Читать книгу Marder ahoi! Eine mörderische Kreuzfahrt - Kirsten Klein - Страница 9
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ОглавлениеMarder Mistie schläft so tief und fest wie noch nie, merkt nicht einmal, dass sich sein „Bett“ jetzt tatsächlich bewegt – in engen Kurven durchs nobelste Wohnviertel und dann zum Hafen.
Als er erwacht, fühlt er sich immer noch mardermüde, kriegt seine Augen kaum auf. Sein Schädel brummt, als tummelten sich tausend Bienen darin. Und von außen kommen noch mal tausend dazu oder was ist das? Menschen – viele, viele Menschenstimmen um ihn herum!
Blinzelnd ertastet Mistie sein Umfeld, erfühlt Schläuche, Kabel, und Motorteile seines Benz'. Der steht inzwischen, ist aber noch warm. Nichts Gutes ahnend, blickt Mistie zwischen den Schläuchen unter sich hindurch zum Boden. Der sieht anders aus – und ist so hell. Was hat ihn geweckt, obwohl er doch noch viel zu müde zum Aufwachen ist? Irgendwas ist passiert, aber was? Mistie kratzt sich seinen schmerzenden Kopf. Was fehlt ihm bloß? Ist er etwa krank?
Er kommt nicht dazu, darüber nachzudenken. Das Menschenmeer um ihn herum ertränkt jeden vernünftigen Gedanken im Keim.
Plötzlich ertönt hinter ihm ein schreckliches Getöse. Nimmt da jemand seinen Benz auseinander? Mistie lässt sich auf den Boden fallen. Jedes Knöchelchen in ihm rebelliert vor Schmerz. Der Boden sieht nicht nur anders aus, er fühlt sich auch anders an. Und alles ringsumher riecht nach Menschen.
Kein Zweifel – er ist nicht mehr in seinem Wohnviertel, aber wo ist er dann?
Ein ohrenbetäubender Knall hinter ihm unterbricht erneut seine Gedanken. Fast wäre er unter dem Benz hervorgerannt und zwischen die Menschen geraten.
Da rollt plötzlich etwas von hinten direkt neben die Beifahrertür und hält dort. Knapp über vier Rädern sieht Mistie eine Ladefläche mit großen Koffern und Taschen darauf. Alle riechen nach Leder, aber der einen Tasche entströmt zusätzlich ein unwiderstehlicher Duft nach fettem Fleisch.
Das ist zu viel für Misties ausgehungerten Magen! Zack – schon ist er vom Benz auf den Rollstuhl umgestiegen, sitzt nun auf besagter Tasche und versucht, sich zu der köstlichen Speise durchzubeißen. Aber die Tasche gibt ihren Schatz nicht so leicht preis, widersteht zunächst Misties spitzen Zähnen. Nur mühsam können sie sich durch das zähe Leder bohren.
Zum Glück schützt die Sitzfläche des Rollstuhls sowie das übrige Gepäck den Marder vor menschlichen Blicken. Er selbst achtet nämlich gar nicht mehr darauf, so stark brodelt die Wut in ihm und überlagert all seine Angst. Er wird dieses „Biest“ ausnehmen, er wird... Plötzlich biegt sich das „Dach“ über ihm durch, und es riecht fatal nach mindestens hundertzwanzig Kilo Mensch. Dann scheint sich auch noch der Boden unter dem armen Mistie zu bewegen. An der Frontseite seines neuen Gefährts verdecken zwei stramme Waden in grauen Hosen fast völlig die Sicht, und auch sonst wimmelt es ringsumher nur so von Menschenbeinen und -füßen. Selbst wenn Mistie dazwischen mal was erhascht, erkennt er nicht, was es ist.
Doch immerhin – die Tasche hat kapituliert. Der Marder vergräbt seinen Kopf in ihr und würde am liebsten ganz darin untertauchen, aber sie ist zu voll. Alle Sinne vom aromatischen Speck betört, verschlingt Mistie hastig ein Stück und verbeißt sich ins nächste.
