Читать книгу Herzsplitter - Kirsten Brünjes - Страница 8
ОглавлениеDebbie
Hallo, ich wollte einfach nur nett sein! Das macht man so.
Die Haustür fällt laut ins Schloss. Ich atme tief ein, die kühle Morgenluft tut gut. Meinen Schulweg bin ich gefühlt schon hundert Mal auf Google-Maps gegangen. Ich bin sicher, dass ich mich nicht verlaufen werde. Papa hatte angeboten, mich zu bringen, aber das wollte ich nicht. „Ich möchte an einem ganz normalen Schultag ganz normal zur Schule gehen, wie alle anderen in meiner Klasse auch. Bestimmt werde ich schon einige unterwegs treffen“, habe ich beim Frühstück gesagt.
Hannah hat große Augen gemacht. „Du kennst die doch noch gar nicht!“
„Stimmt und stimmt nicht“, habe ich ihr geantwortet. „Ich hab mir auf der Homepage der Schule die Klassenfotos aus dem letzten Sommer angeschaut. Das ein oder andere Gesicht erkenne ich vielleicht wieder.“
Hannah hat nur den Kopf geschüttelt. „Abgefahren. Auf so ’ne Idee würde ich niemals kommen. Also, Papa, mich kannst du zur Schule bringen. Ich hab noch keine Klassenkameraden gestalkt!“
Ich habe nur mit den Augen gerollt. „Ich stalke nicht. Ich bereite mich vor!“
Aaron war, glaube ich, von uns Dreien am aufgeregtesten; er konnte überhaupt nicht still sitzen. „Wer bringt mich eigentlich zur Schule?“, hat er gefragt und dabei fast seine Milch umgekippt.
„Das mache ich“, hat Mama geantwortet. „Du hast aber noch ein wenig Zeit!“
Für Mamas Arbeit ist der Umzug kein Problem. Sie arbeitet als Übersetzerin, und da spielt es keine Rolle, von wo aus sie das macht. Sie sitzt am Schreibtisch und alles geht online. Ihre Kunden merken nicht einmal, dass sie umgezogen ist. Ich finde es gut, dass Mama immer zu Hause ist, wenn ich komme. Und meistens hat sie Zeit für mich, Hannah und Aaron.
Jetzt stehe ich auf dem Bürgersteig. Zur Sicherheit habe ich mein Handy doch eingeschaltet und verfolge den kleinen Punkt, der sich auf dem Display in Richtung Schule bewegt.
Nach knapp fünfzehn Minuten stehe ich vor dem modernen Gebäude des Gymnasiums. Viel Glas und Beton bilden die Fronten, begrünte Flächen auf dem Hof lassen das Ganze freundlicher wirken. Ein paar Schüler stehen in kleinen Gruppen zusammen. Ich atme noch einmal tief ein und gehe dann hinein. Wir waren vor drei Wochen zur Anmeldung hier und ich habe meinen Stundenplan mit den Namen der Lehrer und den Raumnummern bekommen. Jetzt suche ich den Raum 25. In der zweiten Etage sind die neunten Klassen untergebracht. Schön, dass hier alles strukturiert ist, so fühle ich mich am wohlsten. Schnell habe ich die Klasse 9c gefunden.
Es ist sehr laut im Klassenzimmer. Zögerlich betrete ich den Raum und stelle mich neben die Tafel. Ein wenig unsicher lasse ich meinen Blick durch die Klasse schweifen: Einige Schüler sitzen auf ihren Plätzen und unterhalten sich. In der ersten Reihe sitzt ein blasses Mädchen mit schwarzem Pullover und ist in ihr Handy vertieft. Ihre Daumen schnellen über die Buchstaben, zwischendurch zucken ihre Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln. In der zweiten Reihe sitzen drei Mädchen dicht beieinander. Sie sind deutlich geschminkt, haben die Haare gestylt und Gel-Nägel. Die Mittlere erzählt und die anderen beiden hängen an ihren Lippen. Dann fällt mein Blick in die letzte Reihe. Dort sitzt ein hübsches Mädchen mit wilden Haaren. Sie starrt nach vorne und blickt mich direkt an. Ich spüre förmlich die Verzweiflung und Traurigkeit in ihren müden Augen. Sofort fällt mir das Gespräch mit Aaron von gestern Abend ein.
Ich erkenne, wenn jemand Hilfe braucht, und freunde mich dann mit ihm an. Also lächele ich dem Mädchen freundlich zu.
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ein großer dunkelhaariger Junge und ein kleiner Blonder grölend eine Trinkflasche durch den Raum werfen. Ein Mädchen läuft kreischend zwischen den beiden Jungs hin und her.
