Читать книгу Rot, sagte er - Klaudia Ruschkowski - Страница 13
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ОглавлениеDie Nachmittagssonne traf auf den Südwesthang der Stadt und fiel direkt in die Balze. Das Licht verfing sich in den Schrunden und Kratern der Abstürze, glitt über ihre rauen Kämme und die jäh vorspringenden Klippen. Traf auf das Gelb des porösen Sandsteins mit seinen Adern bläulicher Argilla, den Schichten perlweißer Tonerde, den erodierten Rinnen sandigen Kalksteins und den Schlieren aus gelbrötlichem Lehm. Leuchtete in jede Falte der Kalanken, die das Gelände zerschnitten, und deren messerscharfe Rücken und schmale Zinnen durch den Einfall des Lichts an Plastizität gewannen. Tiefblaue Schatten tasteten sich aus den Schluchten empor und blieben in der wilden, struppigen Vegetation hängen, die manche der nicht vollständig ausgedörrten Oberflächen überwucherte. Gleißend stießen sich die Strahlen von den hellgrauen Erdverwerfungen unterhalb von San Cipriano ab. Die Zypressen, denen der Ort seinen Namen verdankt, standen umso dunkler vor dem azurnen Himmel.
Angel betrachtete diese durch tragische Erdrutsche und Felsstürze, durch jahrhundertelange beharrliche Erosionen und ständig sich erweiternde Schluchten entstandene Geometrie des Raums. Eine theatralische Landschaft. Gewachsen durch eine Vielzahl winziger und ein paar gewaltige Ereignisse, über eine unendlich lange Zeit. Wie viele Schauspiele bringt das Licht dort Tag für Tag zur Aufführung. Jede Wolke, die sich vor die Sonne schiebt, ein kürzerer oder längerer Monolog. Jeder Regenguss ein mildes, herzhaftes oder tragisches Weinen, dem Zerstörung folgt oder Aufatmen. Der Wind, der durch die Büsche und Bäume fegt und den losen Staub zu Säulen wirbelt, ein Sturm von Nachrichten, der die Szene aufmischt.
Angel fragte sich, ob solch ein spektakuläres Gebiet wirklich den Namen Badlands verdient hatte. Ödland, Malpaís … les mauvaises terres à traverser … Sie sah es anders, immer wieder von neuem ergriffen vom Ungestüm der Balze. Erschreckt übrigens auch. Am Abend, wenn die Dunkelheit wie Tinte in die Tiefe fließt.
Seit dem zehnten Jahrhundert vor Christus befand sich auf diesem Gebiet die Nekropolis der etruskischen Stadt. Irgendwann wurde auch sie von den Erdmassen in den Abgrund gerissen. Viele Urnen konnten im Lauf der Zeit geborgen werden. Jetzt lagerten sie mit ihren Besitzern im etruskischen Museum. Auch wenn deren Asche beim Sturz verlorenging, ihr Bildnis überdauerte als Skulptur auf den Urnendeckeln. Ähnlichkeiten mit Lebenden nicht ausgeschlossen. Wie oft hatte Angel schon gemeint, in den Gesichtern der seit ewig Toten typische Züge alteingesessener Volterraner Familien entdeckt zu haben. Welch eine Stadt. Deren historische Schatten sich in den geologischen Schichtungen der Balze spiegeln.
Je tiefer Angel ins Tal gelangte, desto höher ragten die Abstürze über ihr auf. Das musste er sein, der Pfad, der zur Hütte des Eremo führte. Und das da hinten musste die Hütte sein. Was will ich hier, fuhr es ihr durch den Kopf, was suche ich. Ohne darüber nachzudenken, war sie dem Toten gefolgt. Von dem keiner wusste, woher er kam. Den keiner wirklich kannte. Den einige dennoch schmerzlich zu vermissen schienen. Und dessen Lächeln, dessen lächelnder Tod, ihr nicht aus dem Kopf ging.
Manuele hatte Recht. Strom gab es hier keinen. Nicht eine Leitung weit und breit. Dafür Olivenbäume, reichlich zerzaust, von wilden Brombeeren durchzogen. Die müssen vor dem nächsten Frühjahr unbedingt beschnitten werden, dachte Angel.
