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Warum hungerten in Thüringen Bergleute?

Kali aus Thüringen war ein stabiles Exportprodukt der DDR, denn sie konnte es unter dem Weltmarktpreis anbieten. 26 Millionen Tonnen wurden 1990 gefördert. Doch das Kaliwerk »Thomas Müntzer« in Bischofferode, das seit 1970 zum Volkseigenen Betrieb (VEB) Kombinat Kali mit Stammsitz in Sondershausen gehörte, sollte geschlossen werden. Der Grund: Im Westen förderte etwa ein Drittel der Belegschaft der dortigen Kali-Gruben die gleiche Menge, und Ost und West konkurrierten auf dem Weltmarkt. In Bischofferode mussten tausendneunhundert Kumpel gehen, die verbliebenen rund siebenhundert Leute erhielten trotzdem die Produktionsmenge aufrecht. Dennoch verkündete im Dezember 1992 die Treuhand das endgültige Aus zum Jahresende 1993. Nach der Fusion mit der westdeutschen Kali und Salz AG (später K+S AG) mit Sitz in Kassel würde es nur noch drei Gruben im Osten geben.

Dort regte sich Widerstand. Am 7. April 1993 besetzten fünfhundert Bergleute das Werk. Die Produktion lief diszipliniert weiter – ein einmaliger Vorgang in der deutschen Streikgeschichte. Als im Juli 1993 der Treuhandausschuss des Deutschen Bundestags die Fusion bestätigte, beschlossen zunächst zwölf Kumpel, in einen unbefristeten Hungerstreik zu treten. Es wurden immer mehr, und ihr Kampf galt bald als Symbol für den Kahlschlag der ostdeutschen Wirtschaft.


Bischofferode, April 1993: Kumpel des Kaliwerks besetzen den Betrieb. (picture alliance / ZB – Fotoreport / Ralf Hirschberger)


Bischofferode, Juli 1993: Diese Kumpel gehören zu den zwölf am 2. Juli 1993 in den Hungerstreik getretenen Bergarbeitern. (picture alliance / ZB – Fotoreport / Ralf Hirschberger)


Bischofferode, 1. August 1993: Die Rockgruppe »Puhdys« gibt ein Benefizkonzert für die streikenden Kalikumpel, bei dem rund zehntausend Sympathisanten aus der ganzen Republik ihre Solidarität bekunden. (picture alliance / dpa – Report / Ralf Hirschberger)

Am Ende standen rund vierzig Leute im Hungerstreik, den sie einundachtzig Tage durchhielten. Solidarität kam aus allen ostdeutschen Bundesländern. Allein der Verkauf von T-Shirts mit dem Aufdruck »Bischofferode ist überall« brachte 500.000 Mark ein. Schriftsteller wie Stefan Heym und Ulrich Plenzdorf bekundeten ihre Solidarität, und die »Puhdys« veranstalteten ein Benefizkonzert für die Streikenden. Es gab einen Besuch beim Papst in Rom und einen Marsch zur Treuhand nach Berlin.

Klaus-Dieter Schäfer, Kalikumpel aus Bischofferode und damals achtundvierzig Jahre alt, war am 17. Mai 1993 dabei. Ein Foto, auf dem er mit einem Knüppel auf ein Treuhandschild eindrosch, findet sich in manchen Geschichtsbüchern. Es blieb eine hilflose Wut, denn am Schluss stand trotz alledem das Aus. Für Klaus-Dieter Schäfer kam es Ende 1993 nach sechsundzwanzig Jahren im Kaliwerk. Es folgten noch zwei Jahre Abrissarbeiten, dann eine kurze Zeit in einer Auffangfirma, Arbeitslosigkeit und schließlich der Herzinfarkt. »Seitdem habe ich Rente gekriegt. Da kann man sagen: Arbeitslos macht krank«, erinnerte sich Schäfer fünfundzwanzig Jahre später.

Damals, 1993, ahnten er und seine Kumpel nicht, dass ihr Kampf von Anfang an keine Chance hatte.


