Читать книгу Herzsplitter - Kirsten Brünjes - Страница 5
ОглавлениеCharlie
Das ist einfach ungerecht!
Ich bin hier so überflüssig wie Bauchschmerzen!
Ein lauter Knall lässt mich aus meinen Träumen schrecken. Ich schaue auf mein Handy: halb sieben, und das an einem Sonntag! Damit ist auf jeden Fall geklärt, wo ich heute wach werde. Ein Knall früh um halb sieben bedeutet: Ich habe Papa-Wochenende. „Chelsea-Zeit“, wie mein Vater sagt. Chelsea ist sein Spitzname für mich. Papa ist FC-Chelsea-Fan: Lieblingstochter und Lieblingsverein, früher zumindest war das mal so …
So einen Krach können nur Marlon und Melvin machen.
„Hab ich gar nicht, du Arsch!“, höre ich aus dem Flur.
Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und stöhne. Wenn meine Fast-Stief-Brüder erst mal wach sind, gibt es keine ruhige Minute mehr. Und so turnt zehn Minuten später der sechsjährige Marlon durch mein Bett und flüstert mir deutlich ins Ohr: „Chelsea, bist du schon wach? Liest du mir was vor? Melvin will nicht mehr mit mir spielen. Biiiiitte!“
„Marlo!“, rufe ich ungehalten, „es ist mitten in der Nacht! Geh wieder ins Bett!“
Der Junge setzt sich aufrecht in mein Bett und schaut mich an. „Nee, das stimmt nicht. Guck mal, es ist schon hell! Du musst nur die Augen aufmachen, wirklich. Und Mama sagt, wenn es hell ist, darf ich aufstehen!“
Ich drehe mich missgelaunt um. „Marlo, das hat deine Mama im Winter gesagt. Jetzt ist fast Sommer!“
Marlon legt den Kopf schief. „Und warum soll das jetzt nich mehr gilden, he?“
Jetzt bin ich so richtig wach. „Das heißt gilt!“, schreie ich.
„Du hast mir gar nichts zu sagen!“, schreit Marlon zurück. „Du bist nicht meine Mama. Noch nich mal meine richtige Schwester. Spiel doch alleine!“ Und schon ist er verschwunden.
Na toll! Ich drücke mein Gesicht ins Kissen. Erst wird man geweckt, dann beschimpft, und das alles mitten in der Nacht. Wie hält Papa das nur aus? Der hatte es doch so gut mit uns, mit Mama und mir!
Seit drei Jahren sind meine Eltern nun schon getrennt. Der Tag ist so klar in meinem Kopf eingebrannt, als wäre es gestern gewesen.
„Chelsea-Schatz!“, hatte Papa gesagt. „Wir müssen dir etwas sagen!“
Das hatte sich so besonders angehört, wahrscheinlich, weil Papa sonst nie etwas mit mir zu klären hatte. Dafür war immer Mama zuständig.
Ja, es war tatsächlich besonders, aber besonders schrecklich. Mama hatte mich in den Arm genommen und mit mir geweint. „Charlotte, mein großes Mädchen“, hat sie gesagt, „glaub mir bitte, es ist besser so. Ich möchte nicht, dass Papa und ich uns streiten. Du magst doch auch keinen Streit. Wir haben uns so sehr auseinandergelebt, dass es ohne Streit nicht geht. Das wollen wir dir und uns nicht antun. Das verstehst du doch bestimmt, mein liebes Mädchen.“
Nein, das habe ich nie verstanden. Das kam für mich total plötzlich. Josi aus meiner Klasse hat mir schon wer weiß wie oft erzählt, wie ihre Eltern sich gestritten haben. Der Vater hatte Josis Mutter sogar geschlagen. Aber so etwas hat es bei uns zum Glück nie gegeben. Eigentlich war bis zu diesem Tag alles wie immer. Papa kümmerte sich um die Firma und ging zum Fußball, und Mama kümmerte sich um mich, das Haus und ging vormittags auch arbeiten. Und plötzlich war alles vorbei!
Ich höre wieder einen Knall, dann ein lautes Klirren. Ich schrecke zusammen und kralle meine Hände ins Kopfkissen. Jetzt höre ich Yvy, Papas neue Freundin. Sie säuselt: „Aber Jungs, so geht das nicht. Seht mal, jetzt habt ihr die schöne Vase zerbrochen. Wir hatten doch besprochen, dass mit dem Lederball nur draußen gespielt wird. Nun aber schnell nach draußen, ihr Fußballer! Mami macht die Scherben weg, damit ihr euch nicht wehtut!“ Gepolter, Türenknallen, Kampfgebrüll und – endlich Ruhe!
Ja, Mami Yvy, wann war die eigentlich aufgetaucht? Damals nach der Trennung hatte Papa immer wieder neue Freundinnen. Das war so schrecklich. All diese fremden Frauen, die meinem Papa so nah waren. Die durften ihn küssen, gingen mit ihm spazieren – und ich war abgeschrieben. Was hatten die eigentlich hier, in unserem Haus, zu suchen? Das war mein Papa, mein Zuhause, meine Familie!
