Читать книгу Wenn ich wär, wie ich nicht bin - Kirsten Steineckert - Страница 10
SCHÖNHAUSER ALLEE
ОглавлениеSeit meinem 10. Lebensjahr wohnten wir in Berlin in der Schönhauser Allee. Die Wohnungen hatten wunderschöne große Zimmer mit Stuck an der Decke und, was besonders wichtig war in diesen Zeiten, ein Bad innerhalb der Wohnung. Es gab auch hier Hinterhöfe, dafür aber das volle Leben vorne raus. Da fuhren nicht nur die U-Bahn direkt vor unserem Fenster vorbei, sondern auch die Straßenbahn und Autos in zweierlei Richtungen.
In der zweiten Etage lebten wir in der ersten Zeit mit dem zweiten Mann meiner Mutter und seiner Tochter Christine zusammen. Nachdem er nach 3 Jahren ausgezogen war und Christine später nachholte, blieben meine Mutter und ich in der schönen Altbauwohnung zurück.
Ich wohnte in einem winzigen Kämmerchen, das direkt von der Küche abging. Es war das ehemalige Dienstbotenzimmer mit dazugehörigem Dienstbotenaufgang, der sich als außerordentlich praktisch für heimliche Rendezvous herausstellte.
Wenn meine Mutter nicht unbedingt bemerken sollte, dass mein Freund länger blieb als erlaubt, erklomm er die herrliche Wendeltreppe, die vom Hof direkt in die Küche führte, und so konnten wir unbemerkt miteinander die Zeit verbringen. Bis wir hörten, dass vorne die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, dann hatte er gerade noch genug Zeit, um über denselben Weg zu verschwinden.
Gerne schlief ich aber auch bei meiner Mutter, deren Schlafzimmer direkt an der Straße lag. In der Nacht sahen wir die Lichter der Autos über die Schlafzimmerdecke laufen. An den Krach hatten wir uns gewöhnt. Damals ahnte man noch nichts von Langzeithörschäden. Außerdem war der Autoverkehr lange nicht so schlimm wie heute.
So lagen wir oft nachts nebeneinander und konnten uns alles erzählen. Die intimsten Geheimnisse vertrauten wir uns an, stundenlang war sie bereit, mir zuzuhören, das eine oder andere zu- oder abzuraten und kurz vor dem Einschlafen legte sie ihre Hand in die Mitte des großen Bettes, so dass ich mein Gesicht darauf legen konnte. Das gab mir das Gefühl der Geborgenheit und des Verstandenseins, was mich aber nicht davon abhielt, meine Pubertät voll auszuleben, alles besser wissen zu wollen, und ungeduldiger mit meiner Mutter zu sein, als sie es mit mir war.
Aber immer, wenn ich wieder mal auf die Nase gefallen war, wusste ich, wer mir beim Aufstehen helfen würde. Immer wieder meine Mutter.