Читать книгу Rot, sagte er - Klaudia Ruschkowski - Страница 11
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ОглавлениеDie Pinakothek war menschenleer um diese Zeit. Kein Einheimischer, kein Tourist. Selbst von den Volontären, die mehr oder minder freundlich Tickets verkauften, abrissen oder die vom Eintrittsgeld befreiten Volterraner durchwinkten, weit und breit keine Spur.
Angel trat in den quadratischen, von Arkaden umfassten Innenhof, in dem das gleißende Mittagslicht tanzte. Sie konnte nicht anders, sie musste sich mitten in dieses Flimmern stellen. Ihr Blick wanderte an den drei Stockwerken des Gebäudes empor, an seinen von innen verhängten Fenstern. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute in den tiefblauen Himmel hoch über ihr. Wie sich die Hitze auf ihr niederließ, wie sie über Gesicht, Hals und Arme perlte, an ihrem Körper herabrieselte, sie schon nach wenigen Sekunden ganz und gar erfüllte. Angel dankte allen guten Geistern für diesen herrlichen Moment. Dann nahm sie die hohen, von ungezählten Füßen ausgetretenen Stufen des ehrwürdigen Palazzo Minucci Solaini, der seit geraumer Zeit die Gemälde und Schätze der kommunalen Pinakothek beherbergte. Betrat den abgedunkelten Raum. Warf zunächst einen Blick nach links, auf Ghirlandaios Madonna mit dem Kind. Betrachtete Luca Signorellis Engel der Verkündigung auf der ihr gegenüber liegenden Wand, von einem Dreistrahler herausgeleuchtet. Holte dann Luft, wandte sich nach rechts und ließ sich auf einer schmalen rotgepolsterten Bank nieder. Vor der Deposizione. Der Kreuzabnahme des Rosso Fiorentino.
Wie oft hatte sie schon hier gesessen und dieses eigenartige Bild betrachtet. Jedes Mal musste sie tief durchatmen, bevor es ihr gelang, sich ihm auszusetzen. Jedes Mal kam es als Wirbel auf sie zu. Ein dramatischer Wirbel aus Figuren, Körpern, Linien, Farbe und Bewegung.
Unten, in der Bildmitte, am Fuß des Kreuzes, eine langgestreckte kniende Frauenfigur in scharlachrotem, von einem hellgoldenen Gürtel gehaltenen Gewand … den Rücken zum Betrachter … dynamisch vorgebeugt, eine Bewegung, die sich von ihrem linken Bein, vom Scharlachrot bedeckt, in ihren ausgestreckten linken Arm verlängert, mit dem sie, die Junge, den Schenkel einer alten Frau umfasst. Die, Maria … den Kopf von einem schwarzen Tuch geschützt, das Antlitz dunkel und doch leichenfahl … wird zu beiden Seiten von zwei weiteren Frauen gestützt. Würde sie hinsinken … was gut möglich wäre, denn die vordere ihrer Helferinnen scheint abgelenkt, sie dreht den Kopf und blickt fragend aus dem Bild heraus, während die andere, die hintere, ebenfalls in rotes, zinnoberrotes, Tuch gehüllt, gespannt, besorgt fast auf die Kniende zu ihren Füßen blickt … dann würde sich der Kopf der Frau im scharlachfarbigen Gewand und dem leicht wie zum Kuss geöffneten Mund vermutlich tief in den Schatten senken, der Marias Schoß verhüllt.
Aus der Frauengruppe auf der linken Seite des Bildes wächst eine Leiter in die Höhe. Ihr oberes Ende lehnt vor dem Querbalken am Kreuz. Auf der Leiter hangelt ein halbbekleideter Mann, auch er mit dem Rücken … jeder Wirbel, jede Rippe ist darauf abzuzählen … zum Betrachter. Sein nackter linker Fuß berührt den Bildrand. Als stoße er sich davon ab. Mit den Zehen seines rechten Fußes hält er sich anscheinend gerade noch auf einer von den Frauen verdeckten Sprosse. Fast sieht es aus, als hinge er … um dessen Unterleib ein gelblichweißes Tuch gewickelt ist, aus dem zwei kraftvolle Oberschenkel ragen … in der Luft, als schwebte er schräg auf das Kreuz zu. Dabei scheint er, trotz der für ihn nicht ungefährlichen Lage, mit dem linken Arm das Bein der teuflischen Gestalt über ihm wegzudrücken, um an die Leiter zu gelangen und sich im letzten Moment dort festzuhalten. Sein anderer Arm greift unter die angewinkelten Knie des Christus. Dessen Füße ruhen auf dem Vorsprung des Kreuzes. Zarte Füße, tänzerisch, übereinanderliegend, das Blut an den Rändern des tiefen Lochs, durch das der Nagel sie ans Kreuz schlug … er ist bereits entfernt … scheint schon verkrustet, die Füße schimmern grünlich … wie der ganze Körper des Christus.
