Читать книгу Herzsplitter - Kirsten Brünjes - Страница 7
ОглавлениеCharlie
Vor drei Jahren war ich das einzige Kind meiner Eltern. Ich musste Mama und Papa nicht teilen.
Die Autotür fällt laut ins Schloss. Ich lasse mich zurück in den Sitz gleiten und atme tief aus. Überstanden! Mama schaut mich mitfühlend an. Betont fröhlich fragt sie: „Wie war dein Wochenende, mein Schatz?“
Ich starre aus dem Autofenster. „Na, wie wohl? Toll! Yvy hat alles sooo schön gemacht. Melvin und Marlon haben die ganze Zeit geschrien und Fußball gespielt, mal ist der Ball in meinem Orangensaft gelandet und mal in einer Blumenvase. Papa hat nur gelächelt. Und jetzt kommt der Hammer: Wir fahren Pfingsten nach Zeeland. Und das Schönste ist, alle kommen mit! Und ich hatte schon gedacht, Papa würde mal nur was mit mir machen.“
Mama legt mir eine Hand auf das Knie. „War es wirklich so schlimm, oder übertreibst du ein wenig?“
„Glaubst du mir etwa nicht? Du kannst ja mal mitkommen!“ Ich bin empört.
Mama beschwichtigt: „Natürlich glaube ich dir. Charlotte, ich weiß, das ist alles nicht einfach. Aber bitte, lass uns doch versuchen, das Beste draus zu machen. Es muss doch irgendwie weitergehen. Hast du mit Papa darüber gesprochen, dass du gerne mit ihm alleine weg möchtest?“
Jetzt brause ich so richtig auf: „Mit Papa sprechen? Du hast ja überhaupt gar keine Ahnung, was da abgeht! Alles ist toll da, und wehe, du sagst was anderes. Dann bist du der, der alles kaputt macht. Da kann man nicht reden!“
„Soll ich mal mit Papa sprechen?“, versucht Mama es noch mal.
Ich hebe abwehrend die Hände. „Nee, lass mal. Ich hab schon genug angerichtet, weil ich nicht in der ‚Alles toll‘-Stimmung war. Hauptsache, bei uns ist alles okay. Irgendwo muss einfach mal was bleiben, wie es ist!“
Das Auto wird langsamer. Wir haben den Waldrand erreicht und auf der rechten Seite kommt ein Wanderparkplatz. Mama bringt das Auto dort zum Stehen. Ich bekomme ein ungutes Gefühl. „Was wollen wir denn hier?“
„Steig mal aus, wir gehen ein Stück!“ Mama streicht mir über das Knie.
Ich stöhne. „Och nee. Ich brauch jetzt keine Entspannungstherapie, das hat Ivy schon versucht. Das wirkt bei mir nicht. Lass uns einfach nach Hause fahren; ich glaub, ich hab noch was in Englisch auf.“
Mama ist schon ausgestiegen. „Charlotte, ich muss mit dir reden. Ich habe verstanden: Dein Wochenende war nicht toll. Aber ich muss mit dir reden! Du bist meine Tochter, und ich muss dir etwas sagen, und möchte nicht, dass du es von irgendjemand anderem erfährst. Ich möchte es dir sagen. Steig jetzt bitte aus.“
Eiskalt kriecht die Angst in mir hoch. Das hört sich nicht gut an. Meine Stimme ist krächzig und hört sich fremd an. „Ist was passiert? Trennst du dich von Daniel? Oder wollt ihr auch heiraten wie Papa und Yvy? Hast du keinen Job mehr?“
Mama nimmt meine Hand. „Nun komm erst mal mit.“
Schweigend gehen wir in den Wald hinein. Irgendwann bleibt Mama stehen und dreht sich zu mir um. Sie legt ihre Hände auf meine Schulter und schaut mir in die Augen. Ganz vorsichtig lächelt sie. „Charlotte, ich … ich bin schwanger. Wir bekommen noch ein Kind.“
Ich kann ihre Worte hören, aber irgendwie kommen sie nicht bei mir an. Es dauert ein paar Sekunden, bis eine Stimme in meinem Kopf dröhnt: „Ein Kind. Ein Baby. Ein Kind. Meine Mama. Ein Kind.“
Ich suche nach dem richtigen Gefühl für die Situation. Aber ich finde keins. Da ist nur ein großes Loch, und das wird immer größer. Meine Augen füllen sich mit Tränen, aber ich schlucke sie runter. Mama will mich zu sich ziehen, aber ich rühre mich nicht. Plötzlich geht ein Ruck durch meinen Körper, ich reiße mich los und renne, so schnell ich kann, in den Wald hinein. Hinter mir höre ich Mamas Schritte und ihr Rufen: „Charlotte, bleib stehen! Komm zurück!“
Irgendwann wird die Stimme immer leiser. Ich renne, bis meine Lunge brennt. Als ich nicht mehr kann, werfe ich mich ins feuchte Gras. Regungslos bleibe ich liegen, höre mein rasendes Herz, meinen keuchenden Atem, dann wird es ruhiger. Ich nehme nur noch das Vogelzwitschern und die rauschenden Bäume wahr.
