Читать книгу Rot, sagte er - Klaudia Ruschkowski - Страница 12

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In Gedanken versunken ging Angel die Via dei Sarti entlang. Woher kam es nur, dass dieses Bild sie so bewegte? Dieses Lächeln, das dem des Toten aus der Balze so ähnlich war. Hatte nur sie es gesehen? Hatte sie es sich eingebildet? Etwas kurzgeschlossen? Und was wohl? War es wirklich so?

Allmählich erwachte die Stadt nach Mittagessen und Siesta zu neuem Leben. Die Rollläden vor ein paar Lebensmittelgeschäften wurden in die Höhe gezogen. Neben der geöffneten Tür einer Tabaccheria lehnte deren Besitzerin und rauchte. An der Ecke zur Matteotti sprang ein Ball gegen die Wand. Ein Kind weinte. Aus einem Fenster drang Technomusik. Aus einem anderen sang Eros Ramazzotti. Im Schaukasten des Kinos tauschte jemand die Plakate aus. Das Programm für die letzte Juliwoche. Vor der Sommerpause im August. Der neue Spiderman. Escape – Plan 3. Geheimnis einer Familie. Powidoki, von Andrzej Wajda. Also auch hier angekommen, stellte Angel fest. Auf Italienisch »Il ritratto negato«, das verweigerte Porträt.

Wajda verlässt uns und die Welt mit der Erzählung von einem freien Mann, dem Maler Władysław Strzemiński, einer wesentlichen Figur der malerischen Avantgarde der modernen Kunst, hieß es in der Ankündigung, die gerade mit Heftzwecken an der Rückwand des Kastens befestigt wurde. Und weiter: Der Maler, obwohl im Ersten Weltkrieg durch eine Granatenexplosion schwer versehrt, wird nicht müde, den Studenten seine Theorie des Sehens nahezubringen, beziehungsweise den ontologisch subjektiven Akt des Sehens und Wahrnehmens.

Sehr anspruchsvoll für einen Kinotext, dachte Angel. Freitag, nach dem Abendessen, halb zehn. Wahrscheinlich würde Gianluca schon zurück sein. Gewiss hätte er Lust, sie zu begleiten. Sie würde ihn anrufen.

Die Tür zum Istante stand weit offen, und Angel trat verwundert ein. »Ciao, Manù! Hast du’s endlich eingesehen, dass die Klimaanlage nichts bringt außer Sommergrippe?«

Manuele, der Besitzer der Bar, stöhnte hinter der Theke. »Cara mia, du kommst zehn Minuten vorbeigeschneit, ich stehe seit heute früh um neun schon hier und schwitze. Das Ding spinnt. Die Luft, die es rausbläst, kommt, scheint’s, direkt aus der Sahara. Aber keine Sorge. Morgen ist es repariert!«, verkündete Manuele, setzte aber vorsichtshalber ein »so Gott will« hinzu.

Er zog eine Flasche Sanbittèr Rosso aus dem Kühlfach, schnippte den Kronenkorken ab, ließ den leuchtend roten Inhalt über eine Handvoll Eisstücke in ein Cocktailglas sprudeln, spießte mit der Messerspitze zwei Zitronenscheiben auf und senkte sie samt Strohhalm in die Flüssigkeit.

Ganz gegen ihre Gewohnheit ließ sich Angel an einem Tischchen in der Ecke nieder. Eigentlich stand sie viel lieber am Tresen, die Ellenbogen aufgestützt, nippte am obligatorischen Sanbittèr und beobachtete die Menschen, die hereinkamen, hinausgingen oder vorüberliefen. Die zusammengewürfelte Menge, die sich an den hohen Fenstern vorbei drängte … auf der Hauptstraße, so eng, dass selbst im Juli nur für wenige Stunden volles Licht einfiel.

Heute saß Angel an dem Tischchen, weil Manuele sie darum gebeten hatte. Er deutete Danilo, dem Kellner, mit einem Nicken an, kurz für ihn zu übernehmen, und zog sich einen Stuhl herbei.

»Weißt du, dass er immer hier gesessen hat? Wenn er in die Stadt kam. Bestimmt drei vier Mal die Woche, auch im Winter. Hier saß er. Mit einem Rotwein. Madonnino del Chianti. Einer unserer besten. Hast du mal probiert? Immer nur ein Glas. Wenn ich ihn gefragt habe: Willst du nicht noch eins?, hat er den Kopf geschüttelt, immer. Warte … nur einmal, da habe ich ihm die ganze Flasche gebracht … Wann das war? Auf jeden Fall in diesem Jahr. April vielleicht. Oder Mai. Aber man hat ihm nichts angemerkt. Die Flasche habe ich ihm übrigens spendiert. Er hat mir ja auch hin und wieder eine Zeichnung geschenkt. Er hat meist gezeichnet, wenn er hier saß. Eigentlich ständig, wenn ich’s recht bedenke … Kannst du dir das erklären? Wenn ich nur irgendwas gespürt hätte. Aber er war immer … wie soll ich dir das sagen … so bei sich, so eins mit sich, vielleicht sogar mit allem.«

