Читать книгу Marder ahoi! Eine mörderische Kreuzfahrt - Kirsten Klein - Страница 10
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ОглавлениеWie gebannt schaut Mistie den Wellen zu, schaut und schaut – und vergisst alles andere. Sie sind laut. Viel zu spät hört er einen kleinen Jungen rufen: „Guck mal, Sabrina, da sitzt was, da oben auf dem Rettungsring!“
Mistie wagt sich nicht zu rühren, versucht durch sein Gehör, den Standort seiner Entdecker zu orten. Gesehen haben sie ihn. Daran ist nichts mehr zu ändern, aber erwischen werden sie ihn nicht, beschließt der Marder. Und zum Glück haben Kinder ja keine Gewehre.
Peng – knallt etwas an seiner Wange vorbei und prallt am Geländer ab, eine Walnuss. Mistie entschließt sich zur sofortigen Flucht, springt vom Rettungsring herunter und rast dicht am Netz entlang. Unterwegs sammelt er schnell noch die Nuss vom Boden auf. „Ein Frettchen!“ „Nein, ein Eichhörnchen!“, streiten sich hinter ihm die Geschwister David und Sabrina.
Frettchen – Eichhörnchen... Mistie glaubt nicht richtig zu hören, würde eine Beleidigungsklage einreichen, wenn er ein Mensch wäre.
„Ich versuch' es noch mal mit meiner Schleuder. Hast du noch eine Nuss, Sabrina?“
Mistie weiß nicht genau, ob er das hoffen oder doch besser fürchten soll.
„David, Sabrina!“, ruft die Mutter ihre Rangen zurück. „Kommt endlich frühstücken!“
Frühstücken – unweigerlich hat Mistie vor Augen, wie Mama im Morgengrauen mit einem frischen Hühnchen ankommt. Seltsam – fast glaubt er es sogar zu riechen. Steht es schon so schlimm um ihn, dass ihm Halluzinationen zusetzen? Seine menschlichen Verfolger ist er immerhin los, verharrt atemlos und schaut sich um. Vor sich sieht er einen endlos langen Gang, an dessen Außenseite weitere Rettungsringe hängen. Es wird Zeit, Duftmarken zu setzen.
Nachdem Mistie das erledigt hat, folgt er dem Gang. Passagiere kommen ihm entgegen. Er wechselt die Seite. Dort ist kein Netz, nur eine hohe Wand. Er sucht nach Ausweichmöglichkeiten. Als er keine findet, drückt er sich fest gegen die Wand und will am liebsten in ihr verschwinden, aber sie gibt seinem Druck kein bisschen nach. Zum Kuckuck, gibt’s denn hier nirgendwo einen Baum, auf den man klettern kann? Mistie erstarrt und presst seinen Bauch an den Boden, macht sich platt wie eine Flunder. So nah, dass ihr Fußschweiß ihm in die Nase sticht, gehen zwei Männer links und rechts von einer Frau an ihm vorbei. Dabei nimmt Mistie noch etwas anderes wahr: Die Kerle sind offenbar in Paarungsstimmung. Nun ja, es ist Frühling. Kein Wunder, dass die nicht auf den Boden achten, schon gar nicht auf einen kleinen Marder.
Zum ersten Mal in seinem Leben ist Mistie froh darüber, dass diese Zweibeiner ihre Nase so hoch tragen, und bei denen hier scheint es ihm besonders ausgeprägt zu sein. Weiter huscht er an der Wand entlang, den Bauch noch immer dicht über dem Boden.
Plötzlich endet sie an einer Treppe, die wiederum in eine einladend offen stehende Tür mündet. Himmlische Düfte nach Fleisch, Fisch und Früchten wabern die Stufen hinab, direkt vor Misties Nase. Wie einst Odysseus den Sirenen, folgt er ihnen und hoppelt die Stufen hinauf. Doch leider dringen durch die Tür nicht nur lockende Düfte, sondern auch menschliche Stimmen und andere Geräusche, die Mistie nicht einordnen kann. Sollte er nicht doch besser umkehren?, fragt er sich.„Nichts da!“, brummt sein Magen und treibt ihn voran. „Na gut, aber beschwer' dich später nicht bei mir, wenn wir in einem fremden Magen landen“, warnt Mistie.