Der schmale Pfad führte durch eine hohe Wiese. Zwischen den in der Hitze vertrockneten Gräsern spross neues Grün. Hier und da eine späte purpurrote Sulla inmitten eines Meeres rosiger Kleeblüten, denen ein honigsüßer Duft entströmte. Rechts von der Hütte … eher ein winziges rustikales Häuschen aus Stein … wuchs eine niedrige Hecke aus hellrot blühendem Oleander. Links eine Pinie, deren Schatten auf den Eingang fiel. Hinter dem Haus wucherte ein breiter Streifen Unterholz. Ihm folgten Hügel, Täler, bereits abgemähte Felder. Dazu ein weiter Blick von der Anhöhe Richtung Meer. Paradiesisch. Nichts anderes fiel Angel dazu ein. Natürlich nur zur warmen Jahreszeit. Im Winter musste es hier eisig sein. Wenn sich die Tramontana von den Apuanischen Alpen herabstürzt.
Angel ging langsam auf die Eingangstür zu. Unter der Oleanderhecke entdeckte sie einen Brunnen mit einer teils verrosteten Pumpe. Vorsichtig bewegte sie den Schwengel. Ein Wasserstrahl spritzte hervor und vertrieb die Eidechse, die sich auf einem warmen Stein gesonnt hatte. Angel tauchte die Hand in das Nass, benetzte Arme, Hals und Stirn. Holte dann Luft und drückte auf die Klinke. Die Tür war nicht verschlossen.
Drinnen war es dunkel. Licht flirrte nur durch Ritzen in den Fensterläden. Tanzte als flimmernde Partikel durch den Raum. Angel bewegte sich in ihnen auf das Fenster zu. Ertastete den Knauf, drehte ihn, öffnete die Scheiben und stieß vorsichtig die Läden auf. Dann wandte sie sich um und blickte in den schlagartig lichtdurchtränkten Raum. Ein langer alter Holztisch. Ein Stuhl. Ein Sessel neben dem von vielen Feuern geschwärzten Kamin. Ein schmales Bett. Schmiedeeisen. Davor eine abgenutzte Matte, aus Stroh geflochten. Ein schmächtiger Bauernschrank, bemalt mit Rosen. Und an den einstmals weiß gekalkten Wänden Blätter mit Zeichnungen. Ein Blatt neben dem anderen. Auf dem Tisch Skizzenblöcke. Alben. Stapel von Zeichenbüchern. Zusammengeklappt. Aufgeschlagen. Zu Ziehharmonikas auseinandergefaltet.
Angels Herz begann zu klopfen. Sie machte einen Schritt auf die Zeichnungen zu. Studien über Studien. Rötel, Kohle, Sepia. Feder, Tinte, Blei. Der kleine Raum war über und über bevölkert. Mit den Figuren des Rosso Fiorentino.
Angel wurde schwindlig. Alles drehte sich vor ihren Augen, ein Wirbel aus Gestalten, Stimmen, Gesten, Lächeln, Wind und Licht.
Als sie zu sich kam, lag sie mitten im Raum auf den Dielen. Ein kleiner struppiger Hund leckte ihr übers Gesicht. Ihre Augen begegneten den seinen. Er stutzte und verschwand durch die Tür, die einen Spaltbreit offen stand.
Angel setzte sich auf und rieb ihren schmerzenden Hinterkopf. Der Raum hatte aufgehört, sich zu drehen. Jetzt roch sie den Geruch von Zedernholz, der sacht in der Luft hing. Langsam kam sie wieder auf die Beine. Sie wanderte die Wände ab.
Motive aus Rossos Kreuzabnahme. Nichts anderes. Das ganze Personal. Skizzen zu den Frauen, ihren Haltungen und Gewändern. Studien zu den stützenden, tragenden Armen der Männer. Zu ihren muskulösen Beinen, den tuchumschlungenen Hüften, den kräftigen Körpern. Umrissene, hingeworfene, sorgfältig studierte Bewegungen. Köpfe, aus jeder Perspektive. Der bärtige Alte, der Diabolische, das Kind. Die Frau, die aus dem Bild herausblickt. Blätter, die nur Hände zeigten. Wie sie sich festklammerten, wie sie suchend durch die Luft fuhren, entschieden auf etwas hinwiesen. Die Hände des Rosso, vor seinem Gesicht, die Finger verschränkt. Winzige Figürchen mit Federbüschen, im Ausfallschritt.