Bischofferode, 21. August 1993: Ehemalige Stahlarbeiter des stillgelegten Krupp-Werks in Oranienburg bei Berlin demonstrieren vor den Werkstoren des Thüringer Kaliwerks für dessen Erhalt. (picture alliance / dpa / Ralf Hirschberger)

In dem über zwanzig Jahre lang geheim gehaltenen zweiundsechzigseitigen Vertrag zum Verkauf der Thüringer Kaligruben durch die Treuhand an das damalige Toch­ter­un­ternehmen des BASF-Konzerns, Kali und Salz AG, hieß es in der Anlage, dass der Geschäftsplan »die Schließung von Bischofferode zum Ende des Jahres 1993« unterstelle. Für die Verluste vor und nach dem Ende der »Mitteldeutschen Kali AG« (in der die Betriebe der ostdeutschen Kaliindustrie gebündelt worden waren) sollte weitestgehend der Steuerzahler aufkommen. Der Vertrag regelte, dass Fehlbeträge »in den Geschäftsjahren 1993, 1994 und 1995 zu 90 Prozent auf die Treuhandanstalt und zu 10 Prozent auf K+S« aufzuteilen seien. Für die beiden folgenden Jahre wurde eine abgestufte Verlustübernahme der K+S auf bis zu 20 Prozent verabredet. In Artikel 10 hieß es unter anderem: »Die Treuhandanstalt stellt das Gemeinschaftsunternehmen von allen Kosten aus Löhnen und Gehältern für Mitarbeiter des Betriebes Bischofferode frei, die dem Gemeinschaftsunternehmen nach dem 01.01.1994 entstehen.« Und das, obwohl nur 40 Prozent der Aktien an der Mitteldeutschen Kali AG bei der Treuhand verblieben, K+S jedoch 51 Prozent bekam. Der Rest wurde anderweitig aufgeteilt.

Bei den »garantierten« siebentausendfünfhundert Arbeitsplätzen auf fünf Jahre öffnete der Vertrag ein Hintertürchen. Ein Passus sah vor, dass ein zusätzlicher begrenzter Personalabbau »nicht der Zustimmung der Gesellschafterversammlung« bedürfe. Darüber hinaus stellte die Treuhandanstalt »das Gemeinschaftsunternehmen … für Sozialplankosten (inklusive mit dem Personalabbau verbundene Prozesskosten) frei«. Selbstverständlich übernahm sie auch die Verantwortung für stillgelegte Gruben. Alles, was nicht mehr benötigt würde, sollte an die Treuhandnachfolgerin »Gesellschaft zur Verwahrung und Verwertung von stillgelegten Bergwerksbetrieben mbH« übertragen werden.

Die protestierenden Kalikumpel wussten damals von alledem nichts. Sie bauten auf die Meinung der Experten, die das Werk als ausgesprochen ertragreich einstuften. Es hätte noch fünfzig Jahre betrieben werden können und förderte in Europa beispiellos reines Salz, das früher zu 90 Prozent exportiert wurde.

Und genau hier lag der Grund dafür, dass allein für die Schließung des »Thomas-Münt­zer-Schachtes« 180 Millionen Euro aufgewandt und die Grube im Eichsfeld mit Lauge geflutet und dadurch unbrauchbar gemacht wurde. Gerhard Jüttemann, damals für die Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat der Mitteldeutschen Kali AG, beschrieb ihn so: »Wenn die Mitteldeutsche Kali AG nicht mehr liefern kann, müssen unsere Kunden bei der Konkurrenz einkaufen. Die kann dann ihren Monopolpreis bestimmen.« Von den neuen Arbeitgebern sagte das so niemand den Bergleuten. Als Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP), zuvor selbst Treuhandmanager, im November 1993 in Bischofferode auftauchte, beschwichtigte er nur: »Ihre Betroffenheit ist okay, Bergbau ist immer mehr als ein normaler Arbeitsplatz, Bergbau ist ein Mythos – aber Ihr Geschrei wird das nicht lösen …«