Nach einem Flur hinter der Tür, erhellt Tageslicht einen weitläufigen Raum. Mistie war noch nie in einer menschlichen Behausung, hat aber schon gelegentlich durch Fenster und Terrassentüren gespickt und das Treiben mancher Zweibeiner beobachtet. Jetzt erkennt er zwei der Stimmen von vorhin – eine ältere und eine junge, beide männlich. Sehen kann er nur beschuhte Füße und weiß behoste Beine und das auch nur ab und zu zwischen Schränken, Tischen, Anrichten, Servierwagen und Stühlen. Von überall her strömen unwiderstehliche Düfte zu ihm, kitzeln seine Nase und locken ihn mit ihren Reizen.
Erregt trippelt Mistie umher. Sobald einer der beiden Männer sich ihm nähert, huscht er hinter eine Anrichte oder einen Servierwagen, wo ihn weitere verführerische Düfte erwarten.
Plötzlich kann er gerade noch einen Aufschrei unterdrücken.
Wer ist dieses Zerrbild eines Marders, das ihn da aus einer silbern glänzenden Wand anglotzt? Mistie bewegt sich – sein Gegenüber auch. Mistie verharrt, reißt sein Maul auf, weicht zurück, geht drohend auf den anderen zu... Egal, was der junge Marder macht, der andere macht es ebenfalls.
Jetzt reicht's Mistie, er will ihn in die Nase beißen und stößt gegen harten Edelstahl. Nichts wie weg hier, der Klügere gibt nach! Mistie weicht in einen anderen Gang aus. Lieber einem leibhaftigen Menschen begegnen als einem Marder, der gar keiner ist!
Der jüngere, ein Schiffskellner, schiebt einen beladenen Servierwagen auf Mistie zu. Der huscht davon und gerät beinahe dem älteren, dem Chefkoch, zwischen die Füße. Der trägt ein Tablett mit einem englischen Frühstück darauf und sieht ihn deshalb nicht. „Warte, das kommt noch dazu!“, ruft er und stellt das Tablett auf den Servierwagen.
Mistie leckt sich über die Schnauze. Hmhm... Eier, Fleisch – und irgendeine Frucht, die er noch nicht kennt, aber sehr gern kennenlernen möchte. Seine Lefzen fließen über und Speichel tropft auf den Boden.
Mistie wartet, bis beide Männer sich entfernt haben, springt dann über einen Stuhl auf den Servierwagen, und zieht ein Würstchen vom Teller auf dem Tablett. „Ah! Das ist ja heiß!“, quiekt er, lässt es vor Schreck fallen, schnappt sich das danebenliegende Spiegelei und verzieht sich damit auf den Flur.
Leider ist auch das viel zu heiß, weshalb Mistie es nur langsam verzehren kann. „He!“, hört er den Chefkoch schimpfen. „Dein verdammter Kater hat ein englisches Frühstück versaut!“
Mistie ist entsetzt. Hat der etwa auch einen Kater? Neugierig spickt er um die Ecke und sieht, wie der Kellner auf den Chefkoch zugeht. „Mein Kater? Der war doch gar nicht hier drin. Immer, wenn dir was daneben geht, schiebst du es auf meinen unschuldigen Kater.“
Der Chefkoch deutet auf Misties Speichelflecken. „Willst du etwa behaupten, ich spucke auf den Boden, hä, willst du das?“
„Nein“, entgegnet der Kellner beschwichtigend, „natürlich nicht. Aber mein Kater war das nicht.“
Wie recht er hat, denkt Mistie. Erleichtert schließt er aus dem Disput der beiden, dass keiner ihn gesehen hat und leckt sich die letzten Dotterreste von der Schnauze. Das Ei war köstlich!
Gestärkt schlendert Mistie durch den Flur, ein zufriedenes Grinsen auf den Lefzen. Doch das vergeht ihm sogleich. Im Türrahmen steht eine imposante dunkle Gestalt, umhüllt von einem Kranz aus Sonnenstrahlen, eine Bürste von Schwanz steil erhoben und den Rücken nach oben gewölbt.
Ohne sich mit Überlegungen aufzuhalten, ob das nun der Kater des alten Dünnen oder des Kellners ist, versucht Mistie, an ihm vorbei und nach draußen zu flitzen, aber das Biest reagiert erstaunlich schnell und lässt ihn nicht. Also bleibt ihm nur die Flucht zurück.
