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„Reißt die Mauern nieder!“

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Ich wollte die junge Frau am Zaun schon wegschicken. Sie machte auf mich einen etwas aufdringlichen Eindruck und das behagte mir nicht.

„Was wollen Sie hier?“, fragte ich in meiner direkten deutschen Art.

„Ich bin Zahnärztin und würde das Krankenhaus gerne mal von innen sehen!“

Ich blickte in ihr Gesicht. Ob es nun an ihrem sympathischen Lachen lag oder an meiner Ahnung, dass ich diese Dame ohnehin nicht mehr loswerden würde, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall gerieten wir beide ins Gespräch. Die Einweihung des Spitals am 31. August 2007 gehörte bereits der Geschichte an, aber wir hatten das Spital noch nicht eröffnet. In fast allen Abteilungen war das Team um Udo Klemenz am Innenausbau am Werk und in den beiden designierten Zahnarzträumen wurden gerade die Fliesen verlegt. Eine Zahnärztin würden wir in der Tat früher oder später brauchen.

„Haben Sie denn schon Erfahrungen in Ihrem Beruf gesammelt?“ Ich kam gleich auf den entscheidenden Punkt zu sprechen.

„Doch, doch, Erfahrung habe ich, sogar in Israel habe ich schon gearbeitet!“

Jetzt lächelte auch ich. Eine Peruanerin, die in ihrem Lebenslauf eine Arbeitsstelle in Israel vorweisen konnte, gehörte nicht zu den Nullachtfünfzehn-Kandidaten, die sonst an unsere Tür klopften.

„Ich zeige Ihnen gerne das Krankenhaus, kommen Sie rein!“ Mit diesen Worten öffnete ich ihr die Tür.

Dr. Karina Herrera kam, sah und siegte. Der Posten der ersten Zahnärztin bei Diospi Suyana gehörte ihr. Der alte Zahnarztstuhl, mit dem sie vorliebnehmen musste, hatte zwar seine Macken, aber unsere Techniker kriegten das Teil mit etwas Fantasie und Willensstärke immer wieder flott.

Der Bedarf an einer zahnmedizinischen Versorgung ist in den Anden Perus immens groß. Ein Blick in die Münder unserer Patienten im Wartesaal verrät das wahre Ausmaß des Problems. Oft sieht es in der Mundhöhle aus wie in einem Steinbruch. Wenn wir in Apurimac den Unholden Karius und Baktus wirklich den Krieg erklären wollten, dann wäre es mit einem Behandlungsplatz nicht getan.

Am 24. Juli 2008 flog das Ehepaar Geister nach Peru. Zahnarzt Dr. Geister hatte in einer Familienzeitschrift von Diospi Suyana gelesen. Nach mehreren Herzoperationen und seinen sechzig plus an Jahren konnte man ihn kaum als idealen Kandidaten für einen Einsatz in 2 650 Metern Höhe bezeichnen. Seine körperliche Fitness ließ zu wünschen übrig. Aber Dankfried Geister war nicht von allen guten Geistern verlassen, denn er war selbst einer. Er und seine Frau Dorothea sprühten förmlich, sobald sie das Wort Diospi Suyana in den Mund nahmen. Hoch über dem Atlantik zeigten sie ihren Sitznachbarn den Diospi-Suyana-Film im Laptop. Wer ein Flugzeug in ein Heimkino umfunktioniert, um für eine Idee Werbung zu machen, ist zweifelsohne ein leidenschaftlicher Sympathisant mit einer tiefen Überzeugung.

Kaum führte ich Dankfried und Doro Geister durch die Räumlichkeiten des Spitals, da begann der Zahnarzt aus Denkendorf zu fantasieren. „Klaus, wir reißen am besten einige Mauern ein und verdoppeln den Platz für die Zahnmedizin!“ – Ich verzog keine Miene, aber innerlich dachte ich: Jetzt mach mal halblang … Wir sind froh, dass diese Mauern hier endlich stehen!

Dr. Geister fing an zu arbeiten, als gelte es, einen Rekord aufzustellen. Dankfried spricht ausgezeichnet Deutsch, Spanisch dafür eher weniger. Aber ein junger Student aus Deutschland war zur Stelle und diente als Übersetzer und Assistent zugleich. Valerio Krüger und Dr. Geister entpuppten sich als das richtige Gespann, um die Gebisse unzähliger Quechua-Indianer zu restaurieren.

Dankfrieds Formulierung vom „Mauern niederreißen“ setzte sich in meinem Kopf fest. Natürlich sah ich ein, dass ein einziger Zahnarztraum in unserem Spital höchstens ein Tropfen auf dem heißen Stein wäre. Ich kam ins Grübeln und irgendwann wurde mir klar, dass wir keine Mauern niederreißen, sondern vielmehr neue Mauern errichten müssten. Die Zeit war reif für die Diospi-Suyana-Zahnklinik.

