Читать книгу Rot, sagte er - Klaudia Ruschkowski - Страница 8
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ОглавлениеDie Post war mehr als ein Amt. Hier schlug eines der Herzen der Stadt. Hier wurden Nachrichten übermittelt und Botschaften überbracht. Empfehlungen ausgesprochen. Hinweise gegeben und Ratschläge erteilt. Und Annarella war die Königin. Ein halbes Leben hatte sie in diesem Palazzo verbracht, ebenerdig, mit Blick auf die Piazza dei Priori. Sie sah, wer vorüberging. Mit wem. Wer ins Gespräch vertieft dort in der Sonne stand. Wer disputierte. Wer sich küsste. Wer seinen Blick über die Palazzi wandern ließ. Wer weder nach links noch rechts schaute. Wer sich an den Kindern freute, die johlend durch die Taubenschwärme jagten. Wer die Carabinieri auf den Afrikaner aufmerksam machte, der seine Kleinigkeiten sicher unerlaubt verkaufte. Wer dessen Schmuck bewunderte und mit ihm über seine Heimat sprach. Wer den Bischof in den Dom begleitete. Wer seine Begleiter auf das steinerne Schweinchen hinwies, das von seinem Sockel hoch oben an der Torre del Porcellino seit Ewigkeiten über die Piazza wacht.
Annarella sah sich einer Bühne gegenüber. Das Theater einer kleinen bemerkenswerten, uralten, heutigen, mitunter … scheinbar … zeitlosen Stadt. Jeder, der die Piazza überquerte, wurde einen Moment lang zum Darsteller. Bot ihr eine Szene. Erzählte ihr eine Episode in der Geschichte eines Tages, einer Woche, eines Jahres.
Was nicht heißen soll, dass Annarella untätig gewesen wäre oder ihre Kunden vernachlässigt hätte. Bei Weitem nicht. Sie besaß wahrscheinlich die beneidenswerte Gabe, mehreres gleichzeitig wahrzunehmen und sich mehreren Dingen zugleich zu widmen. Umso erstaunter war sie jetzt, dass ihr diese Sache offenbar völlig entgangen war. Dass nichts sie hatte aufhorchen lassen.
»Nein«, sagte Angel. »Was soll ich gehört haben?«
Annarella fuhr sich durchs Haar. »Er hat sich in die Balze gestürzt.« Angel schaute sie groß an. »Der Eremo … du weißt schon … sie haben ihn heute Vormittag gefunden. Kannst du dir das vorstellen? Aus heiterem Himmel.« Sie stockte … »Er war ein so froher Mensch« … und glättete eine Falte ihrer geblümten Bluse. »Das hätte ich schwören können.« Angel blieb still. »Mit einer Drohne haben sie ihn entdeckt. Die Filmleute aus Florenz. Wegen der Landschaftsaufnahmen. Für die nächste Folge der Medici.«
Annarella schüttelte den Kopf. Sie wirkte betroffen.
Angel versuchte, sich den Mann vor Augen zu rufen. Sie hatte ihn nicht allzu oft gesehen. Er lebte oltre le mura, wie sie, außerhalb der Mauern, aber auf der anderen Seite der Stadt. Wenn, war sie ihm im Istante begegnet, der Bar an der Hauptstraße, der Matteotti, die bei allen Volterranern nur Via Guidi hieß. Dort trank sie ihren Aperitif, wenn sie etwas in der Stadt zu erledigen hatte. Manchmal auch so. Gesprochen hatte sie ihn aber nie.
»Der mit den rötlichen Locken? Und den hellen grünen Augen?«
»Blau«, sagte Annarella. »Blau.«
Angel wurde traurig. »Weiß man schon Näheres? Warum?«
Annarella verneinte. Sie kam hinter dem Schalter hervor und schloss Angel in die Arme. »Das werden wir wohl nie erfahren.« Die beiden blickten sich an. »Er hatte niemanden. Nicht dass ich wüsste«, dachte sie laut. Angel legte ihr die Hand auf die Schulter. Dann wandte sie sich zum Gehen.
»Hier, dein Einschreiben«, sagte Annarella.
Angel lächelte. »Du bist wirklich ein Engel.« Sie steckte den Umschlag in die Tasche, warf Annarella eine Kusshand zu und verließ das Gebäude.
Annarella sah sie quer über die Piazza davongehen, eine kleine schlanke Gestalt, die in den Shorts und dem zerschlissenen Hemd von hinten eher einem Jungen glich als einer Frau Mitte vierzig. Dann nahm ihr eine Gruppe aufgeregter Jugendlicher die Sicht. Nachdenklich machte sie sich daran, den Computer herunterzufahren und die Kasse zu schließen.
Angel zwängte sich durch die Touristenschar vor dem Palazzo dei Priori und bog in die enge Via dei Marchesi, um sich bei Tiziana mit der Tagespresse zu versorgen. Eine Gruppe von Menschen stand diskutierend vor dem Zeitungsladen, darunter auch einige der Filmleute. Früher, hörte sie jemanden erklären, sei es nicht selten vorgekommen, dass einer seinem Leben durch einen Sprung in die Balze ein Ende gesetzt habe. Die Alten erinnerten sich noch lebhaft an jeden einzelnen Fall.