Die Tasche ist jetzt natürlich leerer, doch nicht nur deshalb vollführt Mistie einen Kopfstand darin. Unversehens ging es nämlich abwärts. Gleich danach kippt Mistie zurück und fühlt wieder Boden unter den Hinterpfoten. Aber nicht lange, denn nun geht es bergauf. Mistie rutscht rückwärts, den Kopf immer noch in der Tasche, und droht, von der Ladefläche des Rollstuhls zu stürzen. Doch ein Koffer hinter ihm hält Stand und stützt seinen Po.
Mistie klammert sich am Henkel der Tasche fest, kriegt den Kopf nicht mehr heraus. Vielleicht – wenn er den Speck loslässt...? Nein, das bringt er nicht über sein Marderherz. Er will da raus, aber nicht ohne seinen Speck!
Endlich gelingt es ihm. Doch zum Jubilieren bleibt keine Zeit. Der Rollstuhl wird wieder waagerecht geschoben, bleibt sogar stehen und Misties Herz beinahe auch, denn eine Menschenhand greift nach ihm. Nein, nur nach einer der Taschen – dann nach der nächsten, öffnet sie und wühlt darin herum.
Schneller als sein eigener Schatten, flieht Mistie mit einer Scheibe Speck über einen hellen Boden, der von der Morgensonne beleuchtet wird, und hält verzweifelt Ausschau nach irgendeiner Deckung. Endlich ein vertrauter Geruch – Holz. An einer Wand hangelt er sich hoch und landet mit seinem Speck auf der anderen Seite auf einem Holzboden. Holzwände umgeben ihn, eine davon gerade so hoch, dass er auf zwei Beinen über den Rand spicken kann, wenn er sich ganz lang macht. Erstaunt sieht er den Rollstuhl, sieht, dass auf dem vermeintlichen Dach ein unglaublich dicker Mann sitzt.
Daneben steht der alte Dünne, der im Wohnviertel aus dem Benz gestiegen und zum Haus getorkelt ist. Wann war das noch mal?Erst gestern, kurz vor Beginn der Morgendämmerung, doch Mistie scheint es bereits eine Ewigkeit her zu sein.
Der Dünne wirkt neben dem Dicken wie ein Grashalm neben einem Baum. Noch immer wühlt er in einer Tasche herum, zieht triumphierend drei Scheiben Speck heraus und hält sie dem Dicken vor die Nase. „Wusste ich's doch, du gerissener Schmuggler, kannst es einfach nicht lassen. Drei Scheiben fett...“
„Was, nur drei? Wo ist denn die vierte – und die fünfte?“ Das Gesicht des Dicken wird fast so rot wie der Speck.
„Fünf?“ Fassungslos wühlt der Dünne erneut in der Tasche. „Sei du bloß ruhig“, beschwert sich der Dicke. „Ich hab gehört wie du gestern, spät nach Mitternacht, stockbesoffen heimgekommen bist. Kein Wunder, dass du jetzt einen Kater hast.“
„Ich – einen Kater?“
Darüber wundert sich Mistie allerdings auch. Wo ist er denn?„Und was für einen dicken!“
Wenn dieser Kater so dick wäre, dann müsste Mistie ihn doch sehen. Das wird ihm langsam ungeheuerlich.
„Schieb' mich endlich weiter, wir kommen zu spät zum Frühstück“, schimpft der Dicke. „Das ist dir natürlich egal. Aber ich sag's dir gleich, ich will was Ordentliches, begnüge mich wegen dir mit keinem Katerfrühstück.“
Mistie horcht auf. Katerfrühstück? Und was wird aus ihm? Wo bleibt sein Marderfrühstück?