Bei Dr. Geister rannte ich mit meinem Vorschlag sofort offene Türen ein. Er bot an, die Pläne für eine solche Klinik nach dem Modell seiner eigenen Praxis in Denkendorf zu erstellen. Den passenden Platz für ein weiteres Gebäude fanden wir hinter der Röntgenabteilung. Geld wäre auch kein Problem. Denn wenn dieses Projekt dem Willen Gottes entspräche, würde er sich auch um die nötigen Finanzmittel kümmern. Es heißt ja, dass Gott bezahlt, was er bestellt.

Aber wer sollte die Klinik bauen? Ich nahm telefonisch intensiven Kontakt zu einem Bauingenieur auf, der im Januar 2008 Peru verlassen hatte, aber für solch eine Aufgabe geradezu prädestiniert war. Immerhin hatte jener erfahrene Bauleiter schon die Konstruktion des Hospitals überwacht. Am 23. Juni 2009 veröffentlichte ich auf unserer Webseite eine Eilmeldung. „Die Klemenz kehren nach Peru zurück!“ Wie war es dazu gekommen? Am Vortag hatten sich Barbara und Udo Klemenz in den Vortragssaal der katholischen Hochschulgemeinde in Gießen geschlichen, um mir ihre erneute Mitarbeit zuzusichern. Schon im August 2009 sollte das große Bauvorhaben beginnen.

Nach dieser positiven Nachricht war meine Präsentation an jenem Abend wohl so energiegeladen wie noch nie zuvor.

Der Inhalt ist meist viel teurer als die Verpackung. Diese Lebensweisheit trifft auch auf eine Zahnklinik zu. Für das Gebäude veranschlagten wir um die 200 000 US-Dollar. Die Ausstattung würde ein Vielfaches dessen verschlingen, es sei denn, wir würden mit großzügigen Sachspenden gesegnet.

Ich erinnerte mich gleich an Claudia Dräger. Die Gattin des Inhabers der Dräger-Gruppe hatte uns Ende August 2008 besucht, um persönlich eine Großspende von sieben nagelneuen Geräten für unsere Operationssäle und die Intensivstation zu überreichen. Sie und ihre Reisebegleiter vom Lübecker Unternehmen verbrachten drei intensive Tage in Curahuasi. Das Pflichtprogramm für unsere Besucher bestand natürlich aus einer Führung durch das Krankenhaus sowie der feierlichen Zeremonie bei der Übergabe der wertvollen Sachspende. Als Kür hatte meine Frau Tina ein leckeres Abendessen bei uns zu Hause vorbereitet.

Claudia Dräger teilte zwar nicht unsere christliche Überzeugung, aber aus tiefstem Herzen die Liebe zu unserem Lebenswerk. In einem Telefongespräch im Herbst 2008 hatte sie ihre Meinung mit unverblümter Freundlichkeit in den Hörer geschmettert: „Herr John, mit ihrem Glauben sind Sie völlig verrückt, aber Ihr Spital finde ich echt klasse. Ich helfe Ihnen gerne, wenn Sie Kontakte brauchen!“ Bei der Einrichtung der Zahnklinik waren wir auf diese Kontakte dringend angewiesen.

Frau Dräger schickte mich zuerst nach Salzburg zum Exportdirektor der Sironagruppe. Herr Vogel war im Stress wie auch ich, aber er hörte mir zu und stellte eine Spende von fünf neuen Zahnarztstühlen in Aussicht. Vielleicht würde so mancher Zahnarzt vor Neid erblassen. Aber diese Großspende sollte ja nicht uns privat, sondern unzähligen Quechua-Indianern zugutekommen.

Dann vermittelte mir Frau Dräger für den 3. März 2009 in Washington eine einstündige Audienz bei Larry Culp, dem damaligen Präsidenten und Geschäftsführer der Danaher-Gruppe. Als Chef von 400 Unternehmen unter dem Dach von Danaher wog seine Meinung über uns eine ganze Menge. Was er von mir hörte, schien ihm zu gefallen, und er entschied, dass die brasilianische Unternehmenstochter von Kavo uns mit fünf Stühlen versorgen sollte.

Eigentlich hatte ich mir keine weiteren Zahnarztstühle erhofft, sondern die Spezialmöbel für die Klinik, die die Firma Kavo ebenfalls in ihrem Repertoire hat. So langsam wurde die Angelegenheit für mich kompliziert. Beide Hauptkonkurrenten auf dem Weltmarkt hatten mir das gleiche Angebot gemacht. Die eine Firma wusste nichts von der anderen und ich müsste mich wohl oder übel auf eine Seite schlagen und die andere gründlich verärgern.

Ich vertraute mich Gott im Gebet an und bat ihn, diese verwickelte Angelegenheit zu klären. Und der Ausweg aus meinem Dilemma wurde mir von Kavo auf einem unerwarteten Tablett serviert. Nach meinem Besuch bei Kavo in São Paulo gingen nämlich die Monate ins Land und Kavo-Brasilien kriegte die Spende der Stühle trotz Anweisung aus den USA einfach nicht gebacken. Die Brasilianer trödelten so lange, bis ich, ohne das Gesicht zu verlieren, ihre Sachspende ablehnen konnte. Am 7. Juli 2009 schrieb ich eine offene E-Mail nach São Paulo mit Kopie an Larry Culp. Darin erläuterte ich, dass ich mich wegen der langen Verzögerung seitens Kavo für ein Spendenangebot von Sirona entschieden hätte.

