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Debbie

Können wir das mit dem Abschied nicht so endgültig machen, bitte?

Mit einem lauten Knall schlägt die Tür des Umzugswagens zu. Ich blicke traurig auf die Hausfront, hinter der so lange mein Zuhause lag.

Sanft legt sich eine Hand auf meine Schulter. „Wenn an einer Stelle eine Tür zugeht, öffnet sich eine neue – ganz bestimmt, mein Schatz!“ Papa drückt mir einen Kuss auf die Stirn.

Ich merke, wie meine Augen feucht werden. Wie blöd! Langsam rollen ein paar Tränen über meine Wangen und ich drücke mein Gesicht tief in Papas Jacke. Mama, mein kleiner Bruder Aaron und Hannah, meine zwei Jahre jüngere Schwester, kommen die Treppe herunter.

„Kommt, wir müssen los, sonst sind wir zu spät im Gottesdienst!“, ruft Mama und schwenkt den Autoschlüssel.

„Geht’s wieder?“ Papa schaut mir in die Augen.

Ich nicke tapfer. Ja, es geht. Es geht immer weiter, das weiß ich. Ich habe in meinem Leben schon oft erlebt, dass es weitergehen musste. So ein Umzug wird mich nicht aus der Bahn werfen! Ich habe vor drei Jahren einen heftigen Autounfall überlebt, sehr schwer verletzt. Als ich im Koma lag, hat niemand geglaubt, dass ich je wieder gesund werde. Nein, das stimmt nicht. Meine Familie und Freunde aus der Gemeinde haben schon daran geglaubt. Sie haben nicht aufgegeben, sondern gebetet, Geld gesammelt, während meiner langen Krankenhauszeit für meine Family Essen gekocht und meine beiden Geschwister versorgt. Ich weiß, dass ich mich auf diese Leute zu hundert Prozent verlassen kann! Und genau das macht es so schwierig, von hier wegzuziehen. Deshalb tut es so weh mit dem Neuanfang in einer anderen Stadt.

Es gab eine Zeit in meinem Leben, da konnte ich nicht laufen und kaum sprechen, da hat mir eine total einfache Frage schon Kopfschmerzen bereitet. Aber meine Freunde und meine Gemeinde waren immer da. Jetzt kann ich wieder laufen, sogar ein wenig Sport machen. Und ich bin Klassenbeste. Aber ich kann meine Freunde und meine Gemeinde leider nicht mitnehmen an den neuen Wohnort.

„Ja, alles klar“, sage ich und versuche zu lächeln. „Es kann losgehen. Meinen letzten Gottesdienst hier will ich auf keinen Fall verpassen!“

Mein kleiner achtjähriger Bruder Aaron nimmt meine Hand. „Das ist nicht der letzte, Debbie! Wir kommen doch zu Besuch wieder hierher. Wir müssen nach Oma gucken, und ich will wissen, wie groß der Apfelbaum ist, den ich letztes Jahr mit Papa gepflanzt habe. Ist doch logisch!“

Ich drücke Aarons Hand fest. „Na klar. Wie konnte ich das vergessen.“

Aaron kichert. „Genau. Du vergisst doch nie was.“

Zwanzig Minuten später sitzen wir im Gottesdienst. Ich entspanne bei den Liedern, die ich so gut kenne, schließe die Augen für ein stilles Gebet. ‚Weißt du, Daddy im Himmel, wie dankbar ich für die Menschen hier bin? Klar weißt du das. Du hast das ja gemacht! Bitte pass gut auf alle hier auf. Und pass auch gut auf uns auf!‘

Die Musik ist verklungen. Unser Pastor fängt an zu reden:

„In dieser Woche ist mir etwas besonders wichtig geworden. Jesus sagt in der Bibel zu seinen Freunden: ‚In der Welt habt ihr Angst, aber seid getröstet, ich habe die Welt überwunden.‘ Ein tröstlicher Vers! Weil Jesus hier auf der Welt gelebt hat, weiß er auch, wie wir denken und fühlen, was wir zu bewältigen haben. Und er ist stärker als alles, was uns begegnet.“

Ein Satz aus der Predigt hakt sich besonders in mir fest: „Egal, wo wir sind, egal, was gerade unsere Lebensaufgabe ist: Wir dürfen immer auf ihn zählen! Und das können wir am besten, wenn wir eng mit Jesus verbunden bleiben.“

Ich bleibe an den Worten „egal, wo“ hängen.

