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Volterra, eine der Protagonistinnen des etruskischen Zwölfstädtebunds, auf dem Bergrücken hoch über dem Val di Cecina, hatte sich nie mit der Eingliederung ins Herrschaftsgebiet von Florenz und der erzwungenen Abhängigkeit von den Medici abfinden können. Das Herz der Stadt schlägt autonom. Seit Ewigkeiten.

Volterra hatte alles, was es brauchte. Das Territorium war reich. Erze, Kupfer, Silber. Wertvolle Mineralien, die etlichen illustren Volterraner Familien bereits zu ihrem Wohlstand verholfen hatten. Dann wurde 1470 im Val di Cecina ein weiteres Mineral entdeckt. Für die Wirtschaft von strategischer Bedeutung und noch dazu sehr selten in Italien: Alaun. Ein schwefelsaures Salz. Kostbar und schwer zu beschaffen, da es nur in vulkanischem Gestein vorkommt. Unverzichtbar für Wollindustrie, Lederverarbeitung, Papierherstellung und vor allem für die Tuchproduktion, Färberei, Weißgerberei. Alaun lässt alle Farben leuchten.

Die Vorkommen schienen unerschöpflich. Die Medici waren elektrisiert. Mithilfe dieses Minerals könnten sie Italien wirtschaftlich vom Orient lösen, zugleich das Monopol des Papstes über den Mineralienhandel brechen.

Ein wahrer Goldrausch brach los. Die mächtigen Volterraner Familien bekämpften sich gegenseitig und bemerkten zu spät, dass hinter der Gesellschaft, die sich bereits stillschweigend die Schürfrechte gesichert hatte, Verbündete der Medici standen. In unbändiger Wut wieder geeint, stellten die Stadt und die Familien ihre Milizen ab und besetzten die Alaunminen.

Lorenzo de’ Medici reagierte prompt. Er forderte den Abzug der Milizen, umgehend, und die Rückgabe der Minen an die Gesellschaft.

Der gute Bischof Antonio degli Agli versuchte zu vermitteln. Keine Chance. Auf keiner Seite. Lorenzo erkannte die Gefahr, die seinem Machtanspruch durch die kleine renitente Stadt drohte, doch er scheute sich, alleine zu handeln. Er brauchte Verbündete. Er wollte nicht riskieren, durch den Alleingang von Florenz die fragilen politischen Gleichgewichte in Italien zu gefährden, durch deren geschickte Gewichtung er doch in die Geschichte einzugehen gedachte.

Schließlich fand er den richtigen Mann … Federico da Montefeltro, Herzog von Urbino … der wüste einäugige Condottiere mit der Hakennase … von dem es hieß, er habe sich die Nasenwurzel herausschneiden lassen, um mit dem ihm verbliebenen Auge, dem linken, auch die von rechts heranziehenden Feinde sehen zu können … und dazu Alliierte in Italien. Mehr als gedacht.

1472, im Mai, zog ein Heer aus siebentausend Söldnern und schwerer Artillerie gegen Volterra und belagerte die Stadt. Sie widerstand. Dann war der Vorrat innerhalb der Mauern aufgezehrt. Die Kapitulation unausweichlich. Belagerer und Belagerte unterzeichneten ein Traktat zur friedlichen Übergabe, die Waffen wurden niedergelegt, die Stadttore geöffnet. Was dann geschah … dass einige Bauern nicht aufgeben wollten, dass sie sich der alten Macht der Magnaten nicht wieder unterwerfen wollten, dass sie von allen Ansprüchen befreit sein wollten und ebenso verzweifelt wie wild entschlossen gegen die Besatzer stürmten … war Montefeltro Grund genug, der Soldateska freie Hand zu lassen.

Die Sieger gaben sich wilden Plünderungen hin, es wurde gemordet und vergewaltigt. Und selbst die venezianischen Truppen, die im letzten Moment zur Rettung von Volterra eingetroffen waren, wechselten die Seite, voller Gier, und schlossen sich den Eroberern an. Ihr Wüten erhielt zu allem Überfluss noch durch ein Erdbeben Unterstützung.

