Читать книгу Herzsplitter - Kirsten Brünjes - Страница 9

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Charlie

„Und wenn jemand nett zu dir ist, dann freu dich einfach drüber!“

Nach Schulschluss steige ich müde in Opas Sportwagen.

„Na Süße, wie war dein Tag?“, fragt Opa gut gelaunt.

Der Motor heult auf und einige Jungs gucken neidisch. Am liebsten würde ich den Jungs die Zunge rausstrecken. Was glotzen die so blöd? Die können die Kiste gerne haben, wenn ich dafür im Austausch eine komplette Familie bekomme.

Opa wartet noch auf eine Antwort, und so gebe ich mir einen Ruck: „Ich hatte Kopfschmerzen und quadratische Funktionen. Wir schreiben am Freitag ’ne Mathearbeit und ich hab keine Ahnung von Mathe. In Englisch haben wir einen Vokabeltest geschrieben und ich hatte Null gelernt. Wir haben eine Neue in der Klasse, die ist so freundlich, dass es stinkt, und in der Mensa gab es Hundefutter mit Reis. Und sonst war alles toll!“

Opa lacht. Opa lacht immer: über die Schule, über das Familiendrama, über die Firma, über die Oma. Manchmal ist das ja ganz nett, aber oft weiß ich einfach nicht, was an dem ganzen Chaos so lustig sein soll. Jetzt auch nicht, also schweige ich.

Dafür redet Opa nun. „Was hältst du davon, wenn wir dich in den Sommerferien mit nach Italien nehmen? Oma will eine Schulfreundin besuchen. Die lebt dort und hat eine Pension am Gardasee. Gestern hat Oma mit ihr telefoniert, und da haben sie auch über dich gesprochen. Omas Freundin hat auch Enkelkinder in deinem Alter.“

Ich brumme: „Wie alt?“

Opa lacht wieder. „Da musst du Oma fragen. Ich glaube, zwölf oder dreizehn oder so was.“

Weiß Opa nicht, wie alt ich bin??

„Oder so was? Ich bin übrigens fünfzehn. Ich weiß jetzt nicht, ob ich meine Ferien mit irgendwelchen Kindern verbringen will, die viel jünger sind als ich und kein Deutsch sprechen.“

Opa bremst heftig, weil vor ihm ein Fahrzeug in die Straße einbiegt. „Idiot, kannst du nicht gucken?“ Er schüttelt den Kopf und redet dann weiter: „Zwölf, dreizehn, fünfzehn – ich wollte ja nur sagen, da sind auch Kinder, und du kannst gerne mit uns die Ferien verbringen.“

Klingt wie die Neue. Ich verdrehe die Augen. „Das habe ich heute schon mal gehört.“

Opa stutzt. „Wer will denn noch mit dir nach Italien?“

Jetzt muss ich doch grinsen. „Niemand, aber dieses Ich-wollte-nur-nett-sein habe ich schon Mal gehört heute.“

Opa bremst erneut und fährt rechts an den Fahrbahnrand. Er stellt das Auto aus und schaut mich an. „Genau. Charlie, es stimmt: Du bist fünfzehn Jahre alt und dein Leben läuft gerade nicht – nach Plan. Du lebst nicht in einer heilen Welt. Aber diese Welt ist eben nicht heil. Ja, wir versuchen alle, nett zu dir zu sein, und vielleicht ist das alles, was wir im Moment tun können. Aber ich finde nicht, dass das wenig ist. Ich finde es auch nicht toll, dass mein Sohn sich von seiner Frau getrennt hat und du da hin- und hergerissen wirst. Oma und ich sind immer für dich da, kutschieren dich durch die Gegend, finanzieren dir jeden Wunsch, verbringen unsere Zeit mit dir – weil wir dich lieb haben.“

Ich sage nichts und Opa redet weiter: „Ich habe mit dreizehn keine Mutter mehr gehabt, die war tot. Ich bin mit sechzehn zu Hause rausgeflogen. Ich habe mit neunzehn deine Oma geheiratet und mit zwanzig bin ich Vater geworden. Mit fünfundzwanzig hatte ich meine eigene Firma und bin dann noch einmal Vater geworden.“

So was in der Art hat mir Oma schon mal erzählt. Ich überlege, was ich jetzt sagen könnte, aber Opa ist schneller.

