Читать книгу Rot, sagte er - Klaudia Ruschkowski - Страница 6

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Kaum hatte der Mann die Tür einen Spaltbreit geöffnet, drängte sich das kleine struppige Etwas an ihm vorbei und stürmte hinaus, schlug an und war im Handumdrehen im Unterholz verschwunden. Kläffendes Gebell mäanderte durchs Tal. Der Mann pfiff und rief. Der Hund hörte nicht. Ihn hatte das Jagdfieber gepackt.

Ein Reh. Es tauchte jenseits der Brombeerhecke auf, fast flog es über die an den Vortagen abgemähten Felder, setzte über einen Graben, der die Äcker voneinander trennte, und sprang den gegenüberliegenden Hügel hinauf. Die Stoppeln unter seinen Hufen glänzten. Ein helles Goldrot.

Da war auch der Hund wieder. Er musste förmlich durch die Brombeeren hindurchgeschossen sein. Wie schnell, trotz seiner kurzen Beine. Er setzte sichtlich alle Kräfte ein, holte auf. Das Reh hatte die Kuppe fast erreicht. Und unversehens schlug es einen Haken … wie ein Hase, dachte der Mann, der die Szene von der Schwelle aus beobachtete … und schnellte diagonal am Hund vorbei hinab ins Tal.

Der Hund war von dem Richtungswechsel überfordert. Für einen entscheidenden Moment verlor er die Orientierung. Eine Umkehrung der Bewegung, eine innere Geometrie, die dem gejagten Tier den Ausweg wies. Die den Jäger die entscheidende Sekunde kostete. Sofern er überhaupt eine Chance gehabt hätte. Das Reh setzte zu einem letzten konzentrierten Sprung an, über ein Weißdorngestrüpp, das den Acker in der Senke teilte. Es schien in der Luft zu stehen. In einem Wirbel aus Licht und Staub. Sein heller Spiegel blitzte. Dann war es fort. Der Hund überschlug sich, landete im Gestrüpp, sah sich getäuscht und bellte, mehr erstaunt als verärgert.

Der Mann lachte. Er schloss die Tür hinter sich und nahm den Pfad, der vom Haus … eher eine Hütte, wenn man ehrlich war … zur schmalen Straße hinaufführte. Er holte weit aus. Sein Schritt war kräftig. Durch seine rötlichen Locken fuhr ab und zu ein leichter Wind. Seine grünen Augen leuchteten. Oder waren sie blau? Das mochte vom Licht abhängen. Oder von der Tageszeit. Er summte vor sich hin. Auf der Straße war niemand zu sehen. Die Glocken von San Giusto schlugen die volle Stunde. Sechs. Es war noch immer heiß wie am Mittag. Eine schwüle Hitze.

Dem Mann schien es nichts auszumachen, auch wenn das dünne Hemd an seinem Körper klebte. Er holte tief Luft, während er die Steigung zur Balze nahm. Auf dem kleinen Schotterplatz, in den die Straße oben mündete, hielt er inne. Er blickte sich um. Selbst vom Schreiner, der seine Werkstatt jedes Jahr zum ersten Mai ins Freie verlegte, wo er … aus Überzeugung, wie er sagte … bis weit in den Oktober arbeitete, war nichts zu sehen. Keine Menschenseele. Nur eine schwarzweiße Katze mit bernsteinfarbenen Ohren, die es sich im grünen Dämmer des verblichenen Wellblechdachs bequem gemacht hatte.

Der Mann überquerte den Platz. Er wandte sich zu einer Reihe niedriger Steineichen. In ihren Schattenfetzen wanderte er weiter, bis er auf Felsbrocken stieß, die den Pfad zur Balze halb versperrten. Er kletterte auf einen der mächtigen Findlinge.

Von dort aus konnte er das weite Tal überblicken. Halbrechts, auf einer Felszunge schräg unter ihm, direkt vor den Abstürzen, die alte Badia, das Kloster der Kamaldulenser. Wie durch ein Wunder verschont geblieben, als sich der Abhang vor hunderten von Jahren bei einem Erdrutsch löste und einen Teil der damaligen Stadt mit sich in die Tiefe riss.