Einige Tage später saß ich gerade in der Morgenandacht des Krankenhauses, da klingelte mein Handy. Ich ging ins Freie und drückte auf die Empfangstaste. Es meldete sich Larry Culp. Er entschuldigte sich bei mir für die – wie er es ausdrückte – Inkompetenz von Kavo Brasilien.

„Larry“, sagte ich mutig „vielleicht kann ja Kavo Deutschland die Möbel für unsere Zahnklinik spenden. Wäre das nicht eine gute Lösung?“

Der Chef von Danaher überlegte nicht lange. „Ja, so machen wir das, die Möbel kriegt ihr aus Deutschland!“

Viele Jahre sind seit jenem kurzen Telefongespräch vergangen, aber ich habe diese fünf Minuten nicht vergessen. Larry Culp leitete einen Mischkonzern, der im Jahr 20 Milliarden US-Dollar Umsatz erwirtschaftet. Ich war kein Großaktionär, kein Großkunde und auch kein Fernsehstar. Trotzdem redete er mit mir auf Augenhöhe und es wurde deutlich, dass er Diospi Suyana um jeden Preis unterstützen wollte. Aber warum eigentlich? Stand er vielleicht in der Schuld von Claudia Dräger? Das ist eher unwahrscheinlich. Hatte die Not der Quechua-Indianer womöglich sein Gewissen belastet? Das glaube ich nicht. Den Grund sehe ich ganz woanders. Die Bibel sagt, dass wir Christen Botschafter an Christi statt sind. Wir gehören gewissermaßen zum diplomatischen Personal des Himmels. Wir dienen Gott, dem König der Könige. Und wenn wir seinen Willen auf Erden umsetzen, dürfen wir mit seinem Segen rechnen – im Kleinen und im Großen.

Als ich am 15. September das Firmenhauptquartier von Kavo-Deutschland in Biberach betrat, empfing mich der Geschäftsführer Henner Witte mit den folgenden Worten: „Herr John, Sie können sich von uns wünschen, was Sie wollen. Sie kriegen es!“

Ob ich die Audienz bei Stanley Bergman vier Monate zuvor nun Claudia Dräger oder Larry Culp verdanke, entzieht sich meiner Kenntnis. Am 12. Mai 2009 hörte sich der Generaldirektor von Henry Schein meinen Vortrag an. Das Unternehmen ist der weltweit größte Anbieter von Verbrauchsmaterialien für Zahnkliniken. Wir saßen in einem New Yorker Edelhotel und ich tippte mich eifrig durch die Folien meiner PowerPoint-Präsentation. Diese sechzig Minuten hatten es in jeder Beziehung in sich: Stanley Bergman ist Jude und ich bin Deutscher. Wie viele Mitglieder seiner Verwandtschaft haben wohl in deutschen Konzentrationslagern ihr Leben verloren? Stanley Bergmann ist Jude und ich bin Christ. Natürlich endete mein Vortrag wie immer mit dem Kreuz Jesu Christi und seinem leeren Grab zu Ostern.

Einen Tag später sagte mir Mr Bergmann schriftlich seine Hilfe zu. Das Endergebnis der Materialspenden lag bei rund 200 000 US-Dollar. Damit waren wir auf Monate mit den Bedarfsartikeln versorgt, obwohl von der Zahnklinik außer dem noblen Vorsatz noch gar nichts existierte.

Ab August 2009 trieb Udo Klemenz den Bau der Klinik mit einem Tempo voran, als ob der Zeitdruck ihm im Nacken steckte. Gedacht war an eine moderne Zahnarztpraxis mit fünfzehn Räumen, darunter fünf Behandlungszimmern, einem Labor und einem Röntgenraum. Die Architektenpläne und die Berechnungen eines Statikers waren längst abgeschlossen. Eines schönen Morgens – Udo Klemenz und ich studierten gerade die Zeichnungen – trat Intensivpfleger Michael Mörl ins Baubüro und brachte sofort eines seiner Herzensthemen zur Sprache.

„Was haltet ihr eigentlich davon, wenn wir eine Optikerwerkstatt bauen würden?“ Der Grund seines Anliegens war schlicht und ergreifend die Tatsache, dass seine Frau Elisabeth als gelernte Augenoptikerin so eine Abteilung einrichten und vielleicht sogar eine Zeit lang leiten könnte.

Udo und ich blickten uns an, dann sahen wir zu Michael hinüber und nickten. „Wir setzen einfach noch eine Etage oben drauf. Dann haben wir nicht nur Platz für eine Optikerwerkstatt, sondern wir gründen auch eine richtige Augenklinik!“

Wer diesen Satz von sich gegeben hat, wird keiner von uns mehr wissen. War es Udo, Michael oder ich oder wir drei gemeinsam? Fest steht nur eines: In diesem Augenblick gegen 10 Uhr am Vormittag entstand die Diospi-Suyana-Augenklinik.

Gott hat uns gesehen

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