Wie wird das alles wohl werden in der neuen Stadt, in der neuen Schule, in der neuen Wohnung, in der neuen Gemeinde? Nein, ich habe keine Angst, aber unsicher bin ich schon irgendwie. Ich weiß schon jetzt ganz genau, dass ich alles hier ganz doll vermissen werde! Aber Jesus, den kann ich mitnehmen. An dem ändert sich nichts, und das ist schon mal eine sehr gute Sache.

Direkt im Anschluss an die Predigt werden wir als Familie gesegnet. Mama, Papa, Hannah, Aaron und ich stellen uns ganz dicht zusammen, und dann beten einige Leute für uns. Das fühlt sich richtig gut an.

Nach dem Gottesdienst kommen Emelie, Mila, Lissie und Jasmin aus meinem Jugendkreis auf mich zu. Sie ziehen mich in unseren wunderschönen Jugendraum.

„Hi, Debbie, ich habe dir einen Lampenschirm beklebt mit ganzen vielen Fotos!“ Emelie lächelt erwartungsvoll und überreicht mir eine kleine Reispapier-Stehlampe, die liebevoll verziert ist.

Ich freue mich riesig und wir lachen gemeinsam über die Bilder.

„Hier, das war beim Jugendtag letztes Jahr“, kichert Lissie, „die Wasserrutsche mit Müllsackdress. Das war mega! Und hier …“ – sie zeigt auf ein weiteres Bild – „Milas Geburtstag mit der Poolparty am Gartenteich! Nur blöd, dass man vor lauter Algen gar nicht drin schwimmen konnte.“ Sie zwinkert Mila verschmitzt zu.

„Hey, wolltet ihr jetzt eine Poolparty, oder nicht?“ Mila knufft Lissie in die Seite. „Niemand von uns hat einen Pool im Garten, aber meine Oma den schönsten Fischteich!“

Wir haben so viel gemeinsam erlebt. Ich schaue in die vertrauten Gesichter.

„Wir werden dich total vermissen, Debbie“, seufzt Emilie. „Wer hat denn jetzt die Ideen für die Jugendgottesdienste, und wer tritt uns in den Hintern, wenn wir uns mal wieder alle hängen lassen?“ Sie drückt mich fest.

„Und wer korrigiert unsere Mathe-Hausaufgaben und erinnert uns an unsere To-do-Listen?“ Jasmin überreicht mir ein großes Paket. „Hier, mach auf!“

Ich öffne den Karton – schönes Papier, Stifte und eine Stanze liegen darin.

„Das ist vom Jugendkreis. Da kannst du weiter so schöne To-do-Listen für die ganzen neuen Leute basteln. Die werden sich sicher genauso freuen wie wir, wenn sie endlich mal was zu tun kriegen!“ Jasmin grinst über das ganze Gesicht.

„Ach, ihr verrückten Hühner!“ Ich bin schwer gerührt. „Danke, Mädels! Können wir das mit dem Abschied nicht so endgültig machen, bitte? Ich meine, wir bleiben doch in Kontakt! Wir schreiben, telefonieren und besuchen uns, oder?“

„Schon“, sagt Mila, „aber trotzdem bisse nun erst mal weg. Ab morgen gehst du in ’ne andere Schule und dann auch in eine andere Gemeinde, und wir müssen hier jetzt ohne dich klarkommen.“ Sie hält meine Hand.

Könnte dieser Moment nicht einfach ewig dauern?

Später steigen Hannah und ich zu Mama ins Auto. Aaron fährt mit Papa im Umzugswagen. Tschüss, Bremen!, flüstere ich in Gedanken. Es ist ganz still im Auto. All die bekannten Straßen, Häuser und Plätze ziehen an uns vorbei.