Noch ein Kind!
Was bedeutet das für mich? Vor drei Jahren war ich das einzige Kind meiner Eltern. Ich musste Mama und Papa nicht teilen. Jetzt teile ich Papa mit Yvy, Melvin und Marlon. Papa scheint mit seiner neuen Familie glücklicher zu sein, als mit Mama und mir. So oft habe ich das Gefühl, ich störe nur. Aber es ist doch auch mein Papa, nein, es ist eigentlich nur mein Papa! Auch Mama hat wieder einen Freund, Daniel. Daniel ist eigentlich ganz nett. Er ist ruhig, gemütlich, kann alles reparieren und hat immer ein offenes Ohr. Daniel hat viele Freunde, das ist schon cool. Oft schauen spontan Leute vorbei. Daniel kann kochen, richtig gut kochen. Papa kann noch nicht mal ein Spiegelei braten. Ja, Daniel ist in Ordnung. Und er lässt Mama und mir genug Zeit füreinander. Er drängt sich nicht in mein Leben.
Aber ein Baby? Das würde sich dazwischendrängeln, zwischen Mama und mich. Das Baby ist ja auch Mamas Kind – und das von Daniel. Dann bin ich wieder raus, bei Papa sowieso schon – aber dann auch bei Mama. Nein, ein Baby geht gar nicht!
Mein Blick klebt an den Bäumen, die Zeit vergeht, ohne dass ich es merke.
Es dämmert bereits, als ich mich auf den Weg zurück mache. Mamas Auto steht noch dort. Ich öffne die Beifahrertür und steige ein.
Mama schaut auf. „Ich habe mir Sorgen gemacht. Du warst fast zwei Stunden verschwunden …“
„Sag jetzt einfach nichts, bitte!“ Ich fühle mich schrecklich müde.
Schweigend fahren wir nach Hause. Schweigend gehen wir in die Wohnung. Schweigend gehe ich an Daniel und meinem Hund Jack vorbei. Schweigend gehe ich in mein Zimmer, schließe die Tür und lasse mich aufs Bett fallen. Und dann kommen die Tränen und hören nicht mehr auf.
Ich muss eingeschlafen sein, und wache auf, als Mama sich an die Bettkante setzt. Ich stelle mich schlafend. Eigentlich möchte ich jetzt so gerne in Mamas Arm, so wie früher als kleines Mädchen auf ihrem Schoß sitzen und kuscheln. Ich möchte, dass Mama mir ein Märchen erzählt mit einem Happy End. Ein Märchen, in dem ich die Prinzessin bin und alles gut wird – nicht so wie diese verlogenen Geschichten von Du-schaffst-das-schon und Es-muss-ja-weitergehen. Langsam rollt wieder eine Träne aus meinem Auge. Das hat Mama gesehen. Ganz sanft nimmt sie mich in die Arme und zieht mich zu sich. Mama küsst meine Haare und ich weine. Mein Körper wird von Schluchzern geschüttelt und Mama singt ein Kinderlied. Das tut einfach gut.