Manuele lächelte verlegen. »Ist gar nicht meine Art. Ich meine, so zu reden. Ist mir alles viel zu esoterisch … aber wenn du mich schon fragst … Kam vielleicht davon, weil er allein war, so auf sich selbst verwiesen. Er hatte niemanden. Nur den Hund. Auf einmal kam er mit dem Hund. Oder der mit ihm. Ein Findling, ein kleiner struppiger. Was wohl aus dem wird jetzt? Aber sonst war er wirklich ganz allein. Hieß ja nicht umsonst der Eremo … Sein richtiger Name? Ja, du stellst Fragen. Keine Ahnung. Offen gestanden. Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Eremo, das passte zu ihm. Ein echter Einsiedler. Jemand hat mir erzählt, dass er im Tal wohnt … wohnte, ja … unterhalb der Balze, dort, wo die kleine Straße hinabführt. In einem Haus auf dem Hangstück, das Giorgio gehört, du weißt schon, der mit dem Marktstand, der beim Obstverkaufen singt. Eher eine Hütte, wenn du mich fragst. Ganz einfach. Ich weiß nicht, ob es dort überhaupt Strom gibt. Wasser bestimmt. Zumindest eine Quelle … Ja, du hast recht, er muss die Balze gut gekannt haben. Wusste genau, wo man am besten runterspringt. Wenn man da nicht die richtige Stelle erwischt … Vor Jahren gab es mal einen Jungen, der ist ausgerutscht oder ich weiß nicht was … ach, du kennst die Geschichte … Den einen Arm hat er verloren. Wenn du wirklich Schluss machen willst, musst du dich auskennen. Sonst kommst du schlimmer raus, als du reingehst. Aber er … Ich kann’s mir einfach nicht erklären.«

Angel legte ihre Hand mitfühlend auf Manueles mit einem feuerspeienden Drachen verzierten Unterarm. Er sah sie dankbar an. »Es geht mir wirklich nah. Ich konnte ihm alles erzählen. Selbst die Sache mit … du weißt schon … Er hat alles verstanden. Er hat immer alles verstanden. Er wird mir fehlen«, sagte er traurig.

Ohne dass es Angel bewusst gewesen wäre, fuhr sie dreimal gedankenverloren um den Kreisel auf der Via Garibaldi und schließlich in Richtung Balze aus ihm heraus. In der Ferne blitzte das Meer als Silberstreif. Sie bog hinab ins Tal und durchquerte den langgestreckten Borgo San Giusto, die Vorstadt von Volterra.

Piccola Russia … so hieß das früher hier. Einmal schlug in diesen Gassen das rote Herz der Stadt … schlägt heute vielleicht noch ein winziger Teil davon … Antifaschisten und Partisanen, die hier lebten. Einer der letzten, ein kleiner schmaler Mann mit einer dicken Brille, erzählte Generationen von Kindern, wie er nach dem Krieg aus Russland zum Borgo San Giusto zurückgekommen war, zu Fuß. Und immer lachten sie ungläubig. Russland, das ist wie der Mond so weit. Zu Fuß. Wie ist das möglich? Auch der kleine, inzwischen uralte Mann lachte mit ihnen. Er konnte es selbst kaum glauben. Aber so war es gewesen.

Jetzt saß er auf der Terrasse vom Nachbarschaftsclub, wo die Alten des Viertels sich den Nachmittag mit Kartenspiel vertrieben, lauschte den Gesprächen und hing seinen Gedanken nach.

Die Leute hier gehörten schon immer zu den Ärmeren der Stadt. Arbeiter, Tagelöhner, kleine Handwerker. Man war faschistisch erzogen, grenzte sich ab, orientierte sich neu, wurde antifaschistisch, schloss sich den Partisanen an. Man traf sich im Club, der Ende der Fünfzigerjahre als Kulturverein Circolo Arci neu erstand, aß, trank und feierte miteinander. Politisierte. Und diskutierte. Über Arbeit und Soziales, über eine gerechte Verteilung der Mittel und des Reichtums, über Umwelt, Klima und Kultur.

»Um dieselben Themen geht es heute so wie damals.« Dies stand auf dem Spruchband, das die Straße überspannte. Die Ankündigung des jährlichen antifaschistischen Fests, am letzten Wochenende im September. In diesem Jahr war auch das antirassistisch wieder dabei … aus gutem Grund. »No Human is Illegal« … und … »Wir wollen einen Moment der Einheit und des Miteinanders schaffen« … las Angel, als sie auf das Banner zusteuerte … Gut, dachte sie, ich werde hingehen.

Kurz darauf parkte sie den Panda auf dem kleinen Schotterplatz neben der Balze, winkte dem Schreiner, der einer Reihe wackeliger alter Stühle neuen Halt gab, einen Gruß zu und ging langsam die schmale Straße hinab ins Tal.

Rot, sagte er

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