Grünlich, Grün … so eine Sache. Da scheidet sich die Farbsichtigkeit. Vielleicht handelt es sich eher um ein Oliv, vielleicht auch um ein dunkles Gelb, ein Ocker. Vielleicht vermischt mit ein paar rötlichen Partikeln.
Die wilde satanische Gestalt links oben auf der Leiter, mit ausgestrecktem Arm, weist mit dem Zeigefinger auf die Seitenwunde des Christus, fast wie ein Aufschrei. Womöglich will sie aber auch den Jungen, der den Christuskörper von der anderen Seite, von einer zweiten, am Rücken des horizontalen Kreuzbalkens ruhenden Leiter aus balancierend mit dem linken Arm stützt … wobei sich seine rechte Hand von hinten an das Kreuz klammert und er den eigenen, zwischen Kreuz und Christus eingeklemmten Hals zu riskieren scheint … womöglich will sie ihn durch ihren Schrei auf etwas hinweisen, etwas Erschreckendes, eine Gefahrenquelle, vielleicht.
Erst auf den zweiten Blick wird überraschend deutlich, dass der Junge sich gar nicht auf der hinteren Leiter hält, sondern brenzlig auf einer anderen Leiter steht, die vom rechten unteren Bildrand aus schräg zum horizontalen Kreuzbalken hochstrebt. Wo sie anlehnt, ist nicht zu erkennen. Wahrscheinlich wackelt sie. Sie wird gestützt. Von einem Kind in ärmelloser Tunika … hellgelb, leicht grünlich … um seine Taille ist ein dunkelgrünes Tuch geknotet. Als hätte der Maler die Farben, die er im Körper des Christus zu einer mischt, hier in ihre Bestandteile zerlegt.
Das Kind scheint von den Frauen abgelenkt. Sein Blick fällt in das dunkle Dreieck unterhalb von Marias Schoß. Es stützt die Leiter zwar, und seine braunen Arme wirken kräftig. In diesem auf Höhe der Christusfüße in zwei Hälften … wenn nicht gar Welten … geteilten Bild steht es jedoch für sich, dazwischen. Womöglich ist sein Interesse an dem, was oberhalb von ihm geschieht, nicht groß genug, um aufzublicken. Womöglich fürchtet es sich auch.
Der Mund des wilden Satans unter dem schwarzen Bart ist wie zu einem Ruf geöffnet. Oder er hat den Ruf schon ausgestoßen … so unruhig … entsetzt vielleicht … wie sein Blick dem ausgestreckten Arm folgt. Ein schwarzes Fell liegt schwer auf seiner Schulter. Schwarz auch sein struppiges Haar. Ein Schwarz, das sich als schattiger Pinselstreif in seinen Arm verlängert. Hinter ihm bläht sich ein Tuch in Rot, Florentinerrot, gehalten von einem dramatisch um die Taille geschlungenen lachsfarbenen Schal, krude durchsetzt mit schwarzblaugrün zerfetzten Schatten.
Am oberen Rand des Bildes … einer etwa drei Meter fünfundsiebzig hohen gerundeten Tafel … erscheint zusammen mit dem Wilden ein weißbärtiger Alter. Er steht auf der rechten Leiter und beugt sich über das Kreuz, die Arme aufgestützt und ebenso aufgeregt wie der Satanische, dem er etwas mitzuteilen scheint. In Purpur er, ein stahlblaues Tuch um den Kopf, und über ihm, im schwarzen Himmelsrund über dem Kreuz … ein Himmel wie vor einem heftigen Gewitter … womöglich auch ein Blick in die Schwärze des Kosmos … weht seine Schärpe … vielleicht stürzt ein Komet.