„Zu mir war nie jemand nett, Charlie, erst, als ich es mir leisten konnte, zu anderen nett zu sein. Als ich eine Existenz hatte, waren die Leute plötzlich alle freundlich. Oma und ich haben sehr harte Zeiten erlebt. Aber wir haben gekämpft. Und das wünsche ich dir. Dein Leben ist nicht so, wie du es dir wünschst. Stimmt. Aber du bist stark, Charlie! Und du kannst kämpfen. Steh auf und mach was aus deinem Leben. Du hast Möglichkeiten. Lern Mathe und lass dir sonst helfen. Frag mich oder Papa oder geh zur Nachhilfe. Wenn dir das Mensa-Essen nicht schmeckt, dann schmier dir morgens ein Brot. Lebe mit deiner Mutter und mit deinem Vater, eben versetzt. Und wenn jemand nett zu dir ist, dann freu dich einfach drüber! Und wenn du mit nach Italien willst, dann sag uns bis nächste Woche Bescheid.“

Opa startet den Wagen neu. Ich bin sprachlos. Wie kann Opa so etwas sagen? Hat er vielleicht recht? Ich schließe die Augen und merke, wie sich meine Gedanken verlangsamen, und dann ist es plötzlich sehr still …

Ich muss eingeschlafen sein. Als ich aufwache, sind wir bei Oma und Opa angekommen. Opa sitzt nicht mehr am Steuer. Meine Tür ist einen Spalt breit offen. Das macht Opa immer. Als ich klein war, hat er gesagt, er möchte mich sofort hören, wenn ich wach werde. Jetzt bin ich groß, aber er lässt die Tür immer noch ein wenig offen. Müde klettere ich aus dem Auto. Auch die Haustür ist angelehnt.

Gerade, als ich in den Flur komme, höre ich aus der Küche Opas Stimme. „… und das Kind ist total erschöpft. Sie ist einfach eingeschlafen. Ich weiß nicht, was die beiden am Wochenende wieder mit ihr angestellt haben. Aber montags ist es immer am schlimmsten. Ich habe mit Charlie geredet. Ich habe ihr gesagt, dass sie aufhören soll, sich zu bemitleiden, und einfach mal kämpfen muss!“

„Oh nein, Paul, das kannst du nicht machen!“, fällt ihm Oma ins Wort. „Lotti ist so zerbrechlich. Sie leidet doch so sehr an dieser Situation. Wir müssen sie beschützen. Für Stefan ist das auch nicht leicht mit der Trennung. Aber das Kind kann nichts dafür. Und Tanja scheint mir vollkommen überfordert zu sein. Lotti hat doch nur uns. Hier ist alles wie immer.“

„Du tust dem Kind keinen Gefallen, wenn du alles schönredest“, kontert Opa. „Du weckst Hoffnungen, die du nicht erfüllen kannst. Es wird nicht wieder alles gut.“ Opas Stimme wird lauter. „Charlie muss ihren Weg finden, je eher, desto besser!“

„Hör mal, Lotti ist noch ein Kind, und die Zeiten haben sich geändert. Muss Lotti denn das Gleiche ertragen wie wir? Immer auf sich gestellt sein; keiner, der hilft und Mut macht. Paul, ich will das nicht alles noch einmal erleben, wie bei dir damals. Ich werde alles für sie tun, damit sie nicht leiden muss.“ Oma hört sich irgendwie traurig an.

Stuhlbeine rutschen über den Boden, Opa ist offenbar aufgestanden.

