Читать книгу Wenn ich wär, wie ich nicht bin - Kirsten Steineckert - Страница 12

MEINE GROßELTERN

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Meine Großmutter war eine sehr resolute Frau. Mit ihrem grauen Haarkranz, kräftigen Hüften und imponierendem Busen wirkte sie in der kleinen Zweizimmerwohnung noch gewaltiger, als sie war. Sie sprach immer sehr laut, was an der Schwerhörigkeit meines Großvaters lag. Er war klein und schmächtig, wirkte fast demütig neben meiner Großmutter. Seine Stirn war immer in Falten gelegt, was seinem Gesicht einen erstaunten, fast erschrockenen Ausdruck verlieh.

Beeindruckend waren seine mächtig abstehenden Ohren, die er einem entgegenstreckte, wenn er – wieder einmal – kein Wort verstanden hatte. Aber meist machte er sich gar nicht mehr die Mühe, dem Unverstandenen nachzuforschen, er nickte der Einfachheit halber oder brummelte freundlich etwas Zustimmendes vor sich hin. Das wiederum rief den Unmut meiner Großmutter hervor, die nach 50 gemeinsam verlebten Jahren ihren Mann besser kannte, als sich selbst.

Kennengelernt hatten sie sich mit 16. Großvater war ihr Erster und – wie sie betonte – Letzter. Mit 18 heirateten sie. Großvater arbeitete sein Leben lang bei der Bahn als Beamter. Daran änderte auch der Krieg nichts. Man befand ihn als zu klein für einen deutschen Soldaten. Ich habe nie gehört, dass er das in irgendeiner Weise bedauert hätte. So lebten meine Großeltern ein Leben, in dem sich nur die Jahreszeiten änderten. Jeden Morgen, nachdem Großvater seine Mehlsuppe gegessen hatte, ging er zur Arbeit, begleitet von den wohlwollend ermahnenden, lautstarken Worten meiner Großmutter.

Er solle nicht vergessen, die Brote aufzuessen, vorsichtig über die neue Kreuzung zu gehen und die Mütze nicht wieder liegen zu lassen. Wenn er weg war, räumte Großmutter die Wohnung auf, schwatzte zwischendurch ausgiebig mit der Nachbarin über die Nachbarn, ging einkaufen und kochte für den Abend vor.

Punkt 15 Uhr trank sie eine Tasse Kaffee, legte danach die Schürze ab und zog sich eines der beiden festlichen Kleider an, die sie besaß, beide großgeblümt, aus leichtem Stoff in hellen Farben. Dazu eine Bernsteinkette, nur sonntags die mit den Perlen. Sorgfältig kämmte sie ihr Haar und wirkte ab 15.30 Uhr um Jahre jünger. Immer wieder sah sie kurz in den Spiegel, öffnete dann das Fenster, legte ein Kissen auf die Fensterbank und blickte erwartungsvoll die Straße entlang, als würde etwas ganz Ungewöhnliches geschehen.

Punkt 16 Uhr bog Großvater um die Ecke und sah gespannt nach oben. In diesem Moment jubelte Großmutter ihm ein, durch heftiges Winken begleitetes: »Huhu!« entgegen, das Großvater mit einem kurzen Heben der Hand beantwortete. Dann eilte sie zur Wohnungstür, um seine Schritte auf der Treppe zu verfolgen, ihn begeistert in die Arme zu schließen, als hätte sie ihn wochenlang nicht gesehen und auch nicht mehr mit seiner Rückkehr gerechnet. Undenkbar für uns, dass sie einen anderen Mann auch nur angesehen hätte.

Erst auf ihrem Sterbebett erwähnte sie einen Offizier, mit dem sie einmal spazieren gegangen sei. Natürlich war da nichts weiter, aber ein ruhiges Gewissen habe sie erst jetzt, wo sie es endlich gebeichtet habe und auf Großvaters Vergebung hoffe. Sie hatte viel leiser gesprochen als sonst. Großvater schwieg und lächelte, wie er meist lächelte, wenn er nichts verstanden hatte.

Nach Großmutters Tod hatte Großvater plötzlich viel Zeit. Er kümmerte sich nur noch um seinen Garten, der am Rande der kleinen Stadt lag. Jeden Tag ging er in die Laubenkolonie, versorgte seine Blumen; und bog Punkt 16 Uhr um die Ecke seiner Straße.

Immer noch den Kopf erwartungsvoll nach oben gerichtet.

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