidans an. „Revenant hat recht, Amber, sein und mein Schicksal verschmelzen.“

„Ich gebe dich nicht auf! Selbst wenn ich allein gegen Revenant kämpfen muss. Hast du gehört, William Macfarlane? Ich werde dich bekämpfen.“

Ein eiskalter Wind blies sie fast um. Sie schwankte, konnte sich aber noch abfangen. Als sie aufsah, hatte sie wieder Revenant vor sich. In seinen Augen lag Begehren. Hass loderte in ihr auf, weil er noch immer Einfluss auf ihre Welt besaß, selbst in der Schattenwelt. Alles würde sie daran setzen, selbst ihr Leben dafür geben, ihn für alle Zeiten auszulöschen, um die Menschen vor ihm zu bewahren.

„Du wirst mich nie besiegen, selbst wenn deine Kräfte weiter wachsen. Es hat keinen Sinn, sich zu wehren. Der Warrior wird mich begleiten. Wir sind vom gleichen Blut.“ Er lächelte siegesgewiss.

„Nein!“, schleuderte sie ihm entgegen.

Bei Gott, sie hasste diese abscheuliche Kreatur, die allen Schmerz an die Oberfläche rief, den sie mühsam unterdrückte. Eine Woge der Verzweiflung erfasste sie.

„Eines Tages wirst auch du zu uns gehören, Amber.“

Am liebsten hätte sie sich auf ihn gestürzt. „Das wird nie geschehen, das schwöre ich, bei allen Geistern“, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

Amber wunderte sich darüber, wie fest ihre Stimme klang, trotz ihrer Erregung. Sie streckte ihr Kinn vor und erwiderte Revenants bohrenden Blick, obwohl ihre Knie vor Angst schlotterten. Er beugte sich zu ihr vor. Fast glaubte sie, durch seinen eisigen Atem zu erstarren, trotz des brodelnden Vulkans an Emotionen in ihr.

„Irgendwann wirst du begreifen, dass du keine Chance gegen mich hast, Tochter des Windes. Niemand kann mir entkommen.“

Nach diesen Worten wandte er sich ab und schwebte zu den Menhiren.

„Ich hasse dich! Aidan, komm zurück! Du darfst nicht mit ihm gehen!“, rief sie voller Verzweiflung.

Wenn sie ihn jetzt nicht zurückhielt, war er für immer verloren.

Als sie ansetzte, ihm nachzulaufen, versagten ihre Beine. Etwas drückte gegen ihren Rücken. Sie spürte Finger, die sich in ihren Körper bohrten und etwas, das in sie hineinschlüpfte. Ihr Herz raste und drohte, zu kollabieren. Revenant, Aidan, die Begegnung mit ihnen waren Visionen der Dämonen gewesen, um sie von einem Angriff abzulenken. Und sie war so blöd gewesen, darauf hereinzufallen. Diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Jetzt beherrschte ein Dämon ihren Körper.

Nichts hatte sie gelernt, rein gar nichts.

Amber stürzte zu Boden und wand sich. Sie hatte das Gefühl, als schnitte ein Messer durch ihre Gedärme. Krämpfe schüttelten ihren Leib, ein Gurgeln entrang sich ihrer Kehle. Schaum trat aus ihrem Mund. Sie hatte sich nie hilfloser gefühlt als in diesem Moment. Wenn ihr doch nur die Verbannungsworte einfallen würden!

Ihre Fingernägel gruben sich in den Boden. Sie würde nicht aufgeben, sondern sich bis zum letzten Atemzug zur Wehr setzen. Wild schlug sie um sich. Jetzt erreichte der Dämon ihr Herz und quetschte es wie eine saftige Frucht aus.

Amber brüllte den Schmerz hinaus und konnte nicht mehr aufhören. Er stach ihr seine Krallen ins Herz.

Die Verbannungsworte … Zeit …

Alles begann, sich zu drehen, immer schneller und schneller, bis der Strudel sie in die Dunkelheit riss.

Mond der verlorenen Seelen

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