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ОглавлениеWeshalb wurde ein »Einigungsvertrag« geschlossen?
Sechs Tage nach Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der DDR und der Bundesrepublik, am 6. Juli 1990, landete Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble mit einer Bundeswehrmaschine in Berlin-Schönefeld. Zu Beginn der Gespräche teilte ihm Ministerpräsident Lothar de Maizière nach seiner Erinnerung mit: »Die DDR sei bereit und entschlossen, die staatliche Einheit nach über vierzig Jahren der Teilung durch einen Beitritt zur Bundesrepublik und zum Geltungsbereich des Grundgesetzes gemäß Artikel 23 zu vollenden …« Das entsprach Wolfgang Schäubles Erwartungen. Erste Vorstellungen darüber, wie das alles in der Praxis ablaufen sollte, hatte er bereits am 29. Mai 1990 mit DDR-Staatssekretär Günther Krause ausgetauscht.
Der Artikel 23 des Grundgesetzes galt seit 23. Mai 1949 und nannte die Bundesländer, in denen das Gesetz in Kraft trat. Laut Präambel galt es jedoch »für das gesamte Deutsche Volk«. Darunter verstand man alle Deutschen, die in den Grenzen des Deutschen Reichs von 1937 lebten. Für sie sah das Grundgesetz vor: »In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.«
Es gab aber auch einen weiteren Weg zur deutschen Einheit. Er stand im Artikel 146: »Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.«
Mit 48,15 Prozent der abgegebenen Stimmen hatte am 18. März 1990 das Wahlbündnis »Allianz für Deutschland«, bestehend aus der ehemaligen »Blockpartei« CDU, der Deutschen Sozialen Union (DSU) und dem Demokratischen Aufbruch (DA), die Wahl gewonnen. Es trat für eine schnelle Vereinigung und die Wiederherstellung der Länder im Osten ein. Ministerpräsident Lothar de Maizière: »Wir hatten schon in der Koalitionsverhandlung gesagt, dass wir den Weg über den Artikel 23 gehen, aber nicht ohne Bedingungen. Nach der Wahl habe ich auch gesagt: ›Die Frage des Ob ist entschieden, die Frage des Wie, da werden wir noch ein gewichtiges Wörtchen mitzusprechen haben!‹«
Das wollte er mit seinem Gespräch mit Wolfgang Schäuble am 6. Juli 1990 beginnen. Der Westpolitiker erinnerte sich: »Die DDR habe den Wunsch, so fuhr de Maizière fort, über die Voraussetzungen des Beitritts ein Abkommen zu schließen, das nicht lapidar Zweiter Staatsvertrag, sondern ›Einigungsvertrag‹ genannt werden sollte. Die Verhandlungsthemen müssten breit gespannt sein, gelte es doch, eine Balance herzustellen zwischen dem, was auf beiden Seiten in den vier Jahrzehnten der Teilung unterschiedlich gewachsen sei.«
Das scheinbar angemessene Wort »Einigungsvertrag« erfand der damalige Regierungssprecher Matthias Gehler. Erst später kamen ihm Bedenken: »Ich ärgere mich noch heute darüber, denn es ist ein Unwort! Bei jedem Vertrag einigt man sich. Eigentlich, wenn man es genau nimmt, müsste es ›Vereinigungsvertrag‹ heißen.«
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble machte gleich zu Anfang klar, dass jegliche Verhandlungen darüber ein Entgegenkommen des Westens sei: »Wir brauchen keinen Vertrag, der Beitritt kann einfach erklärt werden. Da aber die DDR einen Vertrag wünscht, sind wir bereit, darauf einzugehen … Ich erklärte mich einverstanden, von unserem Arbeitstitel ›Zweiter Staatsvertrag‹ abzugehen und fortan allein den Begriff ›Einigungsvertrag‹ zu verwenden. Der DDR-Seite war sehr daran gelegen, dieses Abkommen nicht als etwas Zweitrangiges erscheinen zu lassen, verglichen mit dem Staatsvertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion.«
DDR-Unterhändler Günther Krause kennt den allerersten Vorschlag dazu: »Der Vertragsentwurf der DDR, der in der ersten Verhandlungsrunde übergeben worden ist, hat natürlich viele symbolische Fakten gehabt … Dass wir den ersten Vertragsentwurf vorgelegt haben, hat dem Wolfgang Schäuble an dem Verhandlungstag überhaupt nicht gefallen.«
Dass der Verhandlungsrahmen des Ostens ohnehin von vornherein begrenzt blieb, bestätigte der Bundesinnenminister: »Meine stehende Rede war: ›Liebe Leute, es handelt sich um einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, nicht um die umgekehrte Veranstaltung. Wir haben ein gutes Grundgesetz, das sich bewährt hat. Wir tun alles für euch. Ihr seid herzlich willkommen. Wir wollen nicht kaltschnäuzig über eure Wünsche und Interessen hinweggehen. Aber hier findet nicht die Vereinigung zweier gleicher Staaten statt. Wir fangen nicht ganz von vorn bei gleichberechtigten Ausgangspositionen an.‹«
Trotzdem erkannten beide Seiten, dass solch ein Vertrag geeignet sei, um einige grundlegende Probleme zu regeln. Sie betrafen die Übertragung des Grundgesetzes auf die dann nicht mehr existierende DDR, die Bildung der neuen Länder und die gemeinsame Auffassung, Berlin als deutsche Hauptstadt vorzuschlagen. Außerdem waren die Übernahme des DDR-Vermögens und die Haftung für die DDR-Staatsschulden wichtig. Alle Einzelheiten wurden in umfangreichen Anlagen zu den verschiedenen Sachgebieten geregelt.
