Читать книгу Herzsplitter - Kirsten Brünjes - Страница 11
ОглавлениеCharlie
Kapiert ihr das nicht: Das sind zwei neue, komplette Familien! Die brauchen mich doch gar nicht mehr!
Freitagmorgen, erste Stunde: Wir schreiben die Mathearbeit. Ich war gestern Abend bei Papa zum Lernen. Die Jungs haben gelärmt und Papas Erklärungen haben mich nur verwirrt. Nun liegt das Aufgabenblatt vor mir auf dem Tisch. Ich finde tatsächlich zwei Aufgaben, unter denen ich mir ein wenig vorstellen kann. Aber dann hört es auch schon auf. Deborah, die Neue neben mir, rechnet fleißig. Seit dem Streit am Montag habe ich kaum ein Wort mit ihr gesprochen. Sie hat nicht mehr versucht, mir zu helfen; war freundlich zu mir, aber auf Distanz. Dafür hat sie sich mit Sophia angefreundet.
Ich linse zu ihr hinüber. Sie nimmt sofort ihren Arm vom Blatt, sodass ich besser sehen kann. Frau Menning dreht uns den Rücken zu und so riskiere ich einen ausgiebigen Blick auf Deborahs Arbeit. Komisch, die Ergebnisse der beiden gelösten Aufgaben von mir stimmen nicht mit den Zahlen bei Deborah überein. Ich kann noch zwei weitere Ergebnisse erhaschen und versuche nun eigenständig, Rechnungen dazu zu erarbeiten. Die beiden von mir gelösten Aufgaben korrigiere ich. Abschreiben geht jetzt nicht mehr, weil Frau Menning mitten in der Klasse steht und uns beobachtet. Kurz vor der Pause sagt Frau Menning dann: „Bitte kommt jetzt zum Ende. Die Stunde ist gleich vorbei. Ach ja, ich hatte vergessen, euch darauf hinzuweisen, dass ich dieses Mal A- und B-Aufgabenblätter verteilt habe. Bei der letzten Arbeit hatte ich den Eindruck, dass zu viel abgeschrieben wird.“
Das trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. So ein Mist! Schnell versuche ich in den verbleibenden Minuten die irrtümlichen Korrekturen rückgängig zu machen und meine selbst gerechnete Lösung wieder hinzukritzeln. Das gibt ein ziemliches Geschmiere. Ich bin die Letzte, die abgibt und ernte einen bösen Blick der Mathelehrerin.
„Noch eine Minute länger und ich hätte deine Arbeit mit Sechs bewertet. Die Zeit ist um, das habe ich mehrmals wiederholt.“
Ich lächele gequält. „Tut mir echt leid. Aber der beste Einfall kam mir einfach zum Schluss!“ In Gedanken füge ich hinzu: Und viel besser als Sechs wird das sowieso nicht.
Als ich auf dem Schulhof bin, steuere ich sofort unsere gewohnte Ecke neben der Treppe zur Turnhalle an. Josi und Elena sind schon dort.
