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Debbie

Ich brauche eine Idee. Eine Idee bitte! Das klingt wie ein Gebet – na, jedenfalls ein bisschen.

Nach der ersten Woche kann ich die Leute in der Klasse so einigermaßen zuordnen. Es gibt die Schönen und Coolen, die Leisen mit Tiefgang, die Handy-Suchtis und Zocker und so ein paar Unentschiedene. Die Leisen sind mir die Liebsten. Mit den Unentschiedenen komme ich klar, die Schönen und Coolen meide ich und die Zocker finde ich langweilig.

Mit Sophia verbringe ich die meiste Zeit, sie gehört zu den Tiefgang-Leuten. Ich frage mich, ob Leo sie terrorisiert, weil er in sie verliebt ist, oder einfach nur, weil er der Obercoole ist. Am Montag, als ich in die Klasse kam, schmiss er ihre Trinkflasche durch die Gegend und kassierte für die anschließende Show sogar zwei Klassenbucheinträge. Am Mittwoch filmte er sie auf dem Schulhof, und hätte fast den nächsten Eintrag bekommen, nachdem er den Film in die Klassengruppe gestellt hat. Das Video sei aber nur wenige Sekunden sichtbar gewesen, sagen die Suchtis. Sophia hat es zum Glück nicht gesehen. Sie hat echt Angst vor Leos Attacken. Blödmann!

Ich war vorgestern auch zum ersten Mal in der Gemeinde. Die Jugendgruppe trifft sich mittwochs, ist ganz nett, im Vergleich zu unserer Jugend in Bremen aber ziemlich winzig. Es ist irgendwie komisch, mit allen im Kreis zu sitzen und gemeinsam über einen Bibeltext zu sprechen … Aber das wird schon, ich werde mich da schon reinfinden. Zu Hause genieße ich es, dass Papa wieder bei uns ist – oder besser gesagt, dass wir jetzt bei ihm sind. Mit Papa ist es im Alltag lustiger.

Die Mathearbeit vorhin war gut. Das mit den A- und B-Arbeitszetteln ist aber irgendwie gemein. Ich habe Charlotte abschreiben lassen und ihr damit geschadet. Aber das wusste ich ja nicht. Wir haben kaum miteinander gesprochen seit dem Streit am Montag. Das ist komisch, weil wir ja nebeneinandersitzen. Ich weiß aber auch nicht, was ich zu ihr sagen soll. Charlotte will meine Hilfe nicht – und Hannah hat ganz recht: Ich muss nicht jeden retten.

Jetzt nur noch die Doppelstunde Kunst. Kunst hatten wir diese Woche noch nicht. Ich hänge mich an Sophia auf dem Weg zu den Kunsträumen.

„Kunst ist echt schwierig gerade!“, weiht sie mich ein. „Wir sollen ein Bild über unsere Welt malen. Einige nehmen das voll ernst und zeichnen tolle Sachen. Andere haben da keine Lust zu und malen total oberflächlich. Leo hat sein ganzes Bild schwarz gemalt und dann einen Star-Wars-Schriftzug drübergepinselt. So’n Blödsinn lässt der Thimm nie durchgehen!“

„Wer ist Tim?“, frage ich. „So heißt doch niemand bei uns in der Klasse.“

Sophia grinst. „Herr Thimm ist unser Kunstlehrer. Der ist ganz okay. Mit dem kann man reden, über ein Bild oder über das Leben. Nur verarschen lässt der sich nicht. Da wird er richtig sauer!“

Da Verarschen nicht so mein Stil ist, mache ich mir hier erst mal keine Gedanken. Malen ist Hannahs Ding, da bin ich eher schlecht. Aber vielleicht kann ich ja eine Collage basteln. Der Kunstraum riecht wie alle Kunsträume in allen Schulen: nach nassem Papier, Farbe und kaltem Rauch. Wieso rauchen eigentlich Kunstlehrer immer?

Herr Thimm steht an einem Tisch und stellt Skulpturen auf. Sein Gesicht erinnert mich an einen Hundewelpen mit vielen Falten. Ich überlege kurz, ob ich mich vorstelle. Doch ich habe keine Lust dazu und setze mich einfach neben Sophia. Einige packen ihre Zeichenblöcke aus, andere quatschen. Herr Thimm dreht sich zur Klasse herum und lässt seinen Blick über die Schüler schweifen. Bei mir bleiben seine Augen kurz hängen. Aha, zumindest scheint er erkannt zu haben, dass ich neu bin.