Jedenfalls, dort oben herrscht Sturm. Zumindest ein heftiger Wind. Wo doch unten kein Lufthauch geht. Oben aber der Wirbel … alles im Wirbel … um den Christus, den die Männer so fieberhaft und mit vereinten Kräften vom Kreuz herabhieven.
Und er? Scheint in den Armen des ihn von rechts stützenden Jungen zu ruhen. Genussvoll hingesunken. Sein Kopf liegt leicht schräg im Nacken, die Wange, von orangerotem Flaum bedeckt, lehnt sanft an seiner linken, wie spielerisch in die Höhe gezogenen Schulter. Seine rötlichen Locken kräuseln sich zart vor dem Kreuz. Seine verzückten Augen sind nicht ganz geschlossen. Sein erotischer Mund, der einen Seufzer auszustoßen scheint, bleibt halb geöffnet. Auf seinen verklärten Lippen, eins mit allem, liegt ein Lächeln … ein ekstatisches, orgiastisches Lächeln. Verstörend … irritierend … rätselhaft und unvergesslich.
Wie das des Eremo. Des Toten aus der Balze.
Angel musste weinen und wusste nicht, warum. Die Tränen rannen über ihre Wangen. Sie machte keinen Versuch, sie aufzuhalten oder abzuwischen. Sie ließ sie strömen, saß da und schaute durch den silbrigen Schleier auf das dionysische Gesicht.
Auch die Figur rechts im Bild weint, den Rücken tief gebeugt, den Kopf mit dem rötlichen Haar in beide Hände vergraben. Das Licht, das von rechts, von einer Lichtquelle außerhalb des Geschehens auf die Gestalten prallt, erhellt ihr Gewand … petrolblau oder grün, so wie der Hintergrund. Sinkt der Abend oder dämmert gar der Morgen? Der lachsfarbene Umhang, der den Weinenden schützen soll und ihm, erschüttert wie er ist, doch von der Schulter gleitet, formt das obere Rund des Bildes nach.
Der Weinende steht allein. Rosso Fiorentino. Der Maler selbst. Vom Geschehen abgewandt. Ein verweigertes Selbstporträt. Er spielt den heiligen Johannes auf dieser widerspruchsvollen Bühne.
Warum er so verzweifelt ist? Er hat das alles selbst gemalt.
Zwischen seinem gebeugten Kopf … im Nacken streift ihn eine Flut aus Licht, gleitet über seinen linken nackten Unterarm, der an den Bildrand stößt … und den dunklen Hügeln, die sich von unten in das Bild hineinschieben, eine helle blaugrüne, fast türkise freie Fläche.
Und da erscheinen plötzlich fünf Figuren, weit in der Ferne, stecknadelklein. Rotweiße Federbüsche schmücken Kopf und Hut. Zwei von ihnen kämpfen auf dem Kamm des Hügels vor der türkisen Atmosphäre. Mit Säbeln oder Degen. Einer zieht sich schon bedrängt zurück. Vielleicht handelt es sich auch nur um eine Übung. Für irgendeinen Ernstfall. Schwer auszumachen. Zwei stehen weiter vorn und reden. Der linke scheint gelassen. Der rechte aggressiv. Ein fünfter, der mit dem schönsten Hut, hält sich abseits. Anmutig weist sein eines Bein nach vorn. Auf dem anderen steht er fest.
Die fünf Figuren sind für sich. Das, was sich vorn ereignet, scheint sie nichts anzugehen. Die Gruppe vor ihnen scheint sie nicht wahrzunehmen. Bis auf den Rosso selbst. Vielleicht.
»Hier, bitte. Nehmen Sie.«
Angel hatte nicht bemerkt, dass es jetzt auch andere Besucher in der Pinakothek gab. Sie löste ihren Blick von dem Bild, von dem zwischen Himmel und Erde schwebenden Christus, von dessen Lächeln, und griff nach dem Taschentuch, das ihr gereicht wurde. Sie trocknete die Tränen, putzte sich die Nase und schaute auf, um sich zu bedanken.
Der Mann verließ den dunklen Raum jedoch schon durch die Tür zum Treppenhaus. Ein Lichtstrahl, der durch eines der Fenster im Obergeschoss fiel, glitt flüchtig über seine rötlichen Locken.