„Das war ja wohl das Letzte in Mathe!“, höre ich Josi schimpfen. „Da sagt die Menning fünf Minuten vor Schluss, dass es A- und B-Zettel gibt, und ich hatte einen super Blick auf Marcs Heft. Mann, da hätte ich ’ne Zwei schreiben können. Und dann so was!“
Elena lacht. „Du bist cool. Machst Frau Menning dafür verantwortlich, dass du abgeschrieben hast. Wie wär’s denn mal mit Selberrechnen?“
Josi stößt verächtlich die Luft aus. „Ist ja nicht jeder so ein Streber wie du!“
„Ich hab auch abgeschrieben“, klinke ich mich nun ein, „bei Deborah. Dann hab ich schnell versucht, alles rückgängig zu machen, aber das ging auch schief, glaub ich. Also, ich finde das auch gemein, dass wir nicht vorher wussten, dass Abschreiben zwecklos ist. Und, Elena: Wenn ich’s selber könnte, dann würd ich’s auch selber machen. Das kannste glauben!“
Josi legt den Kopf schief. „Und was ist mit der Neuen? Die hat dir doch Hilfe angeboten, oder?“
Ich schüttele den Kopf. „Nee, nun nicht mehr. Wir hatten gleich am ersten Tag Zoff, weil die zu nett war. Und ehrlich gesagt, ich hab da auch grad andere Probleme.“
Josi hakt nach: „Das sagst du jetzt schon die ganze Woche. Was ist denn los? Sollst du ins Internat? Zieht ihr um? Haben deine Alten Stress, ist deine Oma krank?“ Sie schaut mir ernst ins Gesicht. „Charlie, nun sag’s doch endlich und mach’s nicht so spannend. Du kennst auch meinen ganzen Scheiß, und ich zick da nicht so rum!“
Ich schaue in die Runde. „Ich will aber nicht, dass das jemand erfährt. Wenn ich euch das sage, dann bleibt das unter uns, okay?“
Die beiden nicken ernst.
Ich hole tief Luft. „Also, dass mein Vater im September wieder heiratet, wisst ihr ja. Für mich ist das irgendwie doof, weil die dann eine komplett neue Familie sind. Da fühl ich mich überflüssig. Außerdem hat mein Papa mir schon ewig versprochen, mit mir was allein zu unternehmen. Aber jetzt fahren wir Pfingsten mit Yvy und den Jungs nach Holland – dahin, wo ich früher mit Ma und Pa war. Das ist einfach blöd. Und der Hammer ist …“, meine Stimme wird dünn. „Meine Ma ist – sie ist schwanger.“
Josi fällt die Kinnlade runter. „Ist die nicht ’n bisschen zu alt für noch’n Kind?“
Elena schaut sie vorwurfsvoll an.
„Ich mein ja bloß …“, brummt Josi leise.
„Und jetzt hast du Angst, dass deine Ma dann keine Zeit mehr für dich hat?“, fragt Elena. „Aber vielleicht wird es auch schöner, wenn sie viel zu Hause ist.“
Ich lache künstlich. „Toller Witz. Wenn meine Ma erst Mal zu Hause bleibt, dann geht’s da wohl nur um das Baby! Was soll ich denn da noch? Ich könnte höchstens den Babysitter spielen. Nee, kapiert ihr das nicht: Das sind dann zwei neue komplette Familien! Die brauchen mich doch dann gar nicht mehr!“
Elena sieht betroffen aus. „Meinst du nicht, du siehst das jetzt zu schwarz? Du bleibst doch das Kind deiner Eltern. Ich denk mal nach, vielleicht fällt mir ja was Gutes ein.“
Josi blafft: „Pah, was gibt’s denn da Gutes? Wir sind abgeschrieben. Das ist bei Scheidungskindern so. Du wirst hin- und hergeschoben, so wie’s gerade passt. Oder irgendwer beschließt, dass du deinen Daddy nicht sehen darfst, so wie bei mir. Das kann man eben nur verstehen, wenn man Scheidungskind ist. Sorry, Elena, da kannst du nicht mitreden.“
Die Schulglocke ertönt. Ich packe meine Freundinnen am Arm. „Kein Wort zu irgendwem. Das habt ihr versprochen!“
Die beiden nicken.
In der nächsten Stunde haben wir Kunst, und ich kann ein wenig entspannen. Malen und zeichnen kann ich gut. Das aktuelle Thema lautet „Meine Welt“. Wir können frei entscheiden, wie wir unsere persönliche Welt aufs Papier bringen. Zusätzlich dürfen wir ein Mal pro Stunde die Kunstwerke der anderen betrachten.