„Guten Morgen zusammen!“, begrüßt er uns. „Nun werdet mal ruhiger, packt eure Sachen aus und beginnt mit dem Zeichnen. Einen Rundgang pro Stunde habt ihr, um euch bei den anderen inspirieren zu lassen. Es bleiben euch noch diese und nächste Doppelstunde, bevor ihr eure Bilder abgeben müsst. Na, dann mal los!“

Herr Thimm kommt zu mir und reicht mir die Hand. „Hallo, ich bin Herr Thimm, dein Kunstlehrer.“

Schon komisch, von einem Lehrer mit Handschlag begrüßt zu werden. „Ja, hallo! Ich bin Deborah Gardener“, antworte ich höflich.

„Schön, Deborah, herzlich willkommen“, sagt er, und holt dann aus: „Im Moment haben die Schüler die Aufgabe, ein Bild zum Thema ‚Meine Welt‘ zu malen. Ich möchte in den Bildern etwas von eurer momentanen Situation erkennen können – zu Hause, in der Schule, allgemein oder speziell, das bleibt euch überlassen. Aber ich will was sehen! Jede Stunde kannst du dich bei den anderen umschauen und Ideen für dein eigenes Bild sammeln. Du kannst mit Farben deiner Wahl arbeiten. Fotos oder andere Vorlagen sind nicht erlaubt, alles handmade. Brauchst du irgendetwas an Material, dann findest du vorne auf dem Pult eine Kiste. Na dann, viel Erfolg!“

Also wird das mit der Collage nichts. Ich packe Block und Stifte aus und starre eine Weile auf mein Blatt. Blackout – ich habe null Ideen, was ich da jetzt auf’s Papier bringen soll. Ich beobachte Charlotte, wie sie vor dem Bild eines Jungen an dem vorderen Gruppentisch steht und es ziemlich lange anschaut. Der Typ ist einer von denen aus der Klasse, die nicht so eindeutig zu den Coolen und auch nicht klar zu den Unentschiedenen passen: blonde Haare mit kleinem Zopf hinten, undurchdringlicher Gesichtsausdruck, teure Klamotten. Und wenn er mal was sagt, dann hat das irgendwie Gewicht. Jetzt berührt er Charlottes Hand, nur ganz kurz, dann hat sie sie weggezogen. Aber ich habe es genau gesehen.

„Willst du nicht mal anfangen?“ Sophia reißt mich aus meinen Gedanken.

Ich schaue zu ihr rüber: Sie hat ihr Bild in vier gleich große Teile geteilt. Im ersten Feld hat sie vier Personen gemalt und „Familie“ drübergeschrieben, im zweiten geht es irgendwie um Schule – ich sehe Zahlen und Buchstaben – , und ins dritte Feld malt sie gerade ein Pferd. Das vierte Feld ist noch frei.

Ich brauche eine Idee. Eine Idee bitte! Das klingt wie ein Gebet – na, jedenfalls ein bisschen. Soll ich was aus der Bibel malen? Nee, das will ich grad nicht. Gebet, Bibel, Jugendkreis, Bremen, meine Freundinnen dort, To-do-Liste … Ja, das isses: eine To-do-Liste! Ich male eine To-do-Liste. Das passt zu mir, zu meiner Welt, und schreiben kann ich besser als Malen. Das geht. Meine Mädels aus dem Jugendkreis in Bremen haben mir tolle Sticker geschenkt, die kann ich zwar nicht aufkleben, aber abmalen.

Jetzt, wo ich eine Idee habe, bin ich total motiviert. Bis zum Ende der beiden Stunden komme ich gut voran. Den Rundgang habe ich mir gespart, um mehr Zeit zu haben.

Als die Doppelstunde zu Ende ist, frage ich Herrn Thimm, ob ich das Bild zu Hause fertig malen kann. Denn ich habe ja erst heute begonnen, und nächste Stunde müssen wir schon abgegeben.

„Das brauchst du nicht“, sagt er. „Ich denke, du hast mit dem Ankommen hier genug zu tun. Ich bewerte deine Idee und schaue, was du in den zwei Doppelstunden geschafft hast. Das passt schon. Schönes Wochenende, Deborah!“

Für ihn scheint das kein großes Ding zu sein. Mich stört es aber gewaltig, etwas Halbfertiges abzugeben. Bedeutet „das brauchst du nicht“, dass ich es nicht darf? Ich nehme den Zeichenblock einfach mit nach Hause. Dann kann ich mir das am Wochenende in Ruhe überlegen.

Stimmt, jetzt ist Wochenende. Ich freue mich auf ein erstes, ganz normales Wochenende mit meiner Familie – ohne Umzugsstress. Ich habe nichts vor. Vielleicht sollte ich Sophia fragen, ob sie am Wochenende Zeit hat für eine Verabredung? Zum Glück habe ich ihre Nummer. Und ich bin echt motiviert, etwas für die Schule zu tun, da möchte ich auf keinen Fall den Anschluss verpassen.

Herzsplitter

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