Читать книгу Rot, sagte er - Klaudia Ruschkowski - Страница 7
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ОглавлениеDie Erde dampfte. Warme Nebelschwaden hingen zwischen den Hügeln, schlingerten über die Felder. Aus den Furchen sog die aufgehende Sonne die Feuchtigkeit. Ihre Strahlen zogen schräg durch den Dunst, verfingen sich in Spinnennetzen … Geflechte aus winzigen Wasserperlen … flimmerten im Grün der Blätter und schufen viele kleine Prismen, die für Augenblicke zwischen Bäumen und Gebüsch aufblitzten. Ein süßer Duft lag über dem Land.
Angel öffnete das Fenster, sog das Aroma ein und ließ den Blick über den Garten wandern, der sich rings um das Haus erstreckte. Bis auf eine Staude purpurner Glockenblumen, die der Regen zu Boden gedrückt hatte, schien alles unversehrt. Die Wedel der beiden Palmen, die sie vor sieben Jahren gepflanzt hatte … sieben Jahre, dachte sie, so lange war das jetzt schon her … sirrten in der Brise. Sie setzte den Kaffee auf, zog ein Stück Gartenband aus der Küchenschublade, griff nach einem der Bambusstecken, die für alle möglichen Fälle neben dem Eingang lehnten, und lief barfuß hinaus. Der Bambusstab drang mühelos in die noch feuchte Erde. Sie knotete das Band an ihm fest, schlang es um die Stängel und richtete die Staude auf. Die Blütenköpfe taumelten.
Drinnen begann es zu zischen. Angel biss das Band dicht am Stecken ab, rollte den Rest über dem Handrücken zusammen und war rechtzeitig zurück, um die brodelnde Moka von der Gasflamme zu nehmen. Sie angelte eine Tasse vom Regal, goss den Kaffee hinein, fischte ein paar Kekse aus einer Blechdose und ließ sich auf der Bank neben der Haustür nieder.
Wenn es das Wetter erlaubte, trank sie den Kaffee immer auf diesem Platz. Morgens, manchmal auch mittags. Von hier aus schaute sie über die Felder, zur Stadt hinauf. Wie ein Ozeandampfer schien sie auf dem Kamm des höchsten Hügels zu treiben, bereit, sich von der nächsten Woge mitnehmen zu lassen. Seit dreitausend Jahren zwischen Himmel und Erde, dachte Angel, immer im Scheinbaren. Scheinbar keine Regung, scheinbar auf dem Sprung. Nicht rund um einen Hügel in die Höhe gewachsen, obenauf ein Kirchturm oder ein Kastell, nicht umgekehrt von oben über die Hänge hinabgeflossen, sondern langgestreckt auf einem Grat.
Angel beobachtete, wie der Dunst aus den Feldern auf die Stadtmauern zu kroch. Ein riesiger Libellenflügel, dachte sie. Ihr fiel ein, was sie in der vergangenen Nacht geträumt hatte. Etwas bewegte sich auf einer Glasfläche. Ein großes, fast durchscheinendes Insekt. Es kam nur langsam voran. Dann war da ein Auge. Es schaute angestrengt von oben. Es zoomte näher. Das Insekt war ein Mensch. Das Auge sah durch seine Haut. Scannte ein Geflecht von Adern, Nerven. Wie hielt der Mensch sich auf dem Untergrund. Er musste Saugnäpfe an Händen und Füßen haben. Die Glasfläche wurde zu einem Fensterflügel. Er schlug auf. Der Mensch hatte Mühe, nicht zu fallen. Er schwankte wie ein Blatt. Er rutschte … und Hasard sagte eine Stimme, die ihr bekannt vorkam. Wie aus dem Nichts.
Das Telefon klingelte. Rasch nahm Angel den letzten Schluck Kaffee. »Pronto?«
Es war Annarella, aus der Post: »Hier liegt ein Einschreiben für dich. Ich habe unterzeichnet. War dir doch Recht? Bis fünf bin ich da. Holst du es ab?«
Angel schaute auf die Uhr. Halb acht. Dass Annarella so früh schon im Büro war.
»Vor fünf bin ich da. Danke, du bist ein Engel«, sagte sie, legte auf und seufzte. Sicher eine Rechnung.
Sie schlüpfte in Shorts und Hemd, zog ihre Arbeitsschuhe an … die besten, die ich je hatte, dachte sie, als sie die Schnürsenkel festzurrte … und ging um das Haus herum zur Werkstatt. Ein kleiner Holzbau auf einem flachen Steinfundament, auf dem einst wohl ein Stall gestanden hatte. Schafe vielleicht, vielleicht auch Schweine. Als sie kam, vor sieben Jahren, existierte nur noch ein Teil des Sockels, mit einer ramponierten Tränke. Ausreichend allerdings für die Genehmigung zu einem Neubau. Das einzig Neue weit und breit. Und auch dies aus alten Balken, die Angel vom Schreiner an der Balze bekommen hatte. Uralt, hatte er zärtlich gesagt. Deckenbalken. Aus einem der Palazzi in der Stadt. Er habe sich damals eine Menge uralter Dinge gesichert. Material, das seine kleine dunkle Werkstatt mit den vielen anderen Dingen, die er sich im Laufe der Zeit gesichert hatte, bis zum Überquellen füllte.