Die Tür öffnet sich einen Spalt und Daniel kommt mit zwei Tassen heißer Schokolade mit Zimt herein – meinem Lieblingsgetränk. Er verlässt das Zimmer sofort wieder. Ich rutsche ein Stück zur Seite, damit Mama zu mir ins Bett kommen kann. In Mamas Arm schlürfe ich aus meiner Tasse.
„Was macht dich so traurig, mein Schatz?“, will Mama wissen.
Ich überlege, was ich Mama sagen kann. Mama, die schon genug um die Ohren hat. Nach der Trennung musste Mama einen neuen Job suchen. Jetzt arbeitet sie viel, denn Papas großes Gehalt ist nicht mehr da. Daniel arbeitet im Schichtdienst, verdient aber wohl nicht so viel. Sind Babys eigentlich teuer? Kann Mama dann noch arbeiten und Geld verdienen? Muss ich dann auf das Baby aufpassen? Ist dann überhaupt noch Platz für mich? Was soll ich Mama sagen? Ich will auf keinen Fall, dass sie traurig ist. Ich will sie nicht belasten. Schließlich ist alles schon schwer genug nach der Trennung. Und wer weiß, vielleicht hätten Mama und Papa sich gar nicht getrennt, wenn ich nicht da gewesen wäre …
Ich murmele: „Weiß nicht. Irgendwie kommt das so plötzlich. Damit hab ich so gar nicht gerechnet.“
Mama drückt mich sanft. „Für mich auch. Wir waren auch recht überrumpelt, denn wir hatten gar kein Baby geplant. Aber vielleicht ist das auch eine Chance für eine neue Familie.“
Nicht geplant? Na, Kinder fallen doch nicht vom Himmel! Und was für eine neue Familie soll das denn sein, wenn es mit der alten schon schwierig ist? Ich ziehe mich ein wenig von Mama zurück.
„Kannst du denn dann noch arbeiten mit so einem Baby?“, frage ich.
Mama trinkt einen Schluck Schokolade. „Ich werde erst einmal zu Hause bleiben“, erklärt sie. „Daniel und ich werden beide Elternzeit nehmen, zuerst ich, dann er. In Elternzeit kann einer zu Hause bleiben und wir bekommen trotzdem Geld. Morgen spreche ich mit meinem Chef, ob ich bis zum Mutterschutz Überstunden machen kann, zu tun ist momentan genug. Dann wird das Geld auf jeden Fall reichen.“
Über Geld mussten wir uns früher nie Gedanken machen. Auch das ist erst so seit der Trennung. „Wann kommt denn das Baby?“, will ich wissen.
„Der errechnete Termin ist Mitte November. Das heißt, Weihnachten sind wir zu viert!“ Mama lächelt.
Ich finde nicht unbedingt, dass dies ein Grund zum Freuen ist. Weihnachten ist schon lange kein Lieblingsthema mehr. Eigentlich ist es noch schlimmer als Geburtstag. Ständig steht diese Frage im Raum: Wann bin ich wo? Es gibt also absolut keinen Grund, schon im Mai über Weihnachten nachzudenken.
Plötzlich fällt mir was ein und ich verschütte vor Schreck meine heiße Schokolade. „Meine Englischhausaufgaben!“
Mama steht auf und tupft den Schokoladenfleck notdürftig mit einem Taschentuch ab. „Ich schreibe dir eine Entschuldigung. Jetzt ist es fast zehn Uhr. Ich denke, du solltest jetzt schlafen.“
Als Mama aus dem Zimmer geht, merke ich wieder, wie müde ich bin. Schnell ziehe ich meine Sachen aus, verschwinde kurz im Bad und verkrieche mich im Bett. Mit einem leisen Pfiff rufe ich Jack. Freudig springt unser Mischlingshund in mein Bett. Das hat Mama zwar verboten, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass nach einem solchen Katastrophen-Sonntag irgendjemand Einwände hat. Und so ist es auch. Mama kommt noch kurz ins Zimmer und drückt mir kopfschüttelnd einen Kuss auf die Stirn.
Mit dem Gesicht in das Hundefell vergraben schlafe ich ein und finde mich in wirren Träumen wieder.