Am 18. Juni 1472 war die Republik von Volterra gefallen. Zwei steinerne Löwen flankierten jetzt das Rathaus. Symbole der Herrschaft der Medici. Sie stehen dort noch heute. Entsprechend erodiert. Als Florenz Lorenzos fünfhundertsten Todestag 1992 prachtvoll beging, feierte auch Volterra. Eine Messe für die Opfer.

Angel legte die Broschur auf den Tisch zurück. »Und nun«, sagte sie, »drehen sie hier also den Mythos der Medici. Und alle sind dabei.«

»Das Ganze ist fünfhundert Jahre her. Was sage ich, mehr noch. Bist du so nachtragend?», fragte Piero. »Außerdem war Volterra selbst an der Geschichte beteiligt, das hast du doch gelesen. Ein Kleinkrieg zwischen den Familien statt Geschlossenheit gegen Florenz. Aber was willst du, es ist ja heute nicht anders.«

Weil sie bis zur Auslieferung der druckfrischen Spalletta noch eine Stunde Zeit hatte, war Angel auf die Idee gekommen, bei Piero in der Bibliothek vorbeizuschauen und dort ein Geschichtsbuch aus dem Regal zu ziehen … »Volterra und die Medici«.

Piero hatte es ihr kopfschüttelnd abgenommen … »was willst du denn mit diesem Schinken?« … und ihr dafür eine Schrift von Enrico Fiumi in die Hand gedrückt, dem Stadthistoriker. »Schau hier mal rein. Da hast du das Wichtigste auf ein paar übersichtlichen Seiten.«

Während er schwitzend einen Wälzer nach dem anderen in die Regale räumte, vertiefte sich Angel in den Text.

»Ich wusste gar nicht, dass du dich für diese alte Sache interessierst. Warum liest du das Zeug nicht im Winter?«, ächzte der Bibliothekar. »Ich entstaube dir gerne ein paar von den Bänden hier. Warst du schon am Meer?«

Angel verneinte. Sie dachte an die Figuren in ihrer Werkstatt. Nicht wider Willen, nein. Sie war anscheinend gerade dabei, sich einer Arbeit zu überlassen, die ihr viel zu tun und denken geben würde.

»Ich komme schon noch hin. Spätestens im September.« Piero strich ihr mit feuchter Hand über das Haar. Angel hauchte ihm einen Kuss auf die nicht minder feuchte Wange. »Such du mir doch schon mal das Richtige heraus. Ich schaue dann vor Weihnachten wieder rein«, sagte sie. »Hast du es übrigens gehört?« Piero pustete sacht über ein zerfleddertes Dokument. »Der Eremo. Der mit den hellen grünen Augen. Sie haben ihn heute Morgen in der Balze gefunden, tot.«

»Frag mich nicht, wen sie in den letzten paar Jahrhunderten alles in der Balze gefunden haben, tot«, erwiderte er ungerührt und ließ den Blick über die mit Historienbänden und Nachschlagewerken tapezierten Wände wandern. »Ich kann dir da noch weitere interessante Lektüren empfehlen. Bring einen Koffer mit, vor Weihnachten.«

»Hier. Gerade ausgeliefert.« Mit spitzen Fingern zog Tiziana ein druckfrisches Exemplar vom soeben gelieferten Stapel des Volterraner Stadtanzeigers.

»Tod in der Balze«. In fetten schwarzen Lettern. Darunter eine Aufnahme der wilden Erdabstürze. Mittendrin, klein, ein Mensch. Das zweite Foto zeigte die Szene in Nahaufnahme. Ein Körper, hingesunken zwischen Büschen und Unterholz, den Kopf, geneigt, auf einem Stein, leicht abgestützt von einem Bäumchen, das ihn am Grund der Balze wie liebevoll aufgefangen zu haben schien.