Die Verhandlungen über den »Einigungsvertrag« zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Vorn rechts sitzt Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, Verhandlungsführer der BRD, und auf der gegenüberliegenden Seite Günther Krause, Parlamentarischer Staatssekretär beim Ministerpräsidenten und Verhandlungsführer der DDR. (picture alliance / ullstein bild /Gisbert Paech)
Mit dem Plan der DDR, der Bundesrepublik beizutreten, war ein Weg zur Einheit gewählt worden, der keinen weiteren parlamentarischen Prozess im Westen erforderte. Dort regierte die CDU/CSU in einer Koalition mit der FDP. Die notwendigen Zweidrittelmehrheiten zur Änderung des Grundgesetzes hätten den Einigungsprozess oder Teile davon blockieren können. Viele SPD-Abgeordnete favorisierten zunächst den Weg in die deutsche Einheit über den Artikel 146 des Grundgesetzes und damit über eine gemeinsam neue Verfassung.
In der DDR bedurfte die Bestätigung des Beitritts, verbunden mit der Festlegung eines konkreten Termins, noch eines Votums der Volkskammer. Am 23. August 1990 stimmten 363 Parlamentarier darüber ab. Dabei wurden 294 Ja-Stimmen abgegeben, 62 Abgeordnete votierten mit »nein«, und es gab 7 Enthaltungen.
Am 31. August 1990 unterzeichneten die Bundesrepublik und die DDR den Einigungsvertrag. Um in Kraft treten zu können, musste er zu einem Gesetz werden, dass in beiden deutschen Parlamenten mit mindestens einer Zweidritteilmehrheit angenommen wurde. Sie war auch nötig, um im Westen Grundgesetzänderungen, die sich aus dem Vertrag ergaben – wie zum Beispiel die Streichung des Artikels 23 und die Neufassung des Artikels 146 –, zu vollziehen.
Die parallelen Sitzungen des Deutschen Bundestags in Bonn und der Volkskammer in Ostberlin fanden am 20. September 1990 statt.
Kurz zuvor drohte der gesamte Vereinigungsprozess zu platzen, weil das am 24. August 1990 von der Volkskammer mit nur einer Gegenstimme beschlossene »Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS« im Einigungsvertrag keine Berücksichtigung gefunden hatte. Im Gegensatz zur DDR wollte die Bundesrepublik die Akten ins Bundesarchiv überführen und einer dreißigjährigen Sperrfrist unterstellen. Dagegen protestierten DDR-Bürgerrechtler mit einer erneuten Besetzung der ehemaligen Stasi-Zentrale und einem Hungerstreik. Am 18. September 1990 vereinbarten Günther Krause und Wolfgang Schäuble eine Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertrag, die festlegte, dass »der gesamtdeutsche Gesetzgeber die Grundsätze, wie sie in dem von der Volkskammer am 24. August 1990 verabschiedeten Gesetz … zum Ausdruck kommen, umfassend berücksichtigt«. Sie wurde als »Vereinbarung vom 18. September 1990« Teil des »Einigungsvertragsgesetzes«.
In der Volkskammer sagten 299 Abgeordnete »ja«, 80 Abgeordnete »nein«, und es gab 1 Enthaltung. Im Bundestag votierten 440 Parlamentarier mit »ja« und 47 mit »nein« bei 3 Enthaltungen.
Am 21. September 1990 stimmte der Bundesrat dem Vertrag zu, am 23. September unterzeichnete ihn Bundespräsident Richard von Weizsäcker.
Ostberlin, 20. September 1990, im Haus der Parlamentarier: Namentliche Abstimmung der Abgeordneten der Volkskammer zum »Einigungsvertragsgesetz«. An der gläsernen Abstimmungsurne gibt der Vorsitzende der PDS, Gregor Gysi, sein Votum ab. (picture alliance / dpa – Report / Wolfgang Kumm)
Nach dem Inkrafttreten wurde der Einigungsvertrag mehrfach geändert, zuletzt 2016, indem überflüssig gewordene Abschnitte gestrichen wurden.
Heute ist der Blick auf den Einigungsvertrag für manche zwiespältig. Eine grundsätzliche Kritik kommt allerdings nur noch von jenen, die die Einheit Deutschlands ablehnen. Der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière zog auch nach zwanzig Jahren eine durchweg positive Bilanz: »Manches, was die Leute beklagen: ›Ja das steht im Einigungsvertrag und ist falsch‹, ist spätere bundesdeutsche Gesetzgebung, was wir gar nicht gemacht haben. Aber man hat es sich so angewöhnt, alles, was nicht klappt, dem Einigungsvertrag anzulasten. Man sollte sich ihn ansehen, um festzustellen, dass die Anerkennung der Berufsabschlüsse der Ostdeutschen im Einigungsvertrag geregelt ist, dass ein großer Teil ihrer sonstigen zivilrechtlichen Ansprüche, Eigentumsansprüche und so weiter geregelt ist. Ich halte ihn nach wie vor für ein Meisterwerk.«
Applaus von DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière (Mitte): In Berlin, im Kronprinzenpalais, besiegeln Regierungsmitglieder beider deutscher Staaten am 31. August 1990 den Beitritt der DDR zur BRD. Die beiden Verhandlungsführer des Einigungsvertrags, Wolfgang Schäuble (links) und Günther Krause (rechts), tauschen die von ihnen unterzeichneten Urkunden. Das Vertragswerk umfasst rund 900 Seiten. (picture alliance / dpa – Bildarchiv / Peter Kneffel)