Der Bankangestellte beispielsweise. September neunundsiebzig. Der hatte Vollgas gegeben, war mit dem Auto in den Abgrund gerast. Die Feuerwehr musste ihn aus dem Blech schweißen. Ein halbes Jahr lag er im Krankenhaus. Da haben sie ihn zusammengeflickt. Kaum war er wieder auf den Beinen, ist er los und hat sich vom höchsten Felsen hinabgestürzt. »Wozu dann die ganze Mühe?«, fragte Ubaldo, ebenso ratlos wie vor vierzig Jahren.
Oder die Hausfrau, die das Wasser für die Pasta aufgesetzt hatte, ihrem Mann einen Zettel mit den Worten schrieb, die Soße sei im Kühlschrank, ihren besten Mantel anzog, das Haus verließ, ein paar Freundinnen zuwinkte und wenig später in den Abgrund sprang. »Die war doch verrückt«, warf Tiziana ein, die sich aus der Tiefe ihres Ladens zur Gruppe gesellt hatte, »die hat jahrelang im Manicomio gearbeitet … kein Wunder, dass die Verrückten da im Irrenhaus auf sie abgefärbt haben.«
»Und? Wer hat damals nicht im Manicomio gearbeitet?«, gab Ubaldo zurück.
Bis auf die Filmleute, die es nicht wissen konnten, nickten alle: »Eben.«
Der Junge vom Schreiner, den sie vor Jahren am Grund der Schlucht gefunden hatten. Gerade noch rechtzeitig. Nur weil ein Jäger sich weit in die Balze hineinverirrt hatte. Sonst wäre er einfach verschwunden, für immer und ewig. Vermutlich hätte nie einer herausbekommen, was mit ihm geschehen war.
»Den kannst du nicht mitzählen«, bemerkte Tiziana, »das war ein Unfall … er ist da rumgeklettert und ausgerutscht …«
»Einen Arm hat er verloren«, nickte Ubaldo. »Dabei hatte sein Vater drauf gesetzt, dass er einmal die Werkstatt übernimmt. Aber mit einem Arm. Wie willst du das machen, als Schreiner?«
Die Filmleute sahen sich mehr als einem halben Jahrhundert Stadtgeschichte gegenüber … in Gestalt von Tiziana, der temperamentvollen, sorgsam frisierten Zeitungsfrau, und dem runden Ubaldo, einem der letzten Nobili hier, beide an die achtzig. Sie waren zusammen zur Schule gegangen, hatten beide um dieselbe Zeit geheiratet … Ubaldo eine gebildete Mailänderin, Tiziana einen großherzigen Faschisten … waren zu Instanzen der kleinen alten Stadt geworden, kannten einander fast auswendig und waren sich doch nie wirklich grün.
Der letzte Selbstmörder sei übrigens der von der Versicherung gewesen, bemerkte einer aus der Gruppe. Zwei kleine Kinder. Geldsorgen. Ganz enorme. Wegen der Villa, die er sich kaufen musste. War das denn nötig?
Und jetzt der Eremo. Unbegreiflich. So ein froher Mensch. Hatte man immer gedacht. Wo kam er eigentlich her?
»Von woanders«, schnitt Tiziana das Gespräch ab. »Ciao Angel, die Repubblica? Wenn du in einer Stunde nochmal reinschaust, kannst du auch gleich die Spalletta mitnehmen. Alles zum Nachlesen, schwarz auf weiß.«
»So schnell?«, wunderte sich Angel.
»Massimo Grandini von der RAI«, stellte sich der sonnenbebrillte Herr neben ihr vor. »Wir haben unsere Drohnenaufnahmen gleich zur Verfügung gestellt … samt Kurzbeschreibung, wie wir ihn gefunden haben … sehr gute Fotos, selbst aus höchster Höhe. Es geht eben nichts über die Qualität der Technik. Und wir bei der RAI …« Sein Mund lächelte sie an. »Hätten Sie nicht Lust, als Komparsin bei den Dreharbeiten für die nächste Staffel der Medici dabei zu sein? Wir bräuchten noch ein paar reizende Ladies für Lorenzo Il Magnifico.«
Angel nickte bissig. »War er es nicht, der diese Stadt hier in Schutt und Asche gelegt hat?«
»Vor fünfhundertfünfzig Jahren. Sind Sie so nachtragend?« Grandini schob die Sonnenbrille in die Stirn.
»Ich überleg es mir«, lenkte Angel ein.
»Mach mit, meine Liebe. Ich bin auch dabei«, zwinkerte Ubaldo, »als Knappe, stell dir vor. Dann werden wir uns alle im Fernsehen sehen.«
Massimo Grandini zog ein Lederetui aus der Brusttasche und daraus seine Visitenkarte hervor. »Ich verlass mich drauf.«
Angel ließ das Kärtchen in ihren Shorts verschwinden. »In einer Stunde, Tiziana, ja?«