Doch diese Frauen kamen und gingen, alle im ersten Jahr. Dabei hatten Mama und Papa mir fest versprochen, es noch einmal miteinander zu versuchen. Sie wollten nur ein wenig Abstand und dann einen Neustart probieren. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass es je einen Neustartversuch gegeben hätte. Und jetzt ist das Thema sowieso vorbei.
Die letzte Frau war Yvy. Yvy sieht aus wie ein Topmodel, ist das freundlichste Wesen unter der Sonne, schimpft nie, sieht alles von der guten Seite. Oh man, ich wusste gar nicht, wie viele gute Seiten das Leben haben kann! Yvy verzaubert alle mit ihrem sanften Wesen.
Dann zog Yvy bei Papa ein und sie brachte ihre Söhne Melvin und Marlon mit. Im September heirateten sie, an dem Tag, an dem sie sich zwei Jahre zuvor kennengelernt hatten – das war auf dem Geburtstag von Papas Bruder Tom. Dummerweise lag ich zu genau diesem Zeitpunkt mit Mandelentzündung im Bett, sonst hätte ich das Ganze vielleicht verhindern können.
Schon wieder Geschrei draußen: Marlon und Melvin streiten sich, ob das Tor von Melvin „gildet“ oder nicht. Genervt stehe ich auf. Mit etwas Glück kann ich mit Papa ein paar Minuten allein sein; Yvy ist noch in der Küche beschäftigt. Fast gleichzeitig mit Papa betrete ich den Flur.
„Morgen Chelsea“, murmelt Papa verschlafen, „ausgeschlafen oder abgebrochen?“
Ich zeige die Treppe hinunter. „Wohl eher abgebrochen bei dem Lärm.“
Papa streicht seine Haare zurück. Er trägt sie jetzt länger als früher. Yvy findet das so süß. Pah!
Dann nimmt mich Papa in den Arm. Das ist ein guter Moment. Ich drücke ihn fest an mich und schaue ihm in die Augen. „Du, wir wollten doch noch mal wegfahren, ans Meer, vielleicht nach Holland – so wie früher!“
Papa nickt. „Da bist du ein bisschen schneller als ich. Beim Frühstück wollte ich nämlich vorschlagen, dass wir Pfingsten nach Zeeland fahren. Ich habe ein Haus gefunden, direkt am Strand, mit drei Schlafzimmern. Du kannst ein Zimmer für dich haben, die Jungs bekommen eins und das dritte Yvy und ich. Das Haus steht direkt hinter den Dünen. Na, was sagst du? Du darfst aber bis zum Frühstück nichts verraten. Dir habe ich es als Erste gesagt!“
Papa strahlt, als er das sagt, ich irgendwie nicht so. „Cool“, stammele ich schnell, „ich muss dann mal auf’s Klo.“
Ich drehe mich aus Papas Armen und schließe die Badezimmertür hinter mir ab. Ich lasse mich auf die dicke Frottee-Matte fallen und schaue traurig durchs Fenster. Zeeland, das gehört nicht zu Yvy und den Jungs! Da war ich mit Mama und Papa früher oft, immer über Pfingsten. Und außerdem wollte ich nichts mit Yvy und den Jungs machen, sondern nur mit Papa. Warum kapiert der das nicht! Wütend wische ich mir eine Träne aus dem Gesicht.
Zurück im Zimmer steigt weiterer Ärger in mir hoch. Das ist mein Zimmer hier, hat Papa gesagt. Das kleine Arbeitszimmer hat er mit mir zusammen renoviert. Mein ehemaliges Kinderzimmer haben Melvin und Marlon bekommen, weil es viel größer ist, und die beiden es sich teilen. Das kann ich ja noch widerwillig einsehen, aber warum landen immer Klamotten von den Jungs in meinem Schrank!? Neben meinen T-Shirts liegt ein Stapel alter Jeans von Melvin; da soll Marlon reinwachsen. Schön, aber nicht in meinem Schrank! Irgendwie fühlt sich der gerade begonnene Sonntagmorgen richtig doof an. Bedrückt schlurfe ich die Treppe hinunter.
Yvy hat den Frühstückstisch gedeckt, draußen in der Maisonne. Alles sieht perfekt aus: Tischdecke mit passenden Servietten, Kissen und Decken auf der Gartenbank, Brötchen und Croissants – natürlich selbst gemacht – , Kakao, Saft, eine große Schale Obstsalat, Müsli, Marmeladen, Käse, Wurst. Überall dazwischen liegen paar Blumen oder Muscheln. Richtig freuen kann ich mich darüber nicht. Voll blöd, aber irgendwie bin ich immer ein bisschen neidisch. Worauf, weiß ich selbst nicht so genau.
