Читать книгу Herzsplitter - Kirsten Brünjes - Страница 10
ОглавлениеDebbie
„Debbie, du musst nicht die Welt retten! Die dreht sich auch weiter, wenn du einfach erst mal ankommst.“
Ich bin auf dem Weg nach Hause und sortiere die Eindrücke des Tages … Die Lehrer scheinen recht okay zu sein. In den meisten Fächern komme ich gut mit. Nur in Englisch sind sie in der neuen Klasse weiter. Ich werde gleich morgen die Lehrerin fragen, ob ich die fehlenden Unterlagen bekommen kann.
Die meisten Schüler haben mich kaum wahrgenommen. Das ist doof. Ich habe zwar nicht erwartet, dass ich direkt mit offenen Armen empfangen werde, aber so gar nichts – das tut weh. Schmerzlich sehne ich mich nach meiner alten Klasse zurück. Was hätte ich heute alles mit meinen Mädels bequatscht. Meine geliebte große Pause an den alten Bäumen mit meinen Freundinnen und guten Gesprächen, das fehlt mir so sehr. Okay, Sophia hat sich in einer Pause mit mir unterhalten. Vielleicht ist das ja ein Anfang …
Aber die meisten Gedanken mache ich mir jetzt über Charlotte. Ich bin mir ganz sicher, dass sie jemanden zum Reden braucht! Ich würde gerne dieser Jemand sein. Ich finde, sie ist sehr hübsch mit ihren wilden Locken. Aber warum hat sie mich so grob behandelt? Warum hat sie zuerst meine Hilfe in Mathe angenommen und mich danach beschimpft?
Ich bin die letzte von uns drei Geschwistern, die an diesem ersten Schultag nach Hause kommt. Aaron sitzt in der Küche und macht Hausaufgaben. Mama steht am Herd und kocht. Als ich hereinkomme, legt Mama das Gemüse zur Seite und wäscht sich die Hände. Dann nimmt sie mich lange in den Arm. Ich merke, wie gut das tut und wie die Anspannung des Vormittags von mir abfällt. Mama wartet, bis ich mich aus der Umarmung löse. Dann setze ich mich an den Küchentisch, auf dem ein Teller Gebäck und eine kleine Holzkiste mit verschiedenen Teesorten steht, daneben eine Kanne mit heißem Wasser. Ich suche mir einen Teebeutel aus und gieße mir den Tee auf.
„Fertig!“, ruft Aaron. „Kannst nachgucken, Mama. Alles richtig!“ Dann schaut er mich erwartungsvoll an. „Und, Debbie, wie war dein Tag heute?“
Ich schmunzele. Eigentlich stellt Mama diese Frage immer. Aaron nickt mir kurz zu, dann stützt er seinen Kopf in die Hände und wartet drei Sekunden – eindeutig zu lang für ihn. „Dann fang ich mal an“, sagt er, „du denkst ja noch! Also, mein Tag war richtig, richtig gut. Meine Lehrerin heißt Frau Braun und sie sieht sehr schön aus. Aber braun ist die gar nicht, die heißt nur so.“ Aaron lacht über seinen Witz.
Sein Lachen ist so ansteckend, dass Mama und ich mitlachen müssen.
Während Mama Aarons Hausaufgaben durchsieht, erzählt Aaron weiter. „Ich habe schon zwei Freunde! Der eine ist Jona. Der sitzt neben mir. Ja, und in der Pause habe ich deinen Trick gemacht, Debbie, und das hat super geklappt! Ich hab mich hingestellt und alles genau angeguckt. Mein anderer Freund ist ein Mädchen und die heißt Nina. Die hat nämlich auch nur geguckt, so wie ich. Die anderen Kinder haben ‚Mädchen fangen die Jungs‘ gespielt. Und dann habe ich sie einfach gefragt, ob wir zusammen gucken wollen!“ Aaron strahlt.
