Читать книгу Rot, sagte er - Klaudia Ruschkowski - Страница 10
5
ОглавлениеDer Kater war selig. Satt saß er unter dem Lorbeerbusch. Schluckte. Leckte noch einmal über seinen Bart. Schleckte drei Tröpfchen vom Boden und begann dann, sich zu putzen. Strich sich mit den Pfoten sorgfältig über die Ohren, von hinten nach vorn, von vorn nach hinten, hielt inne, streckte graziös ein Bein in die Luft, knabberte es ab wie einen Maiskolben und leckte dann mehrmals andächtig darüber. Nun das nächste. Nochmal die Ohren. Ein weiteres Bein. Dann fuhr die raue rosige Zunge zwischen alle fünf Zehen sämtlicher Pfoten, an jeder einzelnen Kralle machten sich die kleinen scharfen Zähne ausgiebig zu schaffen.
Angel betrachtete den Kater von der Werkstatt aus. Sie bewunderte seine konzentrierte Hingabe. Gerade eben noch ein hilfloses blindes Etwas, nur wenige Wochen später ein bewusstes Wesen in einer sich zu erobernden Welt. Selbst wenn es sie nicht gäbe, wenn keiner da wäre, der ihm morgens das Futter hinstellte, jetzt würde er es auch alleine schaffen, hier auf dem Land.
Vor ein paar Tagen hatte sie beobachtet, wie er den Feldweg zum Haus hinunterschlenderte, wie er scheinbar ganz in sich selbst vertieft an der Hecke vorübertrabte, in der eine junge Amsel saß. Die flog unvorsichtig auf, der Kater machte einen Sprung, drehte sich einmal um die eigene Achse wie ein Tänzer, der aus reiner Lebenslust eine Pirouette springt, schnappte den Vogel in der Luft und setzte seinen Weg mit dem baumelnden Geschöpf zwischen den Zähnen fort. Er musste die Möglichkeit, die sich ihm bot, und den Vorgang selbst im Bruchteil einer Sekunde antizipiert haben.
Bis zum Mittag skizzierte Angel Szenen, wie sie die Skulpturen, die vor ihrem inneren Auge langsam Gestalt annahmen, in Verhältnisse bringen und in Beziehungen zueinander setzen wollte.
Das Durcheinander, das der Kater angerichtet hatte, ordnete sich jetzt in ihren Gedanken. Die Bruchstücke und Fragmente wurden zu archaischen Figuren … sie könnten, überlegte sie, vielleicht sogar durch Zeiten reisen … und auf einmal überkam sie eine große Lust, ihr bewährtes Terrain zu verlassen und die Terrakotta, an der sie sich in den letzten Jahren abgearbeitet hatte, mit anderen Materialien zu kombinieren. Sie hier und da vielleicht sogar durch andere Stoffe zu ersetzen. Nicht, dass sie nicht schon früher darüber nachgedacht hatte. Aber wie so oft braucht es den Anstoß, mehr noch, den einen Anstoß. Das kann auch etwas scheinbar Unbedeutendes sein. Der berühmte Tropfen, der das Fass nicht nur zum Überlaufen bringt, sondern der zugleich zum Sprung wird auf einer neuen Bahn.
Sie sah ihre Skulpturen auf einmal eine Bühne betreten, nicht mehr allein und einzeln, wie ausgestellt, sondern im Dialog miteinander.
Gemeinsam würden sie eine Szene entwickeln, vielleicht sogar ein Stück. Würden zu Spielern werden in einem Drama, das nicht von außen auf sie zukam, sondern von innen, aus dem Ensemble, Gestalt gewann.
Sie selbst wären dann die Autoren ihres Stücks. Komödie oder Tragödie, das würde sich im Lauf der Zeit erweisen.
Angel musste an Pirandellos sechs Personen denken, die einen Autor suchen, und freute sich über die Idee, für die paar Autoren, die hier bereits versammelt waren, eine Person zu finden … im Vorgang des Werdens … den Protagonisten für das Theater … keine Angst, ein überschaubares … das sie ihnen … mit ihnen … erdenken, an das sie Hand anlegen würde.