„Hört sofort auf!“, ruft sie wütend. „Ich sag’s Frau Menning!“
Die Flasche fliegt in hohem Bogen auf die Tür zu. In diesem Moment kommt die Lehrerin herein und fängt reflexartig die Flasche. Alle haben es gesehen und es ist für einen Moment mucksmäuschenstill. Dann klatscht der große Dunkelhaarige langsam in die Hände. Nach und nach schließen sich einige Schüler an. Frau Menning hebt die Hand und es wird wieder ruhig. Sie geht zum Pult und beginnt die Mathestunde.
„Guten Morgen allerseits. Ich nehme an, ihr hattet ein erholsames Wochenende, wenn ihr schon so sportlich unterwegs seid. Leo, kannst du mir erklären, wem diese Flasche gehört?“
Der streicht sich verlegen die Haare zur Seite. „Da muss ich mal nachdenken. … Ja. Ich hab’s. Die gehört der Sophia, glaub ich.“
Das Mädchen funkelt ihn böse an.
Die Lehrerin fährt ruhig fort: „Und kannst du mir auch erklären, wie die Flasche in die Flugbahn geraten ist, die sie dann genau in meine Hand geleitet hat?“
Leo grinst. „Na, ich glaube, ich hab sie geworfen.“
Frau Menning nickt. „Dann haben wir beide tatsächlich dasselbe gesehen. Ich schlage vor, du holst dir die Flasche bei mir ab, bringst sie zu Sophia und entschuldigst dich nett bei ihr. In der Zeit trage ich den Vorfall ins Klassenbuch ein!“
Leo fällt beinahe die Kinnlade runter. „Nee, das geht gar nicht! Also das mit dem Entschuldigen. Der Eintrag ist okay.“
Frau Menning fixiert Leo streng. „Und wie das geht, sonst kannst du dir auch noch eine saftige Strafarbeit abholen!“
Leo steht widerwillig auf, geht nach vorn und holt sich die Flasche bei der Lehrerin ab. Vor Sophia bleibt er stehen, und alle warten gespannt auf die Entschuldigung. Plötzlich lässt er sich auf die Knie fallen und hebt seine Arme. „Liebste Sophia, kannst du mir noch dieses eine Mal verzeihen?“
Sophia wird knallrot und die ganze Klasse grölt vor Lachen.
Frau Menning bleibt immer noch ruhig.
„Leo, ich hatte von einer ernsthaften Entschuldigung gesprochen! Ich trage jetzt zusätzlich ins Klassenbuch ein: ‚Leo verarscht Sophia!‘, und stelle dann in Gedanken schon Mal die Strafarbeit zusammen. Du bekommst jetzt eine zweite Chance für die Entschuldigung, ansonsten haben wir einen dritten Eintrag, und das bedeutet: Deine Eltern bekommen Post von der Schule.“
Leo steht auf, hält Sophia kurz die Hand hin und murmelt: „Tschuldigung!“, dann setzt er sich schnell hin.
Jetzt wendet sich Frau Menning mir zu. „Guten Morgen, ich nehme an, du bist die neue Schülerin. Herzlich willkommen in unserer Klasse! Das war jetzt kein perfekter Empfang, aber du siehst, wie es hier zugeht. Möchtest du dich kurz vorstellen?“
Irgendwie habe ich mir das anders vorgestellt. Aber was bleibt mir anderes übrig? Ich nicke tapfer. „Mein Name ist Deborah Gardner und ich bin 15 Jahre alt. Wir sind am Wochenende hierhergezogen. Vorher habe ich in Bremen gewohnt. Ach ja, und ich habe noch zwei Geschwister.“
Nachdem auch alle anderen Schüler ihre Namen genannt haben, lässt die Lehrerin ihren Blick durch den Klassenraum schweifen. „Zurzeit haben wir zwei Plätze frei, hier vorne bei Josefine und hinten bei Charlotte. Möchtest du dir einen Platz aussuchen?“
Ich entscheide sofort. „Ich gehe in die letzte Reihe.“ Wieder lächele ich dem Mädchen mit den wilden Haaren freundlich zu. Langsam gehe ich durch den Raum und spüre von allen Seiten die Blicke der anderen Schüler. Mit einem kurzen „Hallo“ setze ich mich auf den Stuhl neben Charlotte und packe meine Mathesachen aus.
Frau Menning geht zur Tafel und verkündet: „Am Freitag schreiben wir unsere nächste Mathearbeit. Thema: Binomische Formeln und quadratische Funktionen. Außerdem werde ich wieder einige Textaufgaben stellen und erneut das große Einmaleins abfragen, da Kopfrechnen nach wie vor eine Katastrophe in dieser Klasse ist. Ich verteile nun ein Übungsblatt mit ausreichend Aufgaben, damit ihr euch vorbereiten könnt. Starten wir aber erst mal mit den Hausaufgaben. Hat jemand seine Aufgaben nicht gemacht?“
Meine neue Sitznachbarin sackt zusammen. Zögernd meldet sie sich.
„Ja, Charlotte?“, fragt Frau Menning.
„Also – ich habe die Aufgaben nicht. Mir ging es nicht so gut, und meine Mutter hat eine Entschuldigung geschrieben“, erklärt Charlotte.