Langsam betrete ich die Küche. „Stör ich?“

Oma nimmt mich gleich in den Arm. „Oh, Lotti, es tut mir leid, dass wir uns gestritten haben. Das solltest du doch gar nicht hören. War auch nicht so wichtig. Opa sagt, du bist so müde. Willst du ein bisschen schlafen? Ich bringe dir gleich einen Kakao, der Kuchen braucht noch ein wenig.“

Ich bleibe noch einen Moment in Omas Armen und mache mich dann auf den Weg zur Treppe.

Opa murrt: „Nicht so wichtig! Was soll denn das heißen?“

Oma zischt: „Psst! Paul, bitte jetzt nicht. Nicht, wenn das Kind dabei ist!“

Aber ich höre sie doch. Ich höre sie immer – alle. Wenn sie heimlich hinter meinem Rücken die Wahrheit sagen und mir dann irgendeine nette Lüge auftischen. Ehrlich, das kotzt mich an! Ich lasse mich auf mein Bett fallen. Ich habe auch bei Oma und Opa ein Zimmer, das Kinderzimmer von Papa. Hier ist alles wie immer. Aber obwohl ich so müde bin, kann ich jetzt nicht schlafen. Ich muss an das neue Baby denken. Noch ist es ja unsichtbar. Aber das wird nicht so bleiben. Was wird sich dann alles ändern? Dann wird sich noch jemand in diese chaotische Familie drängeln. Ich werde nicht mehr Mamas einziges Kind sein, das ist das Schlimmste. Teilen tut weh. Gummibärchen teilen ist okay, aber Eltern teilen, das geht gar nicht!

Oma klopft leise an die Tür.

„Komm rein, Omi. Ich bin wach“, rufe ich und strecke mich kräftig.

Oma lächelt. „Was ist denn nur los mit dir, Lottilein. Hast du so wenig geschlafen am Wochenende – oder bist du krank?“

„Versprichst du mir, nicht zu jammern und nicht Lottilein zu sagen? Dann verrate ich’s dir.“ Ich setze mich auf.

„Bin ich so schlimm?“ Oma tut ein wenig beleidigt.

Ich lächele und gebe ihr einen Kuss. „Nein, gar nicht. Ich möchte nur nicht, dass du mich bedauerst oder dich vielleicht sogar einmischst. Ich könnte jetzt einfach nur jemanden brauchen, der zuhört! Okay?“

Oma nickt. „Ich höre!“

„Also, ich war am Wochenende bei Papa. Die Jungs waren zu laut, Yvy zu nett und Papa zu verliebt in seine neue Familie. – Omi, nur zuhören, ja? – Papa hat vorgeschlagen nach Zeeland zu fahren, so wie früher. Ich habe mich total gefreut, hatte aber gedacht, nur Papa und ich fahren. Aber er will, dass wir alle Fünf Urlaub machen! Und das finde ich einfach ätzend. Zeeland ist unser Ding, das gehört nicht zu Ivy und den Jungs.“ Ich atme laut aus und rede weiter: „Okay, das war alles doof, aber das Allerschlimmste kam dann gestern Abend, als Mama mich abgeholt hat. Mama ist …!“ Meine Stimme stockt.

Ich versuche es noch einmal: „Mama hat gesagt, sie …“ Aber es geht einfach nicht. Die Worte bleiben mir im Hals stecken.

Oma versucht zu helfen. „Ist Mama sauer?“

Ich schüttele den Kopf.

Zweiter Versuch von Oma: „Ist sie arbeitslos?“

Ich schüttele wieder den Kopf.

„Von Daniel getrennt?“

Ich schüttele noch mal den Kopf.

„Ist sie krank?“

Meine Unterlippe bebt, als ich noch mal verneine.

„Dann weiß ich es nicht“, sagt Omi.

Jetzt würge ich es heraus: „Baby!“

Omas Hände beginnen zu zittern. Die Tasse fällt ins Bett und sie nimmt mich fest in den Arm. Die Tränen fließen einfach aus mir heraus, und es fühlt sich an, als ob ich in dem Strom ertrinke.

Herzsplitter

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