Wie oft, wie lange, dachte Angel, musste er vor dem Bild gesessen haben, der Eremo, der Tote aus der Balze. Warum hatte sie ihn nie gesehen. War ihm nie in der Pinakothek begegnet. Er schien das Bild förmlich in sich eingesogen zu haben. Und musste selbst ein Zeichner oder Maler sein. Gewesen sein. Das waren keine Studien eines Laien. Es schien, fuhr es ihr durch den Kopf, als sei er schier versunken. In diesem Bild. Und doch war alles nichts gegen das, was Angel auf dem Tisch entdeckte. Die Studien zum Johannes, zum Christus, die Alben, Blöcke, Bücher füllten, dicht an dicht.
Angel durchblätterte jeden Block. Öffnete ein Buch nach dem anderen. Wie verzaubert. Schulterrundungen und Arme. Hände, muskulös, dann wieder mädchenhaft und zart, beinahe zerflossen. Kraftvolle Oberschenkel. Knie. Füße, voller Leben. Als würden sie davonspringen wollen. Locken, rötlich, orangerot. Augen, halb geschlossen. Lider, hinter denen die Pupillen schimmerten. Münder. Lippen. Lächeln. Ein tausendfaches Lächeln. Es füllte die Seiten der Bücher, wie es offenbar den Geist des Eremo erfüllt hatte. Eine Obsession. Angel war in die Werkstatt einer Obsession geraten.
Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, in einen Spiegel zu blicken. Wer spiegelte sich hier in wem. Wie ein exotischer Vogel zog ein Bild durch ihren Kopf, traf auf ihr desorientiertes Denken. Ein Liebender, der den Geliebten wie in einem Spiegel anschaute, ohne zu wissen, dass er in ihm sich selbst beschaute. Wer war hier wer.
Behutsam klappte sie die Alben zu. Faltete die Ziehharmonikas zusammen. Stapelte die Bücher aufeinander. Schob das Fläschchen mit der roten Flüssigkeit … ein Lack vielleicht oder ein Likör … das sie beiseite gestellt hatte, um keines der Blätter zu beschmutzen, an seinen Platz zurück. Alles sollte so sein wie zuvor. Ganz unbedacht und ahnungslos, doch wie angezogen von etwas, das sie sich nicht erklären konnte, hatte sie ein Heiligtum betreten. Fast schämte sie sich, in das Reich des Unbekannten eingedrungen zu sein. Sie schloss die Läden, das Fenster. Verließ auf Zehenspitzen den nun wieder dunklen Raum und zog die Tür hinter sich zu.
Die Sonne stand noch ziemlich hoch am Himmel, als sie sich auf dem Pfad wiederfand, inmitten der Wiese. Und doch … sie hatte das Gefühl, als sei sie Jahre unterwegs gewesen. Eine Zeitreise. Es konnte aber nicht später sein als sieben. Ein leichter Wind fuhr durch ihr Haar, als sie sich auf den Weg nach oben machte. Sie blies sich eine feuchte Strähne aus der Stirn. Sie hätte zerspringen mögen und wusste nicht, ob vor Aufregung, Bangigkeit, Schauder oder Glück. Durch den dünnen Stoff ertastete ihre Hand das kleine Skizzenbuch in der Tasche ihrer Shorts. Sie hätte es nicht tun sollen. Sie hätte alles sich selbst überlassen sollen. Aber etwas war stärker gewesen. Sie hatte es in ihre Tasche gleiten lassen, hatte es mitnehmen müssen. Sie fing an zu laufen. Sie rannte schnell, immer schneller, die Straße hinauf zum Schotterplatz. Atemlos, keuchend kam sie oben an.
»Trainierst du für einen Marathon?«, rief der Schreiner, als er sie erblickte, hochrot im Gesicht. »Da hast du noch was vor dir.«
Angel warf ihm ein Lächeln zu. Er lächelte zurück, beobachtete, wie sie den Panda wendete und sah ihr nach, als sie vom Schotterplatz hinab und in die Via Pisana bog. Dann wandte er sich wieder seinen Stühlen unter dem Wellblechdach zu, die von der Abendsonne mit einer rötlichgrünen Patina überzogen wurden. Dies eine Bein da würde er noch richten, dachte er, griff nach Beitel und Holzleim und begann, sich auf den ersten kühlen Schluck zu freuen.
Von der Anschlagtafel am Stadion, das Angel passierte, sprang ihr die schlichte Anzeige ins Auge. Sie hielt an, beugte sich aus dem Fenster und las … Unser Mitbürger (genannt) EREMO hat seiner Reise auf Erden ein Ende gemacht. Die Beisetzung findet morgen, 15 Uhr, in aller Stille auf dem kommunalen Friedhof statt …