Ich muss grinsen, als ich mir vorstelle, dass mein kleiner Bruder sich zum Gucken verabredet hat. „Dann habt ihr ja doch nur rumgestanden!“, necke ich ihn.
Aaron nickt. „Ja, zuerst schon. Aber ich hab dir doch gesagt: Rumstehen ist langweiliger als Spielen, also haben wir in der zweiten Pause mit einem Ball gespielt. Das war schön! Und in der Klasse haben wir auch gespielt, damit ich alle kennenlerne – und die mich. Das war voll lustig.“ Aaron springt von seinem Stuhl auf. „Und jetzt geh ich Autos spielen, okay, Mama?“
Mama packt Aarons Hefte zusammen. „Das ist eine gute Idee. Die Aufgaben sind richtig. Pack noch alles ordentlich ein und dann hast du frei.“
Aaron reißt eine Faust in die Höhe. „Yeah, frei!“ Und schon ist er aus der Küche gestürmt.
Mama macht sich auch einen Tee. „Und, wie war dein erster Tag, Debbie? Aaron hat deine Antwort gar nicht abgewartet.“
„Ist vielleicht besser so“, seufze ich und puste in meinen Tee. „Ich will ihm nicht die gute Laune verderben.“
„War’s so schlimm?“ Mama runzelt die Stirn.
Ich schüttele den Kopf. „Nein. Die Lehrer sind okay. Außer in Englisch komme ich gut mit. Wir haben auch eine Vorstellungsrunde gemacht. Aber mein Kennenlern-Trick hat irgendwie nicht funktioniert. Ich habe mich neben ein Mädchen gesetzt, der ich gerne ein bisschen helfen würde. Zuerst war das auch gut, aber dann ist sie sehr unfreundlich geworden. Und in den Pausen hat sich nur ein Mädchen aus meiner Klasse für mich interessiert.“
Mama nimmt einen Schluck Tee. „Klingt jetzt erst mal nicht so schlecht für den Anfang, finde ich.“ Sie überlegt einen Moment, bevor sie weiterredet. „Und was deine Beobachtung angeht: Ich glaube nicht, dass du das Mädchen falsch einschätzt. Du hast ein gutes Gefühl für Menschen. Kann es sein, dass sie mit deiner Freundlichkeit und Offenheit überfordert war? Ihr seid Teenager, da ist man schon mal etwas stachelig.“
„Wahrscheinlich hast du recht – wie immer!“, sage ich etwas spitz. Eigentlich mag ich es, wenn Mama die Sachen beim Namen nennen kann. Aber manchmal möchte ich auch bedauert werden. Ich nehme meinen Tee und stehe auf. „Ich vermisse meine Mädels halt. Ein neuer Anfang nervt voll. Ich frag Hannah mal, wie’s bei ihr so war.“
Als ich in unser Zimmer komme, sitzt Hannah an ihrem Schreibtisch und malt. Neben ihr liegt ihr Handy und blinkt immer mal wieder auf. Ich schleiche leise an ihr vorbei und setze mich an meinen Schreibtisch, der dem von Hannah gegenübersteht. Jetzt kann ich erkennen, dass meine Schwester Kopfhörer in den Ohren hat. Ich beobachte interessiert, wie sie sich in das Bild vertieft. Hannah kann gut malen – sie hat ein Talent, das an mir komplett vorbeigegangen ist. Ich mag es, Hannah einfach beim Malen zuzuschauen.
Plötzlich blickt sie auf und zuckt zusammen. „Man, bist du irre, mich so zu erschrecken? Kannst du nicht Bescheid sagen, wenn du hier reinkommst?“
Ich lache. „Nee, dann guckst du nicht mehr so verträumt!“
Hannah wirft gleich mehrere Stifte nach mir. Ich versuche, meinen Tee zu retten und ducke mich, fische ein paar Stifte vom Boden und werfe zurück.
Hannah springt auf. „Du willst dich nicht mit mir anlegen. Nein, das willst du nicht!“, sagt sie und versucht dabei, gefährlich zu klingen.