„Die Tasche ist ja kaputt, total zerbissen, die nagelneue Tasche!“, regt sich der Dünne auf. Daran bist nur du schuld“, hört Mistie ihn noch schimpfen, als er den Rollstuhl mit dem Dicken darauf längst aus seinem Blickfeld geschoben hat. Wirklich – Mistie versteht die Menschen nicht. Wie kann dieser Mann bloß glauben, dass der Dicke das zähe Leder zerbissen hat? Dazu bräuchte er schon ein Prachtgebiss wie seines! So was von überheblich, wieder mal typisch Mensch!
Zum Glück hat sich die Menge inzwischen verlaufen. Mistie schaut sich um und entdeckt, dass die hintere Holzwand etwa doppelt so hoch ist wie die vordere. Bevor er sich darüber wundern kann, wird er mit bunten Kugeln bombardiert, die selbst den heftigsten Hagelschauer übertreffen, den er je erlebt hat.
Mistie drückt sich in eine Ecke, das Gesicht schützend im Bauchpelz vergraben, und verharrt in Todesangst.
„Mach die Bocciakiste zu!“, hört er über sich jemanden rufen.„Jetzt spielt doch keiner.“ Darauf folgt ein Schlag, der Misties Trommelfell fast zum Platzen bringt.
Lange wagt er sich nicht zu rühren. Lebt er überhaupt noch? Es muss wohl so sein, denn sein Herz trommelt so schnell und laut wie ein Gewitterregen daheim auf's Dach. Bei der Erinnerung daran überfällt ihn zu seinen Kopfschmerzen obendrein Heimweh. Ach, könnte er sich doch bloß einmal noch so geborgen fühlen wie damals!
Als Mistie endlich den Kopf hebt, scheint es Nacht geworden zu sein, denn er sieht nichts, spürt jedoch überall um sich herum diese Kugeln. Er versucht, sich frei zu strampeln. Seine Nase bahnt sich einen Weg nach oben zum Atmen, während unter seinen Pfoten die verdammten Dinger immer wegrutschen. Das ist so anstrengend, dass sein Magen schon wieder knurrt – oder immer noch? Ist ja nichts Neues, mittlerweile ein Geräusch, das ihn ständig begleitet. Wenigstens darüber muss er sich nicht wundern, hat ja nur eine zähe kleine Maus vertilgt, ein bisschen Speck und dieses – wie nannte es sein Bruder gleich noch –, Bier. Bei der Erinnerung daran beschleicht ihn Argwohn. Irgendwie fühlt er sich hereingelegt. Dieses Gelächter aus dem Hinterhalt, kam das wirklich nur von „Big Brother“ allein?Mistie könnte kotzen, wenn er genug dafür im Magen hätte, als er sich der Erkenntnis nicht länger erwehren kann, dass ihn diese ganze elende Mardersippe schändlichst hereingelegt hat. Fast schämt er sich dafür, selbst einer zu sein.
Mannomann, ist das finster, sogar für seine Augen, die sonst absolute Spitze sind in der Nacht. Von irgendwo unter ihm, unter diesen Kugeln, dringt der aromatische Speckgeruch in seine Nase. Soll er versuchen, die Scheibe auszugraben?
Nein, zuerst will er hier raus. Aber auf der Kante, worüber er reingesprungen ist, liegt jetzt ein Deckel. Mit aller Kraft drückt Mistie dagegen – einmal, zweimal, dreimal. Endlich, ein bisschen hebt sich der Deckel und lässt durch einen schmalen Spalt Tageslicht in die Kiste.
Dann verlassen den jungen Marder seine Kräfte wieder. Also doch erst was essen? Er taucht zwischen den Kugeln nach dem Speck und hört über sich ein Quietschen. „Spielen wir eine Runde Boccia?“, fragt ein Junge und greift nach ein paar Kugeln. Mistie weicht nach weiter unten aus und hört entfernt einen anderen Jungen antworten: „Jetzt nicht, gibt doch gleich Frühstück.“
Mistie hält den Atem an, bekommt hier sowieso kaum Luft.
