Читать книгу Wenn ich wär, wie ich nicht bin - Kirsten Steineckert - Страница 18
UNTERM MAGISTRATSSCHIRM
ОглавлениеWenn mich einer fragt, was ich an Berlin am meisten liebe, fallen mir nicht die Rathauspassagen, der Fernsehturm oder die gewiss sehr imposanten neuen Hotels ein, sondern die Schönhauser Allee. Nicht deshalb, weil ich Häuser mit Vergangenheit den Neubauten vorziehe. Jedenfalls nicht nur deshalb.
Wenn ich in die Schönhauser fahre, und das tue ich in gewissen Abständen, bekomme ich dieses Herzklopfen, das alle Leute kennen, die nach längerer Zeit den Ort ihrer Kindheit besuchen. Das ist für mich die Schönhauser.
Als ich 8 war, sind wir hingezogen. Zwei Jahre später hatte ich meinen ersten Freund. Gerd Galantowitsch hieß er und ging, wie ich, in die 5. Klasse. Sein Vater besaß eine »Bügelanstalt« am Ende der Schönhauser. Ich stand oft vor dem Fenster und sah zu, wie er das dampfende, zischende Bügelding bediente, dessen richtigen Namen ich bis heute nicht weiß. Inzwischen ist eine Schnellreinigung an ihre Stelle getreten.
Auch den winzigen Gemüseladen gleich daneben gibt es nicht mehr, und nicht den dazugehörenden Lagerraum, in den ich mich mit meiner Mädchenbande flüchtete, verfolgt von Gerd Galantowitsch und seinen Freunden.
Die alte Ladenbesitzerin kannte uns alle, verteilte erst einmal Äpfel und vermittelte dann, als der Abgeordnete der Jungs ein Ultimatum stellte: »Entweder ist Kirsten wieder die Freundin von Gerd, oder wir warten vor dem Laden, bis die Mädchen rauskommen und verprügeln sie alle!«
Aber ich hatte meinen Stolz. Galantowitsch hatte tags zuvor mit meiner Todfeindin Renate zu lange gesprochen. Das forderte Rache. Die alte Gemüsefrau öffnete uns eine Seitentür zum Hof und wir entkamen.
Die kleinen Läden liebte ich besonders an der Schönhauser. Da gab es zum Beispiel die beiden Schwestern, denen die Drogerie gehörte. Ein winziger Kramladen, zu dem drei gefährliche Stufen hinunterführten. Öffnete man die Tür, schlug eine Glocke an, und die beiden Schwestern lächelten verbindlich. Immer bediente die Ältere die Kasse; die Jüngere holte die Kartons mit Waschpulver aus dem Lager und hielt ein kleines Schwätzchen mit den Stammkundinnen.
Ein paar Häuser weiter wohnte der Dichter, meine erste große Liebe. Heute wie damals sehe ich zu seinem Fenster hinauf, wenn ich dort vorbeigehe. Ich weiß auch die Stelle noch, wo ich am Straßenrand stand und mich aus Liebeskummer vor ein Auto werfen wollte, so, dass er’s sieht!
Außer einem wütenden Autofahrer ist nichts passiert. Für Momente klopft das Herz wie damals.
Manchmal gehe ich unter den Magistratsschirm. So nennen die Berliner das eiserne Gerüst, auf dem die U-Bahn hoch über der Schönhauser durch die Allee donnert. Dort warte ich, bis ein Zug kommt. Dann schreie ich, so laut ich kann, und genieße wie als Kind das Gefühl, dass keiner mich hört.