Frau Menning kommt zu uns, während das Mädchen neben mir die Entschuldigung aus ihrem Heft kramt.
Die Lehrerin liest den Zettel und runzelt die Stirn. „Englisch?“
Charlotte windet sich heraus: „Englisch und Mathe natürlich, das muss meine Mama irgendwie vergessen haben, wenn da nur Englisch steht.“
Frau Menning blickt das Mädchen prüfend an. „Geht es dir denn jetzt gut?“
Charlotte setzt eine Leidensmiene auf. „Nicht wirklich. Ich habe Kopfschmerzen und mir ist schlecht. Aber geht schon.“
„Willst du lieber nach Hause gehen? Oder dich abholen lassen?“, hakt die Lehrerin nach.
Charlotte fasst sich an den Kopf. „Nee, muss nicht sein. Wenn es gar nicht mehr geht, melde ich mich schon.“
Ohne, dass ich es will, rutscht mir eine Frage heraus. „Möchtest du eine Schmerztablette?“
Frau Menning wundert sich. „Du hast Schmerztabletten dabei?“
Wie oft habe ich das schon erklärt: „Ich hatte vor drei Jahren einen Unfall und habe seitdem oft starke Kopfschmerzen. Meistens bekomme ich das so hin. Aber für den Notfall habe ich immer eine Tablette dabei. Die kann Charlotte gerne haben. Heute geht es mir gut! Das Medikament ist für Kinder gut verträglich!“
Habe ich jetzt wirklich ‚Kinder‘ gesagt? Wie peinlich, wir sind fünfzehn Jahre alt.
„Ich weiß nicht, ob wir Charlotte deine Medikamente geben sollten. Mir wäre es lieber, du würdest zum Arzt gehen oder dich abholen lassen.“ Die Lehrerin ist echt besorgt.
Der Lärmpegel in der Klasse ist inzwischen mächtig angestiegen, Frau Menning bittet laut um Ruhe – und so ist die Unterhaltung erst einmal zu Ende.
Erleichtert steckt Charlotte das Heft zurück in die Tasche. Ich beobachte sie aus den Augenwinkeln. Mathe scheint ihr nicht zu liegen. Sie kaut auf ihrem Stift, schreibt Zahlen und streicht sie wieder durch. Ich wende den Blick ab und konzentriere mich auf den Unterricht. Der Stoff ist mir bekannt, und es fühlt sich leichter an sich zu melden als die ganzen neuen Eindrücke zu verarbeiten. Trotzdem schaue ich immer wieder zu Charlotte rüber. Jetzt schließt sie die Augen, fasst sich an die Schläfen und stöhnt leise.
Ich deute auf die Tablette in meinem Etui. „Kannst die wirklich haben!“
Charlotte flüstert: „Nee, danke. Ich weiß nicht, was mir mehr wehtut: der Kopf oder quadratische Funktionen.“
Ich muss grinsen. „Gegen die Schmerzen gilt mein Angebot mit der Tablette, und quadratische Funktionen kann ich ganz gut. Wenn du Hilfe brauchst, sprich mich an!“
Frau Menning hat unser Gespräch bemerkt. „Ja, Charlotte, wie lautet das Ergebnis?“ Charlotte schrickt zusammen und starrt dann auf ihre leere Heftseite.
Ich stupse sie unter dem Tisch mit dem Fuß an und schiebe mein Heft in die Mitte. Langsam unterstreiche ich mit einem Textmarker die Formel.
Meine Banknachbarin räuspert sich und liest vorsichtig ab: „(a + b)2 = a2 + 2ab + b?“
Die Lehrerin nickt erstaunt, und bevor sie eine weitere Aufgabe landen kann, klingelt es zur Pause.
Charlotte dreht sich zu mir um. „Warum tust du das?“
Ich räume meinen Rucksack ein. „Weil du die Aufgabe nicht wusstest“, antworte ich und bin irritiert.
Charlotte funkelt mich böse an. „Das ist kein Grund! Du spazierst hier in die Klasse rein, strahlst mich an, bietest mir deine Tablette an, löst meine Aufgabe und schlägst mir noch Mathe-Nachhilfe vor. Habe ich um irgendetwas gebeten? Sehe ich aus, als ob ich in Not bin?“
Das tut weh! Sollte ich mich doch geirrt haben bei meiner Beobachtung? Ich sehe Charlotte in die Augen und sehe immer noch diese Traurigkeit.
„Hallo – ich wollte einfach nett sein! Das macht man so!“, sage ich und schiebe nach: „Und ob du in Not bist, weißt du wohl am besten selber.“ Verärgert stehe ich auf und gehe aus dem Raum. Ich bekomme noch mit, dass Josefine aus der ersten Reihe zu Charlotte läuft und grölt: „Hey, Mathe-Ass, wie hast du das denn hinbekommen? Und was ist mit der Neuen, zickt die rum?“