Ich irre durch ein großes Labyrinth und höre Papa rufen: „Chelsea, wo bleibst du denn? Wir müssen zur Hochzeit. Ivy wartet schon!“ Verzweifelt versuche ich den richtigen Weg zu finden. Und wieder ertönt Papas Stimme: „Chelsea, beeil dich, wir kommen zu spät!“
Jetzt hört sich die Stimme ganz nah an. Ich biege um eine Ecke und stehe wieder vor einer Wand. Ich will Papa was zurufen, aber meine Stimme versagt. Mit beiden Händen trommele ich gegen die Mauer. Plötzlich gibt diese nach und ich falle kopfüber in einen Abgrund. Ein stummer Schrei kommt aus meiner Kehle.
Erneut lande ich in einem Labyrinth, eine Etage tiefer. Hier höre ich Mamas Stimme: „Charlotte, kannst du dich mal um das Baby kümmern? Es schreit!“ Ich höre das Babygeschrei und versuche, den richtigen Weg zu finden. „Charlotte, beeil dich bitte!“ Mamas Stimme hört sich an, als kommt sie aus weiter Ferne. Ich beginne zu rennen. Das Geschrei wird lauter und ich komme an eine Weggabelung. Ich laufe nach rechts und kann ganz weit vorn einen Kinderwagen sehen. Ich renne noch schneller – da plötzlich schiebt sich eine Wand zwischen den Kinderwagen und mich. Mit voller Wucht pralle ich dagegen und mein Arm schmerzt fürchterlich.
Durch den Aufprall werde ich wach. Jack liegt auf meinem Arm. Ich schiebe den Hund an die Seite und trockne meine schweißnasse Stirn an der Bettdecke ab. Dann stehe ich auf, um etwas zu trinken. Der Mond scheint hell in die Küche und die Nacht sieht so friedlich aus. Als ich zurück im Bett bin, falle ich wieder in einen unruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen, als ich im Schulbus sitze, kippt mein Kopf gegen die Fensterscheibe. Josi neben mir lacht. „Hallo, aufwachen! Was hattest du denn für ein Wochenende? Muss ja mega-anstrengend gewesen sein.“
Ich strecke mich. „Och, war nur ein bisschen scheiße, sonst ging’s!“
„Wieso? Erzähl mal!“ Josi ist neugierig geworden.
Josefine ist meine beste Freundin, aber heute Morgen habe ich keine Lust, das ganze Wochenendchaos noch mal durchzukauen. Deshalb antworte ich nur knapp: „Das Übliche halt: Papa-Wochenende mit nervenden Jungs und zum Abschluss noch Stress mit Mama.“
Josi nickt verständnisvoll. „Ich dachte schon, es wäre was wirklich Schlimmes!“
Ich zucke innerlich. Bisher war Josis Leben schlimmer als meins. Ihr Papa rastet regelmäßig aus und im Moment darf Josi ihn gar nicht besuchen. Aber das mit dem Baby ist ja wohl auch eine heftige Nummer! Vielleicht erzähle ich ihr später davon. Jetzt heißt es erst Mal, die Schule mit diesen Monsterkopfschmerzen zu überleben. Am liebsten würde ich den ganzen Tag einfach nur schlafen!
In der ersten Stunde haben wir Mathe bei Frau Menning, unserer Klassenlehrerin. Mathe ist nicht meine Stärke, aber die Lehrerin ist meistens cool drauf.
Nanu? Vorn an der Tafel steht ein fremdes Mädchen. Was die hier will? Sie hat braune lange Locken und fröhliche Augen und trägt ein knallpinkfarbenes T-Shirt – auch irgendwie fröhlich.
Wieso gefällt mir genau jetzt überhaupt nicht, dass ich nur dunkle Sachen trage, am liebsten Grau? Ich setze mich auf meinen Platz in der letzten Reihe und starre das Mädchen an. Jetzt schaut sie zurück und lächelt – auch fröhlich! Krass. Wie kann man Montagmorgen nur so fröhlich sein? Ich schüttele den Kopf und starre auf Josis Rücken in der ersten Reihe. Voll doof, Frau Menning hat uns am Freitag auseinandergesetzt, weil wir zu viel quatschen. Jetzt hat jeder von uns einen Platz neben sich frei. Dann wird Mathe jetzt noch langweiliger. Egal, Hauptsache, ich schlafe nicht ein!