„Guten Morgen! Na, gut geschlafen?“ Yvy strahlt geradezu in ihrem schicken Outfit. „Ich hoffe die Jungs waren nicht so laut, Charlielein. Aber bei so einem schönen Wetter, da muss man einfach seine Energie rauslassen.“
Ich lächle gequält. „Charlielein“ geht gar nicht! Aber was soll’s? Yvy hat recht, es ist ein wunderbarer Tag, und wenn er schon so bescheiden angefangen hat, kann er ja nur besser werden, oder? Ich lasse mich auf einen Sessel plumpsen und schütte mir Orangensaft ein. Papa kommt und gibt Yvy einen sehr langen Kuss. „Wie schön du das wieder gemacht hast. Das ist ja wie Urlaub!“
Yvy kuschelt sich an Papa. Der Lärm nimmt zu und die Brüder kommen mit ihrem Ball um die Ecke. Melvin drängelt seinen kleinen Bruder an die Seite und holt zum Schuss aus. Der Ball fliegt mit voller Geschwindigkeit auf das Tor, prallt gegen Marlons Brust, ändert seine Flugbahn und trifft mit Wucht direkt das Glas in meiner Hand. Der Orangensaft scheint zu explodieren und schwappt über mein T-Shirt und die Hose. Blitzartig wird es kalt und unangenehm auf meiner Haut. Irgendwie gelingt es mir, das Glas festzuhalten, und für ein paar Sekunden ist es ganz still. Ich starre auf den Tisch. Plötzlich beginnen die Jungs zu lachen, laut und gemein. Ich schaue hilflos zu Papa. Er muss doch jetzt mal ausrasten! Doch der grinst nur.
Yvy versucht die Situation zu retten. „Och, Charlielein, das ist aber jetzt echt blöd.“ Sie schaut zu Melvin und Marlon. „Jungs, ihr kommt her und entschuldigt euch. Und dann frühstücken wir, ja?“ Yvy macht eine kleine Pause und fragt mich: „Oder möchtest du dich erst umziehen, Charlie?“
Ich suche Papas Blick. Doch der dreht sich einfach um und geht ins Haus. „Ich hol dann mal den Kaffee!“
Die Brüder kommen angetrottet und können vor Lachen immer noch kaum ein Wort sprechen. „’tschuldigung!“, giggeln beide gleichzeitig und halten mir ihre gartenschmutzigen Hände hin.
Ich sehe in die lachenden Gesichter, Orangensaft tropft mir aus den Haaren. Ich bin sauer auf die Jungs, enttäuscht von Papa und genervt von Yvys Dauerfreundlichkeit. Ich nehme keine der Hände an. Langsam stehe ich auf, stelle das Glas auf den Tisch, gehe an Yvy vorbei ins Haus, zu Papa in die Küche. Ich fühle mich sehr müde, als ich Papa mitteile: „Ich zieh mich um. Dann ruf ich Mama an, sie soll mich abholen.“
Papa hebt erstaunt die Augenbrauen. „Was soll das denn, Chelsea? Wegen so eines Jungenstreichs willst du jetzt Tanjas Wochenende durcheinanderbringen? Okay, das ist dumm gelaufen. Aber wegen ein bisschen Orangensaft auf dem T-Shirt kannst du doch nicht den ganzen Sonntag ruinieren. Gib mir die Sachen, Yvy wäscht sie gleich nach dem Frühstück. Reiß dich ein bisschen zusammen. Orangensaft ist wirklich kein Drama. Los jetzt, zieh dich schnell um, wir wollen frühstücken!“ Papa dreht sich wieder zum Kaffeeautomaten und bereitet einen zweiten Cappuccino.
Ich stehe ratlos im Raum. Was habe ich erwartet? Und was soll ich jetzt tun? Soll ich einfach mitspielen in dem Spiel „Nette Familie“? Soll ich Mama anrufen? Bestimmt kommt die sofort. Aber wahrscheinlich hat Papa recht, Mama hat ein Wochenende ohne mich geplant. Langsam gehe ich die Treppe hinauf und suche mir neue Sachen aus dem Schrank. Die Orangensaftklamotten lege ich ins Waschbecken und lasse Wasser einlaufen. In meinen Ohren hämmert immer das gleiche Wort: ungerecht!
Das ist einfach ungerecht! Ich bin hier so überflüssig wie Bauchschmerzen!
Ich lasse mir Zeit, bis ich wieder auf die Terrasse gehe. Die anderen haben schon mit dem Frühstück begonnen.
Yvy schaut freundlich auf. „Na, alles wieder okay? Es tut mir echt leid. Nun genieß das Frühstück und sei nicht mehr traurig. Du wirst sehen, es wird ein wunderschöner Tag!“
Ich setze mich hin und nehme mir ein Croissant. Das mit dem schönen Tag kann ich irgendwie nicht glauben.