Mama räuspert sich, es scheint, als wolle sie jetzt keine gedrückte Stimmung aufkommen lassen. „Na, worauf freut ihr euch in eurem neuen Zuhause? Was nehmt ihr euch vor? Ein Neuanfang ist ja immer eine Chance!“

Hannah lehnt sich zu uns nach vorne. „Also, ich will ordentlicher werden, in der Schule und zu Hause. Und ich möchte unbedingt in eine Malschule. So was gibt’s da, hab ich schon gegoogelt!“

Mama freut sich. „Sehr gut. Wir schauen gleich diese Woche, ob wir einen Platz für dich finden.“ Dann legt Mama ihre Hand auf meinen Oberschenkel. „Und du, Debbie?“

Ich habe mir schon eine Liste gemacht mit all den Dingen, die mir zu Hause in Bremen immer wichtig waren. „Ich glaube, als Erstes möchte ich wieder eine Gemeinde haben und einen Jugendkreis.“

Mama nickt. „Auch sehr gut. Die Gemeinde, die Papa gefunden hat, scheint da vieles zu bieten.“

Es dauert mehr als drei Stunden, bis wir unsere neue Wohnung erreichen. Da Papa schon vor drei Monaten mit seiner Arbeit in der anderen Firma begonnen hat, kennt er schon seine neuen Kollegen. So stehen an diesem Sonntagnachmittag drei Männer vor der Haustür. Papa begrüßt seine Arbeitskollegen freundlich und stellt sie uns vor. Schon nett, dass die uns helfen, obwohl sie Papa kaum kennen. Gemeinsam sind wir die nächsten zwei Stunden damit beschäftigt, die Fahrzeuge auszuräumen. Dann bringt Papa den Lkw in den nächstgrößeren Ort zum Autoverleih, und Mama muss hinterherfahren, um Papa wieder mit zurückzunehmen.

Es ist mittlerweile dunkel geworden. Hannah und ich gehen in unser neues Zimmer. Ich teile es mit ihr, das war in unserer alten Wohnung auch so. Aber das Zimmer hier ist etwas größer. Aaron hat ein kleines Zimmer für sich bekommen. In den letzten Wochen sind wir schon mehrmals hier gewesen und haben unsere Zimmer eingerichtet. So wird die erste Nacht hier hoffentlich nicht so ungewohnt sein wie in einem fast kahlen Zimmer, in dem es vielleicht noch nach frischer Farbe riecht.

Hannah holt alle ihre Kissen aus dem Bett und legt sie in die Zimmermitte. Sie schaut mich ernst an.

„Heute Nacht brauch ich eine Engelstreppe. Das ist die erste Nacht hier. Und morgen fängt die neue Schule an. Hast du Angst, Debbie?“

Ich schüttele den Kopf. Ich weiß, dass Hannahs Lieblingsgeschichte aus der Bibel die Geschichte von Jakob und der Treppe in den Himmel ist. Jakob musste damals von zu Hause fliehen. Er war vollkommen alleine unterwegs, hatte große Angst und mit Sicherheit auch ein mega-schlechtes Gewissen, weil er seinen Bruder betrogen hatte. Aber Gott hatte ihn nicht allein gelassen, sondern ihn beschützt. In einem Traum sah er eine Treppe direkt in den Himmel. Engel kamen zu ihm herunter und gaben ihm neuen Mut. Immer wenn Hannah sich vor etwas fürchtet, baut sie sich mitten im Zimmer einen riesigen Kissenberg und legt sich zum Schlafen darauf. Meist betet sie dann zu Gott und bittet ihn um Mut oder einfach darum, dass die bevorstehende Aufgabe nicht so schwer wird.

Aaron kommt mit Bettdecke, Kissen und Kuscheltier in den Armen zu uns ins Zimmer.

„Darf ich heute bei euch schlafen? Das ist alles so neu hier und das riecht gar nicht wie zu Hause.“

Ich lächle, weil ich daran denke, wie begeistert wir Schwestern waren, als unser kleiner Bruder kam. Wir haben ihn die ersten Jahre wie eine lebendige Puppe behandelt. Als Aaron dann laufen konnte, hatte er sich oft gegen die Puppenbehandlung gewehrt. Heute verstehen wir uns meist gut, auch wenn er deutlich jünger ist und als Junge andere Interessen hat.

„Klar kannst du hier schlafen.“ Hannah zeigt auf ihr Bett. „Das ist frei heute Nacht!“

Aaron nickt nur, auch für ihn sind Hannahs Engelstreppen-Nächte nichts Ungewöhnliches.

Noch sind unsere Eltern nicht zurück, und so bringe ich meinen kleinen Bruder ins Bett, während Hannah im Bad ist.

