Читать книгу Mond der verlorenen Seelen - Kim Landers - Страница 6

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Mitten in der Nacht wachte Amber durch den Sturm auf, der ums Schloss heulte und den Regen gegen die Fensterscheiben peitschte. Unaufhörlich erhellten Blitze den Himmel und Donner grollte. Aber das war es nicht allein, was sie geweckt hatte, sondern das Geräusch von Schritten auf dem Dach. Jetzt war sie hellwach. Unmöglich, sie musste sich irren. Bestimmt war irgendwo eine Schindel locker und klapperte. Ein Schatten huschte mit einem leisen Surren am Fenster vorbei, wie ein flatternder Schal. Ein Hauch eisiger Kälte, den er wie einen Kometenschweif hinter sich herzog, durchdrang das Mauerwerk und hüllte sie ein. Die Kälte der Schattenwelt. Amber schauderte. Sollten sich ihre Ahnungen der letzten Tage bewahrheiten? Ihre quälenden Visionen von Dämonen, die durch das Tor dringen und ihre skelettierten Hände ausstrecken, um Seelen in die Schattenwelt zu entführen?

„Aidan? Aidan, hast du das gehört?“, flüsterte sie.

Aidan antwortete nicht.

Ihre Hand betastete die andere Betthälfte. Sie war leer, wie jede Nacht. Auch heute war er dem Ruf der Schattenwelt in die Dunkelheit gefolgt. Was hätte sie in diesem Moment darum gegeben, ihn an ihrer Seite zu wissen. Aber sie musste sich an seine nächtlichen Streifzüge gewöhnen, wenn sie mit ihm leben wollte. War er wirklich zum Vampir geworden? Sie mochte nicht daran glauben und klammerte sich an die Hoffnung, seine Worte würden sich nicht bewahrheiten. Und doch, die Unruhe, die ihn bei Einbruch der Dämmerung erfasste, sprach dafür. Wenn er sich wie ein wildes Tier gebärdete, das man seiner Freiheit beraubt und in einen Käfig gesperrt hatte, und das nun mit aller Macht hinausdrängte.

Es bedeutete, ihn gehen zu lassen, so schwer ihr das auch fiel.

Er ließ sie mit ihrem Zweifel zurück.

Wenn sie sich nur nicht so verflucht einsam fühlen würde. Aus Liebe hatte sie sich entschieden, alles mit ihm durchzustehen, ohne zu ahnen, wie hart das Schicksal sie damit auf die Probe stellen würde.

Sie sprang aus dem Bett und rannte zum Fenster. Der gegenüberliegende Schlossflügel, den ihre Mutter und Kevin bewohnten, war dunkel, ebenso die Dachwohnung des Brennereiverwalters. Blitze zeichneten für Sekundenbruchteile spitze Streifen auf das patinabedeckte Schindeldach. Der Wind pfiff durch die Ritzen des alten Gemäuers. Amber fröstelte und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch wenn ihr der Verstand sagte, es war die Schattenwelt, die ihn veränderte und sein Verhalten bestimmte, fiel es ihr schwer, das zu akzeptieren. Sein verwandeltes Wesen lehrte sie Angst vor der gemeinsamen Zukunft.

Eine Bewegung auf dem Dach unterbrach ihre Gedanken. Amber verengte die Augen, um besser erkennen zu können. Eine Gestalt lief leichtfüßig das steile Dach hinauf, als spaziere sie auf einer Straße. Also hatte sie sich die Schritte nicht eingebildet. Wer oder was zur Hölle war das? Sie schloss die Augen. So etwas gab es nicht, höchstens in Filmen. Aber als sie die Augen wieder öffnete, war die Gestalt noch immer da. Auf der Dachspitze angekommen, balancierte sie mit ausgebreiteten Armen, ohne sich an dem Unwetter zu stören. Amber erstarrte, als sich durch den Blitz eine Silhouette abzeichnete.

Aidan!

Das konnte nicht sein. Sie zwickte sich in den Arm, um zu prüfen, dass sie nicht träumte. Ungeduldig wartete sie auf den nächsten Blitz. Aber da war niemand mehr zu sehen.

Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Was wusste sie schon von Vampiren? Nur das, was sie aus der einschlägigen Literatur kannte. Blut trinken und Unsterblichkeit fielen ihr dazu ein. Aber dass Vampire bei einem Unwetter auf Dächern herumturnten, davon stand kein Wort geschrieben.

Plötzlich erklangen die Schritte genau über ihr. Erschrocken sprintete Amber zurück ins Bett und verkroch sich unter der Decke. Das konnte nicht Aidan sein. Der würde sie niemals so erschrecken. Und wenn es ein Werwolf war? Oder doch ein Dämon? Bloß nicht. Nein, ihr Gefühl sagte ihr: Es war Aidan. Weshalb zögerte sie dann, nachzusehen?

Stille.

Angespannt lag sie im Bett und horchte. Wieso kam er nicht zu ihr?

Ein gewaltiger Donnerschlag ließ sie zusammenzucken. Normalerweise fürchtete sie sich nicht vor Gewitter, aber heute war alles anders. Eine neue, beängstigende Wende bahnte sich in ihrem Leben an.