Nach unendlich lang anmutender Zeit spürt und hört er, wie der Junge die Kugeln wieder fallen lässt und sich entfernt. Dann taucht er auf und kann sein Glück kaum fassen. Der Deckel steht offen. Jetzt aber nichts wie raus hier!
Mistie sitzt auf dem hellen Boden. Wo zum Kuckuck ist er?Apropos Kuckuck – wenn er nur einen hören würde. Dann wüsste er, dass er im Wald sein muss.
Etliche Marderlängen vor ihm, endet der helle Boden an einem weißen Netz, wohinter weiße Querstäbe verlaufen. Das Netz müsste einem erwachsenen Menschen etwa bis an die Knie reichen. Darüber verlaufen noch weitere Querstäbe. Es ist ein Geländer, so wie Mistie im Wohnviertel schon oft welche neben Treppen gesehen hat. Aber über diesem hier schließt sich direkt der blaue Himmel an. Und seltsam rot-weiß geringelte Schlangen hängen daran, nebeneinander, riesengroß und dick –, als hätte jede mindestens zehn Katzen gefressen. Damit noch nicht genug! Sie scheinen alle gerade ihren Schwanz zu verschlucken, wobei man allerdings weder Köpfe noch Schwänze sieht.
Eine frische Brise weht Mistie um die Nase, irgendwie salzig. Er sieht sich um – kein Zweibeiner in Hör- oder Sichtweite. Diesen merkwürdigen Schlangen oder was immer es auch ist, traut er nicht, nähert sich ihnen mit gebührendem Respekt. Sie riechen nicht so, als wären sie lebendig und reagieren überhaupt nicht auf ihn.
Trotzdem ist Vorsicht angesagt und noch immer wird Mistie nicht das Gefühl los, zu schwanken. Seitdem er dieses elende Bier getrunken hat, ergeht es ihm so.
Hey – was war das? Er schnellt zurück, leckt sich verwundert einen Tropfen Wasser von der Nase. Regen – jetzt, bei strahlendem Sonnenschein? Und der schmeckt noch dazu salzig. Ob das von diesen „Schlangen“ dort am Geländer kommt? Er glaubt es kaum, denn die haben sich kein bisschen gerührt. Mistie will jetzt wissen, was das ist, läuft stracks darauf zu. Nur keine Angst zeigen, keine Angst. Beschwörend starrt er sie an – nichts, noch immer keine Reaktion. Jetzt hat er sie fast erreicht, muss sich auf die Hinterbeine stellen, um an einer zu schnuppern. Nein, was Lebendiges ist das auf keinen Fall, kann ihn also weder beißen noch schütteln. Er atmet auf, kneift hinein. Ein wenig erinnert es ihn an Autoschläuche, wie sympathisch! Hopp – schon sitzt Mistie im Rettungsring und versucht, von dort aus auf die Oberseite zu gelangen, rutscht aber auf der glatten Oberfläche immer wieder ab. Das macht ihn rasend! Noch eine Portion Entschlossenheit dazu, und es gelingt ihm, Krallen und Zähne in den Kunststoff zu schlagen und sich hoch zu arbeiten.
Endlich am Ziel, wirft Mistie einen Blick über das Geländer, zuckt zurück, schaut wieder und kann immer noch nicht glauben, was er sieht. Wasser spritzt in seine Augen. Weiß schäumt es unter ihm auf, bewegt sich in gewaltigen Wellen. Weiter entfernt, beruhigen sie sich allmählich und werden zu jener silbern glitzernden Oberfläche, die er von der Regenrinne aus immer so sehr bestaunt hat.
Ihm ist, als wäre das in einem anderen Marderleben gewesen. Als er Schiffe sieht, wird ihm klar, dass der Boden schwankt, nicht er. Kann es sein... Ja, kann es wirklich sein...? „Ich bin auf einem Schiff!“