„Debbie?“ Aaron nimmt seinen großen Stoffhund ganz fest in den Arm. „Wenn ich morgen in die neue Klasse gehe, und keiner mit mir spielen will, was mache ich denn dann?“

Ich streiche ihm eine Locke aus dem Gesicht. „Ich kann dir ja verraten, was ich dann mache. Ich schaue mir die Kinder ganz genau an. Dann merke ich schnell, wer nett ist und mich mitspielen lässt. Man kann nämlich erkennen, wer auch grad einen Freund sucht oder vielleicht Hilfe braucht. Zu solchen Kindern gehe ich dann und spiele mit denen. Das klappt fast immer!“

„Du bist aber schlau, Debbie. Was spielt ihr denn?“ Aaron lächelt.

„Wir spielen nicht mehr, so wie ihr in der zweiten Klasse. Wir stehen einfach zusammen und unterhalten uns oder zeigen uns Fotos auf den Handys. Aber so kannst du das machen. Es funktioniert fürs Spielen genauso wie fürs miteinander Rumstehen“, erkläre ich.

„Nur dass Rumstehen viel langweiliger ist als Spielen“, findet Aaron.

Er dreht sich um und zieht die Decke bis zum Kinn, rollt sich zusammen wie ein kleiner Igel und ist kurz darauf eingeschlafen.

Ich schalte das große Licht aus und die kleine Papier-Lampe von Emelie an. Innerlich bewegt schaue ich mir noch einmal ganz genau die einzelnen Bilder an. Seufzend lass ich mich auf mein Bett sinken. Das wird schon, versuche ich mich aufzumuntern.

Hannah kommt zurück ins Zimmer und drückt mich fest. „Betest du noch mit mir?“

Ich nicke. Wir fassen uns an den Händen und schließen die Augen und ich beginne. „Großer Daddy im Himmel. Danke, dass wir dich überall mit hinnehmen können, dass du überall gleichzeitig bist. Schenk uns morgen einen guten Tag, und hilf uns dabei, schnell neue Freunde zu finden. Amen.“

Hannah ergänzt: „Und mach auch, dass wir gut schlafen und schön träumen. Jesus, du hast auch ganz oft dein Zuhause gewechselt, und hattest immer viele Leute um dich rum. Ich wünsche mir eine gute Freundin. Das wär toll. Amen.“ Hannah schmeißt sich in ihren Kissenhaufen.

Ich gehe ins Badezimmer und schaue mich im Spiegel an. Wenn ich die Haare zur Seite schiebe, kann ich die lange Narbe erkennen, die sich von meinem rechten Ohr bis zum Hinterkopf zieht. Die ist ein sichtbares Zeichen des schweren Verkehrsunfalls, den ich vor drei Jahren hatte. Die Ärzte haben meinen Eltern damals gesagt, dass ich sterben oder behindert aus dem Koma erwachen werde. Aber ich bin gesund! Immer, wenn etwas schwierig ist, schaue ich mir die Narbe an. „Das haben wir geschafft, dann schaffen wir einen Neuanfang hier auch!“ Ich zwinkere meinem Spiegelbild zu.

Als ich aus dem Bad komme, höre ich leise Gespräche aus der Küche – meine Eltern sind zurück. Ich klopfe an die Küchentür und gehe rein.

„Ah, Debbie, danke, dass du Aaron schon ins Bett gebracht hast“, sagt Mama. „Und Hannah schläft auch schon auf ihrem Kissenberg.“ Sie reicht mir eine Tasse mit meinem Lieblingstee. „Alles klar für morgen?“

Ich nehme die Tasse und nicke. „Ja, ich denke schon. Es ist zwar blöd, so ein erster Tag, aber das wird schon.“

„Ganz bestimmt“, ermutigt mich Papa. „Als ich vor drei Monaten hier angefangen habe, da waren die meisten total nett zu mir. Das wünsche ich euch auch morgen in der Schule.“ Er umarmt mich.

Dann nehme ich meinen Tee mit ins Zimmer, sitze noch eine ganze Weile neben meiner neuen Lampe und schreibe in mein Tagebuch. Den letzten Satz betrachte ich immer wieder und verziere ihn mit Stiften aus der Geschenkbox vom Jugendkreis.

„Und ich freu mich drauf, auf diesen Neuanfang! Ganz ehrlich!!“

Herzsplitter

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