Und wenn es scheitert, meldete sich etwas in ihr. Wenn du da vielleicht Schein mit Sein verwechselst? Ach was. Sie tauchte ein paar Stofflappen in einen mit Wasser gefüllten Eimer, wrang sie gut aus und schlug sie um die Tonobjekte, die sie am Vortag geformt hatte. Möglichkeiten gibt es allemal. Gesichter viele. Überraschungen, wenn man Glück hat.
Während Angel in der Küche einen Kaffee aufsetzte und in einen rosafarbenen Pfirsich biss, zog sie die Spalletta vom Zeitungsstapel und blätterte zur Seite mit den verschiedenen Aufnahmen vom Toten.
Tatsächlich war ihr die Geschichte nicht aus dem Kopf gegangen. In der letzten Nacht war sie mehrmals aufgewacht. War hochgetaucht aus einem Gewirr von Bildern. Ein Wald … Steineichen … Hügel mit Menschengruppen. Kämpfende, die mit Waffen … Säbeln oder Degen … aufeinander losgingen. Vogelschwärme, die aus den Schnäbeln riesiger Muttervögel flogen, ein Schwarm Türkisblau, einer Petrolgrün, einer Scharlachrot … die sich am Himmel vermischten, explodierten und als schillernd virales Feuerwerk herabregneten. Eichhörnchen und Füchse und Rehe, von Hunden gejagt. Und immer wieder ein Schriftzug … EREMO oder war es OMERO oder beides … und eine Stimme, die etwas sagen wollte, doch kaum zu verstehen war.
Wirklich, eine bewegte Nacht, rekapitulierte Angel, während sie versuchte, sich an weitere Einzelheiten zu erinnern.
Gesichter, ja natürlich, die Gesichter, die ihren Traum bevölkert hatten. Die, wenn sie es recht bedachte, alle zu einem einzigen Gesicht zusammengeflossen waren. Einem Gesicht, das sie jetzt als Nahaufnahme vor sich sah. Das Gesicht des Mannes, von dem nicht einmal Tiziana wusste … die doch immer alles wusste … wer er war und woher er kam.
Der Pfirsichsaft rann ihr über die Hand und blieb an ihrem Unterarm kleben, während sie sich über das Bild beugte. Was um Himmels willen …
Der lockige Kopf des Toten lag leicht nach hinten geneigt. Die Augen schienen nicht ganz geschlossen. Der Mund war halb geöffnet.
Woran erinnerte sie dieses Gesicht? An wen? Wie konnte man so sterben? So … friedlich … nein, das würde es nicht treffen. Friedlich sah er nicht aus. Eher …
Der Deckel der kleinen Moka klapperte, und der Kaffee begann sprudelnd zu dampfen. Angel stellte die Flamme ab, schnippte den Pfirsichkern aus dem Küchenfenster direkt auf den Komposthaufen und spülte ihre Hände unter einem kühlen Wasserstrahl.
Was war es, das sie an diesem Gesicht so sehr bewegte. Ausnahmsweise ließ sie ein Zuckerstück in den Kaffee gleiten und rührte klingelnd um und um, bis es sich aufgelöst hatte. Ein herrlich süßer erster Schluck. Sie lächelte. Er lächelte. Aber ja. Sein Lächeln … sein faszinierendes, beinahe erotisches, mehr noch, sein dionysisches Lächeln … seine verklärten Lippen, deren letzter Seufzer einer der Wonne gewesen zu sein schien.
Angel trank den Kaffee aus, schlüpfte in die Sandalen, zog die Fliegentür hinter sich zu, schnupperte kurz am unscheinbaren Rosenstrauch mit den kleinen dunkelroten Blüten, die einen Duft verströmten, dass einem schwindlig wurde, zwickte den Kater, der unter seinem Lorbeerbaum döste, ins Ohr und machte sich auf den Weg in die Stadt.