»Wenn du so wenig Platz hast«, hatte er Angel verraten, »und noch weniger Tageslicht, bleibt dir nichts anderes übrig, als draußen zu arbeiten … aber vielleicht«, hatte er dann hinzugesetzt, »stelle ich mir den Raum absichtlich so zu. Damit ich draußen sein kann.«
Wie gut, dass sie alles, was vor der Werkstatt im Wind trocknete, noch rechtzeitig vor dem Gewitter in Sicherheit gebracht hatte, dachte Angel. Sie schob den Riegel zur Seite und betrat den zu dieser Stunde noch kühlen Raum. Stieß die Fensterläden auf. Licht wirbelte um Terrakotta-Figuren. Vollständige, Torsi, halbe, Körperteile. Auf einem Arbeitstisch eine Kollektion kleiner Köpfe. Rohlinge, fertig für den ersten Brand. Da entdeckte sie die Bescherung. Etliche der Köpfe lagen durcheinander, manche der Figuren auf dem Boden, in tausend Stücken.
Sie kniete sich hin und schaute unter die Regale. »Komm schon«, lockte sie, »ich schneid dir nicht die Ohren ab.«
Aus einem Spalt unter dem Brennofen kam ein Niesen. Dann wurde eine weiße Pfote sichtbar. Ein kleiner staubiger Kater versuchte, seinen rotgetigerten Körper hinterherzuschieben. Angel zog ihn am Nackenfell aus der Klemme, schüttelte ihn ein wenig und pustete die Flocken aus seinem Schnurrbart. »Meine Schuld«, sagte sie. »Ich hätte besser auf dich aufpassen sollen.«
Sie setzte den Kater draußen in der Sonne ab. Sichtlich erleichtert sprang er davon. Angel schloss die Tür der Werkstatt hinter sich und machte sich ans Aufräumen.
Bis zum Nachmittag hatte sie die meisten der Stücke in einen neuen Zusammenhang gebracht. Anders als geplant. Die kleinen Köpfe mit den engelhaften Zügen hätten eigentlich auf groben Körpern ruhen sollen. Absichtsvoll gebrochen, in fragwürdiger Perfektion. Da sie nun tatsächlich gebrochen, ja zersplittert waren, würden sie womöglich eine ganz neue Gestalt annehmen. In ihrer Versehrtheit, dämmerte es Angel, lag womöglich eine Chance. Vielleicht würde bei diesem Prozess etwas sichtbar werden, das ihr bisher entgangen war. Solange wir die sichtbare Gestalt noch nicht sehen können … wo hatte sie das nur gelesen … ist es nötig, dass wir sichtbare Gestalten formen … dass wir unsere Sinne entwickeln, ja, vielleicht sogar ganz neue entdecken, um die Wirklichkeit zu sehen. In allen ihren Schichten.
Angel summte vor sich hin und beschloss, dem Kater aus der Stadt ein feines Stück Fisch mitzubringen.
Als sie sich gegen vier auf den Weg machte, flimmerte das Land bereits wieder in der Julihitze. Sie kurbelte die Fenster ihres Fiat Panda 4x4 hinunter. Ließ den warmen Wind durch den Wagen und sich selbst hindurchwehen, während sie den Feldweg zur Asphaltstraße hinaufholperte. An der Kurve, die über Marios Hof führte, stürzten ihr wie immer seine drei kleinen Hunde entgegen. Wieder einmal wunderte sie sich, wie sie es schafften, nicht unter die Räder zu kommen. Sie kläfften noch kurz in ihrem Rücken weiter. Dann hatten sie ihre Pflicht getan und trollten sich in den Schatten.
Angel fuhr auf die schmale Asphaltstraße und unter der alten Eisenbahnbrücke hindurch, über die früher eine Bahn gemächlich von der Stadt ins Tal und noch gemächlicher wieder hinauf gerattert war. Kurz darauf stoppte sie hinter einer Ape, aus deren Fenster sich Marios Sohn beugte, um mit Gino, einem Nachbarn, der dabei war, sein Hühnergatter auszubessern, etwas zu besprechen, das so wichtig war, um ein paar Minuten in Anspruch zu nehmen, aber nicht wichtig genug, um an den Rand zu fahren und auszusteigen. Am Hang bremste sie vor einer Kinderschar, die quer über die Straße zum Schwimmbad lief. Fädelte sich dann in den seit wie vielen Jahren provisorischen Kreisel zur Via Garibaldi ein. Fuhr an der Stadtmauer entlang, ließ einen dieser immensen LKWs passieren … ein Hochhaus auf Rädern, das gefährlich durch die kurvenreichen Straßen schlingerte … und entschloss sich im letzten Moment und angesichts der Uhrzeit, nicht wie sonst unten an der Docciola zu parken und die zweihundertdreiunddreißig herrlichen Stufen in die Stadt hinaufzusteigen, sondern gleich oben, in der Tiefgarage, sui Ponti.
Es war heiß, außerdem schon halb fünf. Annarella würde ihretwegen keine Überstunden machen.
Angel trat aus der Tiefe der Garage ins gleißende Licht. Sie bahnte sich ihren Weg durch Menschentrauben, grüßte flüchtig den einen und anderen Bekannten, eilte quer über die Piazza und betrat die Post.
Ein paar holländische Touristen bemühten sich vergebens, Briefmarken zu kaufen, und Annarella setzte ebenso vergebens sämtliche Sprachkenntnisse ein, um ihnen verständlich zu machen, dass sie auf der Post alles Mögliche kaufen konnten, nur keine Briefmarken.
Dann zuckte sie die Achseln, überließ die Leute der Diskussion, winkte Angel zu, ging zum Postfach und zog einen Umschlag aus der Ablage … »Hast du das gehört?«