Das erinnerte die Frauen und Männer vielleicht an einen Ausspruch des Namensgebers ihrer Grube. Bauernkriegsführer Thomas Müntzer erklärte 1524: »Die herren machen das selber, daß in [ihnen] der arme man feyndt wird. Dye ursach des auff­rurß wöllen sye nit wegthun.«

Diese »Ursach« hatte tiefe Wurzeln. In den 1950er Jahren planten Ost wie West die Wiedervereinigung, jede Seite in der Annahme, ihr Gesellschaftsmodell würde das andere besiegen. Im Osten wurden an der »Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft ›Walter Ulbricht‹« in Potsdam vorsorglich künftige Bürgermeister und Schulräte für die westdeutsche Provinz ausgebildet, im Westen plante der »Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands beim Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen«, wie es wirtschaftlich zusammengehen könnte. In den »Richtlinien für Übergangsmaßnahmen im Bereich Düngemittel«, vom Forschungsbeirat am 17. Oktober 1956 verabschiedet, hieß es dazu: »Die Düngemittelindustrie in der Sowjetischen Besatzungszone weist bei Stickstoff und Kali bereits jetzt Kapazitäten auf, die im Falle der Wiedervereinigung eine Ausweitung unter den gegebenen Umständen nicht erfordern … Darüber hinaus hat der neue Fünfjahrplan auch expansive Investitionen in erheblichem Umfange vorgesehen … Hieraus würden sich nach der Wiedervereinigung Überkapazitäten für Gesamtdeutschland ergeben, falls die jetzt vorgesehenen sowjetzonalen Lieferungen an die Ostblockländer dann nicht mehr möglich sein sollten … In Westdeutschland sind die Kriegs- und Demontageverluste weitgehend aufgeholt worden. Die Stickstoff- und Phosphatkapazitäten weisen zurzeit große Reserven auf. Auch die Kapazität der Kali-Industrie ist in Westdeutschland sehr groß.«

Als es dreiunddreißig Jahre später dann tatsächlich mit der Einheit Deutschlands so weit war, verschwand deshalb die ostdeutsche Konkurrenz. Am 15. Dezember 1993 genehmigte die EU-Kommission trotz kartellrechtlicher Bedenken die Fusion. In Bischofferode verstand das niemand. Der Betriebsrat kommentierte: »Der Belegschaft aber bleibt die Frage unbeantwortet, warum in ihrem Werk, bei hoher Produktivität, soliden Marktanteilen und tragfähigen betriebswirtschaftlichen Konzepten, die Kaliproduktion eingestellt werden soll.«

Der Widerstand war jedoch gebrochen. An Protestaktionen nach der Fusionsentscheidung beteiligten sich nur noch wenige. Die Bergleute bekamen die Kündigung und eine Abfindung. Von den von der Thüringer Landesregierung versprochenen siebenhundert Ersatzarbeitsplätzen entstanden etwa hundert im eigens erschlossenen örtlichen Gewerbegebiet. Knapp zwei Dutzend Kalikumpel fanden dort eine neue Anstellung. Seit der Stilllegung der Grube verlor Bischofferode rund siebenhundert Einwohner; fünf Wohnblöcke riss die Gemeinde ab.

Die obertägigen Anlagen des Kaliwerks wurden ab 1993 bis auf wenige Ausnahmen demontiert, die untertägigen Schächte verfüllt. Aus der Kalihalde soll ein grüner Hügel entstehen.

Am 3. Februar 1994 gründete sich der »Thomas-Müntzer-Kaliverein Bischofferode e. V.«. Er kaufte das ehemalige Betriebsambulatorium, was der Erlös aus den Protest-T-Shirts ermöglichte. Seit 1996 erinnert dort nun ein kleines Museum an die zu Ende gegangene Bergbautradition.


Bischofferode, 1994: Verschlafen liegt der kleine Ort am Fuße der riesigen Kalihalde. Äußerlich erinnert nichts mehr an den ein Jahr zuvor republikweit beachteten Protest der Kalikumpel gegen die Schließung ihrer Grube. (picture alliance / ZB – Fotoreport / Heinz Hirndorf)

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