Inmitten der Ebene, auf einem geduckten Hügel, der kleine Ort Peccioli mit seinem arabesken Glockenturm. Von Weitem machte er einen geheimnisvollen, fast orientalischen Eindruck. Im frühen Morgenlicht oder bei Sonnenuntergang wurde er zu einer Fata Morgana. Von Nahem schien er wie zusammengeklebt, ein selbstbewusster romanischer Turm, der sich im Verlauf der Jahre durch die beliebigsten Versatzstücke in ein Hirngespinst verwandelt hatte.

Wären die dichten dunklen Wolken nicht gewesen, die sich seit geraumer Zeit von Norden über den Monte Pisano in die Ebene vorschoben, der Mann hätte von seinem Felsen aus selbst Pisa sehen können. Bei klarer Luft vielleicht sogar die Piazza dei Miracoli.

So aber folgte sein Blick dem immer intensiveren Spiel der Wolken und des Lichts, das in raschem Wechsel mal den einen, mal den anderen Hügel aus der Landschaft herausleuchtete, ein Dorf, ein Wäldchen, ein Rinnsal, das flüchtig aufschimmerte, wenn ein letzter Sonnenstrahl sich in ihm verfing. Er sah in der Ferne das Meer. Konnte es sogar riechen. Die gewittrig schwüle Luft trug einen salzigen Hauch zu ihm. Er sog ihn tief in sich ein.

Der erste Blitz. Eine fein verästelte silberne Senkrechte. Er musste sich beeilen. Er sprang vom Fels und folgte dem Pfad bis zu einer niedrigen Baumgruppe, zwischen Gestein und Abgrund, die auf einen kahlen Vorsprung zulief. Von hier aus, hoch oben, würde er das Spektakel am besten genießen können. Würde sehen, wie sich die Blitze multiplizierten, wie sie sich in die Farben des Prismas ergossen, grünlich, bläulich, rötlich, hellgelb und violett. Würde die unbändige Energie spüren, die sich bereits voll diabolischer Freude in der Atmosphäre konzentrierte.

Ein gespannter Moment des Innehaltens. Dann die erste drastische Entladung. Elektrizität, die durch die Nervenbahnen strömte. Eine Dynamik, die für den Bruchteil einer Sekunde die Grenze zwischen Außen und Innen aufhob. Ein ekstatischer Schub. Verbunden mit dem ersten Windstoß, der heftig durch die Bäume fuhr und alles in stürmischen Wirbel versetzte.

Der Mann liebte Gewitter. Liebte das feine Kribbeln auf der Haut, das erotische Risiko, die Gefährdung, die Blitze, die immer waghalsiger durch den Himmel zuckten. Liebte es, am höchsten Punkt zu stehen, wie ein Baum, den Elementen ausgesetzt.

Über die Ebene stob kreischend ein Vogelschwarm, aufgeschreckt vom Donner, der jetzt durch die Wolken rollte. Tief unten im Gebüsch brachten sich Tiere raschelnd in Sicherheit. Ein Falter irrte durch die Luft.

Dem Donner folgte eine Druckwelle. Kaum verebbt, wogte die nächste hoch. So langsam, wie das Gewitter aufgezogen war, so stürmisch eilte es jetzt vom Monte Pisano und vom Meer aus heran und stürzte sich auf das Tal.

Fast schlagartig wurde es dunkel. Grelle Adern sprangen aus dem Anthrazit der Wolkendecke, Lichtstreife flackerten auf, verglühten … ein wahres Konzert, dachte der Mann … selbst elektrisiert, vor Glück, inmitten der energetischen Wucht, die ihn umgab.

Es krachte. Vorsichtig tat er einen Schritt, sah die Kalanken unterhalb der Badia in rötliches Licht getaucht. Der Wipfel einer freistehenden Steineiche hatte Feuer gefangen.

Der Mann streckte die Hand aus, fing die ersten Tropfen ein, die satt vom Himmel fielen. Ein Rinnsal floss über seinen Arm. Er lachte, leckte das vom Schweiß salzige Wasser von der Haut, hielt den Tropfen, die sich zusehends mehrten, sein Gesicht entgegen. Freute sich am Gefühl, mit dem das Nass durch seine Locken strömte, über seinen Körper rann …

In der Ferne wurde Gebell laut. Kam näher. Nicht lange darauf schoss der Hund struppig, keuchend durch das Unterholz.

Rot, sagte er

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