Vielleicht wollte sie gar nicht mit der Wahrheit konfrontiert werden? Wie würde sie reagieren, wenn er ihr blutverschmiert gegenüberträte? Sie wusste es nicht.

Wenn es hell war, fühlte sie sich sicherer. Sie drückte den Schalter der Nachttischlampe an. Der klackte zwar, aber es blieb dunkel. Das nicht auch noch. Bestimmt war eine Sicherung raus. Amber krabbelte aus dem Bett und verharrte einen Moment, bevor sie auf Zehenspitzen zur Tür schlich. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Als wenn sie etwas Verbotenes tat.

Vampire verfügten über ein sehr gutes Gehör. Das hatte sie in einem der vielen Bücher gelesen. Dann müsste Aidan sie eigentlich hören. Auch durch Mauern? Der Dielenboden knarrte bei jedem Schritt. Mit zitternden Händen kramte sie in der Schublade der Kommode nach der Taschenlampe. Wenigstens funktionierte diese. Beim leisesten Knacken des Gebälks fuhr sie zusammen. Und wenn er vielleicht vom Dach abgerutscht und ihm etwas geschehen war?

Herrgott, er war ein Vampir, dem das Wetter nichts ausmacht. Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Schläfe. Aber es wollte nicht in ihren Kopf, obwohl ihr Gefühl es bestätigte. Wie viele Beweise wollte sie noch? Seine bleiche, kalte Haut, seine nächtlichen Ausflüge, bewiesen genug. Dennoch musste sie es mit eigenen Augen sehen, um es zu glauben und den letzten Zweifel auszuräumen.

Barfuß lief sie die ausladende Treppe hinunter, die zum Eingangssalon führte und an dessen Ende sich das Hauptportal befand. Draußen rannte jemand über den Kies. Amber stoppte und versuchte, ruhig zu atmen. War es tatsächlich Aidan, der da draußen lief? Was trieb er? Jagte er etwas? Sie musste es endlich wissen.

Ein letztes Mal schluckte sie gegen aufsteigende Übelkeit an, bevor sie mit einem Ruck die Tür aufriss. Ein Regenschwall schlug ihr entgegen und durchnässte ihren Pyjama. In dem dichten Regenvorhang war es schwer, etwas zu erkennen, und sie fror entsetzlich. Ein Blitz erhellte den Vorhof des Schlosses, und da sah sie ihn.

Er stand unter einer Platane, nur wenige Schritte von ihr entfernt und wendete sich ihr zu. In seiner Miene lag eine Wildheit, wie man sie nur bei einem Raubtier beobachtet, das sich kurz vor dem Sprung auf seine Beute befindet. Seine Augen glühten rot, und zwei spitze Eckzähne ragten aus seinem Mund. Aidan war tatsächlich ein Vampir.

Amber glaubte in diesem Augenblick, alles Blut sacke in ihre Beine, und ihr Herz setze aus. Der Boden unter ihren Füßen schien nachzugeben, und alles begann, sich zu drehen. Ihn so zu sehen, haute sie um. Die Gewissheit über sein Wesen zerschlug den letzten Rest Hoffnung.

Sie schwankte, ihre Knie knickten ein. Ihre Arme suchten nach einem Halt, griffen ins Leere. Bevor sie zu Boden stürzte, fing er sie auf. Seine Arme hielten sie mit der gewohnten Sanftheit.

„Mein Gott, Amber. Was machst du hier?“, hörte sie seine Stimme, die wie durch Watte zu ihr drang.

„Ich hörte … Schritte auf dem Dach. Und du … warst nicht da.“ In ihrem Kopf herrschte ein einziges Chaos. Vampir! Vampir!

„Und du hast nach mir gesucht?“

Sie nickte. Als er sich über sie beugte, war das Glühen verschwunden und ein liebevoller Ausdruck lag in seinem Blick, der sie wärmte und ihre aufgewühlten Nerven beruhigte. Nur die Spitzen seiner Zähne lugten noch unter der Oberlippe hervor.

„Du bist wirklich ein Vampir“, flüsterte sie und lächelte bitter.

„Ja, und deshalb darfst du mir nie folgen. Das ist gefährlich, gerade jetzt.“ Er sagte es mit solcher Eindringlichkeit, dass sie ihm nicht widersprach.

„Ich habe wieder diese Kälte gespürt, wie damals und doch anders“, stammelte sie.

„Vielleicht ein Dämon. Aber wir werden es herausfinden. Jetzt musst du erst mal aus dem nassen Zeug raus.“

Mit einem Fußtritt schloss er die Tür hinter sich, hob Amber auf die Arme und trug sie die Treppe hinauf. Sie lehnte ihren Kopf an seine nasse Schulter.

„Du bist von mir entsetzt, nicht wahr?“ In seiner Stimme schwang Unsicherheit.

„Ich war irgendwie nicht richtig darauf vorbereitet, aber ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen.“

„Und ich muss mich mit meinem Vampirdasein arrangieren. Bitte gib mir Zeit.“

„Ja, Aidan, alle Zeit der Welt. Aber habe auch du Verständnis dafür, dass ich mit allem klarkommen muss, vor allem nachts allein zu sein.“

Anstelle einer Antwort presste er sie an sich und küsste sie zärtlich auf den Mund.

Mond der verlorenen Seelen

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