Nach ein paar Sprüngen versperrt der Servierwagen Mistie den Weg. Von einer großen Edelstahlplatte mit Rührei steigt eine unwiderstehliche Duftwolke auf. Der Kellner kehrt Mistie gerade den Rücken zu, greift nach irgendwas. Schwups – landet der Marder mitten im Rührei und versinkt geradezu darin, wühlt sich hinein wie ein Maulwurf.
Sein Vergnügen währt nur kurz. Ein schrilles Klirren ertönt und über ihm wölbt sich die Abdeckhaube aus Edelstahl. Mistie ist gefangen. In unmittelbarer Nähe wittert und hört er den Kater.„Hau ab!“, donnert der Chefkoch, „oder ich mach' einen falschen Hasen aus dir!“ Entrüstet maunzend, beschwert sich der Kater bei dem Kellner. „Nur über meine Leiche!“, ruft der auch gleich.
„Ich bin noch immer der Küchenchef“, entgegnet der Chefkoch,„und in meiner Küche hat kein Viech was zu suchen!“
„Ach“, hört Mistie den Kellner lästern, „aber die stinkreichen Tussis mit ihren nutzlosen Schoßhündchen. Captain Nemo hält uns wenigstens die Ratten vom Hals.“
Captain Nemo, so folgert Mistie, das muss dieser Riesenkater sein – offenbar ein hohes Tier, wenn ein Mensch ihn so verteidigt.
„Von diesen 'stinkreichen Tussis', mein Lieber...“ Mistie hält den Atem an, vernimmt den des Chefkochs direkt über sich. Dann glaubt er, Opfer eines Erdbebens zu werden, aber es ist nur eine Faust, die neben ihm aufschlägt. „...von diesen 'stinkreichen Tussis' leben wir!“
„Schlimm genug“, meint der Kellner kleinlaut. „Außerdem – Nemo fährt doch gar nicht auf Spiegeleier ab?“
Apropos fahren – abermals wird es unruhig unter Misties Po. Der Servierwagen wird in Bewegung gesetzt, mit ihm an Bord!Was soll er bloß tun?
Weil ihm nichts anderes übrig bleibt und er es nicht erträgt, sich untätig in sein Schicksal zu ergeben, frisst Mistie sich durch das Rührei. Dabei platzt sein Magen mittlerweile schier aus allen Nähten.
Unendlich lang erscheint ihm die Fahrt. Obendrein hat er dauernd dieses nervende Klirren und Scheppern in seinen empfindsamen Ohren. Ansonsten ist es still. Der Kater muss sich verzogen haben. Wenigstens etwas, versucht Mistie sich zu trösten. Dann aber vernimmt er von fern vielstimmiges Menschengemurmel. Es kommt näher – vielmehr, er nähert sich ihm. Einzelne Stimmen ragen daraus hervor. Das Klirren und Scheppern verstummt. Der Wagen steht. Was nun?
Vorsichtig versucht Mistie, die Kuppel über sich auf der Platte zu verschieben. Es gelingt ihm besser, als er dachte. Nur – wie soll er wissen, ob eine Flucht jetzt ratsam ist, wo ihn doch so viele menschliche Stimmen umgeben? Eine erkennt er sogar, die eines Mädchens. „Mama, David und ich, wir haben vorhin an Deck ein Frettchen gesehen.“
„Ein Eichhörnchen“, widerspricht David.
„Nein, was für eine Fantasie die beiden haben!“, staunt eine ältere Frau. Der Vater der Kinder erklärt wissend: „Tiere gibt es hier nur auf Tellern und Platten.“
„Wie recht er hat“, schmunzelt Mistie leise vor sich hin, „sogar auf Silberplatten“. Im selben Moment wittert er jedoch, dass er sich irrt. Der Riesenkater? Nein, es ist ein... ein...
„Stimmt nicht, Papa!“, ruft Sabrina, „da, auf dem Schoß von der Frau, da sitzt ein Hund.“
„Ein Hund“, entfährt es dem Vater verächtlich. „Wenn man das mal so nennen kann, sieht eher aus wie ein Meerschweinchen.“ Meerschweinchen??? Mistie platzt fast vor Neugierde. Schon immer will er wissen, wie genau ein Schwein aussieht. Jetzt könnte er sogar eines sehen, das offenbar aus dem Meer kommt und wie ein Hund riecht. Er will raus und schiebt den Deckel über sich bis zum Plattenrand, wird aber in letzter Sekunde von seiner Angst gestoppt. Schließlich sind auch noch die vielen Menschen anwesend.