Ich starte gleich mit einem Rundgang. Manche haben Sport- oder Familienbilder gemalt. Die finde ich langweilig, peinlich oder völlig daneben. Bei Niklas bleibe ich stehen. Niklas malt seine Welt als Comic. Er kann super zeichnen und hat total coole Ideen. Ich bemerke zu spät, dass er von seinem Bild aufschaut, so gebannt bin ich von seinen Zeichnungen. Niklas berührt kurz meine Hand, die auf seinem Tisch liegt. „Gefällt’s dir?“
Ich erschrecke von der Berührung und ziehe die Hand sofort weg. „Was? Ach so, ja, ist cool!“
Niklas grinst. „Ich hab noch Coolere: Graffitis! Ich spraye mit ein paar Freunden. Und nächste Woche Samstag machen wir übrigens ’ne Party. Kannst kommen, wenn du willst!“
„Ich überleg’s mir.“ In meinem Bauch rumort es laut, und irgendwie habe ich den Eindruck, das liegt jetzt nicht an meinem Hunger. Blödsinn. Niklas will nichts von mir, und außerdem will ich nichts von ihm!
Ich gehe zurück zu meinem Platz. Josi neben mir stupst mich an und flüstert: „Was wollte der Niklas denn von dir?“
Ich murmele nur: „Och, nichts. Nur wissen, ob mir sein Bild gefällt.“
„Und – gefällt es dir?“
Ich trete Josi unter dem Tisch auf den Fuß. „Geh doch selber hin und schau es dir an!“, fauche ich.
Dann widme ich mich meinem Bild und blende alles andere um mich herum aus.
In der letzten Stunde habe ich begonnen, einen Baum zu malen. Der Baum ist in der Mitte von einem Blitz gespalten. Der Blitz ist in grellen Neonfarben gemalt. Den Himmel habe ich recht dunkel schraffiert. Nun beginne ich in den Baumstamm, direkt über dem Boden, mein Gesicht zu malen. Ich zeichne eine kleine Träne unter mein rechtes Auge. Mein Gesicht nimmt nun fast den gesamten Baumstamm ein und die Äste stehen wie wilde Zöpfe von meinem Kopf ab. Der grelle Neonblitz trifft den Kopf oben, ziemlich mittig.
„Oh, ein so düsteres Bild?“ Herrn Thimms Stimme schreckt mich auf.
Ich habe nicht bemerkt, dass er plötzlich hinter mir steht. „Kann sein“, murmele ich. „Ist aber manchmal auch so.“
Herr Thimm setzt sich auf den freien Stuhl mir gegenüber. „Du zeichnest sehr gut. Was macht denn deine Welt so düster? Was erzählt dein Bild?“
Unsicher blicke ich dem Lehrer in die Augen. Ich habe nicht darüber nachgedacht, dass wir über unsere Bilder reden sollen. Bedeutet das, dass ich vor der ganzen Klasse von meinen Familienproblemen erzählen muss? Dann sollte ich einfach meinen Hund Jack malen und jede Menge Zahlen, die in einen Abgrund fallen. Das ist leicht zu erklären. Niemand würde dumme Fragen stellen …
Herr Thimm wartet immer noch auf eine Antwort. Dem könnte ich schon was erzählen, aber der Klasse auf keinen Fall. Ich räuspere mich. „Vielleicht male ich noch mal neu. Ich hatte keine gute Woche. Stress mit meinen Eltern, und die sind getrennt. So wie der Baum hier. Aber das kann auch nächste Woche wieder anders aussehen.“
Das stimmt wenigstens so halb. Und ich kann wirklich leicht ein neues Bild malen.
Herr Thimm steht auf und meint im Gehen: „Nein, lass das so. Das ist ein gutes Bild.“
Am Ende der Stunde reiße ich das Bild von meinem Zeichenblock, falte es zusammen und lasse es in meiner Tasche verschwinden. Ich habe beschlossen: Ich werde ein neues Bild malen! Eines, das leicht zu erklären ist.