Schnell laufe ich auf den Kissenberg zu, der noch immer auf dem Zimmerboden liegt, und lasse mich rückwärts hineinfallen. „Hilfe! Ich ergebe mich!“, rufe ich lachend und breite die Arme aus.
Hannah grinst und schmeißt sich dann auf mich drauf. Ihr Gewicht lässt mich laut aufstöhnen. Dann rollt sie sich von meinem Bauch runter. „Das ist fürs Erschrecken!“, sagte sie. „Und nun hau schon raus. Wie war dein Tag – von eins bis zehn?“
Ich atme durch, rappele mich wieder hoch und freue mich, mit Hannah zusammen zu sein. Auch wenn wir immer mal wieder aneinandergeraten, weiß ich, dass Momente wie diese dafür mehr als entschädigen.
„Na, was? Willste nix erzählen?“, drängt mich meine Schwester.
„Na ja, auf der Eins-bis-zehn-Skala war es irgendwie … fünf, würde ich sagen! Es war komisch. Aber nicht witzig, sondern komisch. Sonderbar-komisch.“
„Ja, sonderbar. Das trifft es“, stimmt Hannah mir zu und legt sich in meinen Arm. „Also, ich habe den sonderbarsten Klassenlehrer der Welt. Er hat schon einen sonderbaren Namen, ‚Mertmann-Rodetzky‘. Wie kann man nur so heißen? Dann hat er Haare wie diese Schwämme, die Mama immer für die Töpfe nimmt, so graue Drahtlocken. Er redet mit einer ganz hohen Stimme und sagt mindestens in jedem zweiten Satz ‚quasi‘. Was soll das überhaupt heißen – ‚quasi‘? Also ich wohne jetzt quasi hier. Da ich ja auch unquasi hier wohne, kann das Wort doch weg, oder? Ein absolut unnötiges Füllwort, wie die Suppe beim Chinesen. Wenn du die isst, bist du satt, und das vollkommen unnötig, denn das gute Essen kommt ja erst noch.“
Ich verschlucke mich vor Lachen, weil ich mir Hannahs Drahtschwamm-Locken-Lehrer in einem China-Restaurant vorstelle. Das ist zwar irgendwie albern, aber es hilft ungemein, den Frust des Tages loszuwerden.
Hannah wartet meinen Lachflash ab und schaut mich dann auffordernd an. „So, jetzt aber du: Was war denn bei dir so sonderbar-komisch?“
„Ich glaub, die Klasse ist sonderbar“, sage ich. „Irgendwie sind da so viele Grüppchen. Da gibt es die Schönen, die Chaoten, die Unscheinbaren und die Geheimnisvollen …“
Hannah klopft mir auf den Bauch. „Total normal! So ist Schule immer. Das ist null sonderbar!“
„Schon, aber normalerweise kriege ich das gut einsortiert. Ich irre mich selten, wenn ich einen Menschen vor mir habe. Aber heute … Da ist eine Mitschülerin, neben der ich auch sitze, die wirkt so, als ob sie Hilfe braucht. Also habe ich ihr bei Mathe geholfen, weil sie keinen blassen Schimmer hatte. Und weil sie über Kopfschmerzen geklagt hat, hab ich ihr ’ne Tablette angeboten. Und zum Dank hat sie mich angezickt.“ Ich merke wieder, wie der Frust in mir hochsteigt, wie sehr mich die Reaktion von Charlotte verletzt hat.
Hannah setzt sich im Schneidersitz vor mich hin und schaut mir in die Augen. „Debbie, du musst nicht die Welt retten!“, sagt sie. „Die dreht sich auch weiter, wenn du einfach erst mal ankommst. Und du brauchst auch niemandem zu beweisen, wie nett du bist. Das merken die schon von ganz alleine. Bleib einfach locker. Das wird schon.“
Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Ich fühle mich irgendwie ertappt.