»Ein neues Opfer der alten Abgründe«, hatte jemand ambitioniert getitelt. »Einer unserer Mitbürger wurde am Morgen leblos in der Balze unterhalb des höchsten Felsvorsprungs gefunden. Eremo, wie er hier hieß – sein richtiger Name ist der Redaktion nicht bekannt –, galt als stiller, liebenswürdiger und froher Mensch. Er zeigte weder psychische Störungen noch depressive Züge. Angesichts dessen und wiewohl es scheint, als sei er freiwillig aus dem Leben geschieden, kann Schlimmeres nicht ausgeschlossen werden. Hinweise und Beobachtungen bitte an die Carabinieri, Kommando Volterra, Piazza dei Priori.«

Auf der nächsten Seite, zwischen den obligatorischen Kleinanzeigen, ein Zoom auf Kopf und Oberkörper. Darunter: »Dank an die Experten der RAI, deren ausgefeilte Drohnentechnik den Toten aufgespürt und uns die aussagekräftigen Fotografien geliefert hat. Die Drohne kam übrigens zu Luftaufnahmen der umliegenden Landschaft für die nächste Folge der Medici zum Einsatz. Gedreht wird im September. Wieder werden Komparsen gesucht. Interessenten kontaktieren bitte Volterra Pro Loco, Piazza dei Priori.«

»Ist doch merkwürdig«, wunderte sich Tiziana. »Als vor ich weiß nicht wie vielen Jahren der Waldarbeiter abrutschte oder was und in die Balze stürzte … das kannst du nicht wissen, ist schon endlos her, wirklich tragisch … da war er nicht mehr wiederzuerkennen. All die Bäume und Büsche und vorspringenden Felsen. Schrecklich.«

Merkwürdig, dachte auch Angel, während sie die Fotos genauer betrachtete. Verletzungen waren nicht zu sehen. Vielleicht doch keine so gute Drohnentechnik? Oder retuschiert? Aus Gründen der Pietät?

»Traurig«, sagte Tiziana ernst. »Wir wussten zwar nicht, wo er herkam, aber wir haben uns an ihn gewöhnt. Was soll das heißen, Schlimmeres?«

Angel zuckte die Achseln.

»Bitte«, verwahrte sich Tiziana. »Warum? Er hat sich nie mit jemandem angelegt. Still, wie er war.« Sie dachte nach. »Wenn ich es recht überlege … er hat eigentlich gar nichts geredet … ich kann mich nicht erinnern … nur zugehört. Ja«, sagte sie, »er hat wunderbar zugehört.« Sie seufzte. »Weißt du, er schaute fast jeden Tag herein. Auch im Winter. Ich konnte ihm alles erzählen. Wenn nur der Hund nicht immer so gedrängt hätte. Bevor er ihn aufgelesen hat, den kleinen Kläffer, ist er oft geblieben. Eine halbe Stunde. Oder mehr. Bestimmt.« Sie fuhr sich über die Augen. »Ich werde ihn vermissen.«

Angel schloss Tiziana in die Arme, legte drei fünfzig auf die Theke, »auch für die Repubblica«, und wandte sich zum Gehen.

»Hier, noch der Robinson vom letzten Samstag …«, rief ihr Tiziana hinterher. Und drückte ihr das Journal mit einem »schon gut«, in die Hand.

Das erste Mal in all den Jahren, dass Tiziana mir etwas schenkt, dachte Angel, während sie die beiden Zeitungen zusammenfaltete und sich auf den Weg zur Garage machte. Scheint, dass es ihr wirklich nahegeht.

Vom Dom schlug es sieben. Angel passierte eine Reihe betagter Herren, die wie Vögel auf der Mauer hockten, miteinander plauderten und sich an der sanften Abendsonne freuten.

Sie ging über die langgestreckte Piazza Martiri della Libertà, die bei allen Volterranern nur I Ponti hieß, bis zum äußersten Punkt. Von dort aus überblickte man bei einem Wetter wie diesem das ganze Val di Cecina. Und konnte bis zum Meer sehen, das bläulich, grünlich, von hellem Silber und Goldrot durchzogen in der unmerklich sinkenden Sonne flirrte.

Nach dem gestrigen Gewitter war die Atmosphäre so klar, dass sich Korsika nicht nur deutlich in der Ferne abzeichnete, selbst die Falten und tiefen Schluchten seiner Gebirge schienen im schrägen Einfall des Sonnenlichts hervor.

Alles eine Frage der Beleuchtung, dachte Angel. Ob und wie etwas sichtbar wird. Aber ist das, was sichtbar wird, tatsächlich so, wie wir es sehen? Oder wie es uns das Licht verspricht?

Madonna, der Fisch!, schoss es ihr durch den Kopf. Versprochen ist versprochen.

Rot, sagte er

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