„Lady Schätzchen, du legst dich jetzt brav unter den Tisch, während wir frühstücken“, bittet Sophia, aber die Minihündin stellt beide Ohren auf Durchzug. Ausgerechnet jetzt, wo gleich so viele Köstlichkeiten vor ihr auf dem Teller liegen, da soll sie sich wie ein gewöhnlicher Hund benehmen.
Anton lacht spöttisch. „Ach Sophia, ist ja wieder mal toll, wie sie horcht.“
„Sei du mal ganz ruhig, Tönchen“, kontert Sophia. „Oder hast du etwa schon vergessen, wer uns geweckt hat, wem wir es also verdanken, dass wir unserem Schiff nicht hintersehen mussten?“ „Wau, wau“, äfft Anton, „unserer 'lieben' Lady.“
Die könnte sich jetzt noch in den Schwanz beißen, vor Wut auf sich selbst.
„Wobei es mir wirklich schleierhaft ist“, meint Anton mit misstrauischem Seitenblick auf Sophias Schoß, „wie der Wecker Beine bekommen konnte und wo er abgeblieben ist.“
„Anton“, warnt Sophia mit freundlicher Stimme, aber wenn sie ihn so nennt, läuten bei ihm unweigerlich die Alarmglocken.
„Du weißt genau, wie sehr es mich verletzt, wenn du ungerecht gegenüber Lady bist.“
Ätsch!, denkt die Hündin, dekorativ wie eine Sphinx auf Sophias Schoß, und fixiert ihn siegessicher. So klein ich auch bin, du bist mir trotzdem nicht gewachsen, du nicht!
Seufzend gibt Anton klein bei – vorerst.
„Außerdem“, meint Sophia, „ist das Buffet ja noch gar nicht eröffnet. Erst muss der Kapitän seine Begrüßungsansprache halten.“
Mistie hat den menschlichen Dialogen nur halbherzig zugehört. Schließlich plagen ihn andere Sorgen. Aber Sophias letzte Bemerkung lässt ihn instinktiv aufhorchen. Buffet eröffnen, Begrüßungsansprache, das betrifft auch ihn – aber was soll es bedeuten?
Eine andere Stimme, die er bereits kennt, unterbricht seine Gedanken. Sie gehört dem Begleiter des Dicken im Rollstuhl, dem dünnen Alten. Der weist gerade auf Lady. „Das muss der Hund sein, der unsere Tasche zernagt hat.“
„Dann hat der meinen Speck ge...“, platzt Dick heraus, unterbrochen vom Dünnen. „Sei still! Eigentlich sollte ich der Töle dankbar sein, weiß jetzt wenigstens, dass du mich hintergehst. Aber – stopf ruhig weiter fetten Speck in dich rein, dann brauchst du bald drei Stühle zum Sitzen.“
Buffet eröffnen, eröffnen... Unaufhörlich kreisen die Worte durch Misties Kopf. Er ahnt nichts Gutes, jedenfalls für sich, muss unbedingt ausprobieren, wie schnell er notfalls hier heraus kann. Mit Schnauze und Vorderpfoten versucht er, zwischen die Platte und den Rand des Deckels zu kommen, ihn anzuheben. Aber es ist nicht leicht. Erschwerend kommt hinzu, dass mittlerweile mehr Rührei in seinem Bauch ist als auf der Platte. Autsch! Mühsam unterdrückt der Marder einen Aufschrei, hat sich eine Pfote eingeklemmt, will sie zurückziehen.
„Verehrte Gäste“, ertönt unterdessen die sonore Stimme des Kapitäns. „Ich darf Sie recht herzlich zu unserer Kreuzfahrt auf der MS Viktoria begr...“ Ein Klirren lässt ihn kurz innehalten. Dann räuspert er sich und fährt fort: „Ähem... Ich begrüße Sie recht herzlich zu unserer Kreuz...“
Klirr, schepper, peng! Durch Misties Versuche, seine Pfote wieder frei zu bekommen, hat sich der Deckel zu weit verschoben und fällt lautstark zu Boden.
So geschwind, dass keiner es mitbekommt, springt er vom Servierwagen und huscht durch eine offenstehende Tür davon.
„Da ist ja kaum was drauf“, flüstert ein Passagier und blickt auf das restliche Rührei. „Na, das kann ja heiter werden, wenn die Verpflegung so mickrig ist – und das bei den Preisen.“