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Große Aufregung danach

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Am Nachmittag gingen die meisten Mitarbeiter nach Hause und fielen erschöpft in ihre Betten. Verständlich, hatten sie doch nicht nur die Hälfte ihres Nachtschlafs verpasst, sondern waren zudem fast 12 Stunden unermüdlich durch das Krankenhaus gehetzt, um die Unfallopfer zu versorgen.

Mittlerweile lagen alle Röntgen- und Laborergebnisse vor. Vier Patienten mussten dringend nach Cusco verlegt werden. Mein Patient mit der aufgerissenen Leber wartete auf seine zweite Operation, und zwar an einem Spital, wo eine ausreichende Menge an Blutkonserven zur Verfügung stand. Denn niemand konnte voraussagen, ob und wenn ja wie stark es aus der Leber nach Entfernung der drei Kompressen wieder bluten würde. Der Kopf einer Frau war bis zur Unkenntlichkeit angeschwollen. Sie bedurfte der fachkundigen Expertise eines plastischen Chirurgen, um ihre diversen Brüche im Gesichtsbereich zu verdrahten. Eine weitere Patientin namens Benita Sutta lag seit ihrer Aufnahme bewegungslos auf einem harten Brett. Bei ihr bestand der hochgradige Verdacht eines Bruchs des ersten Halswirbels. Und dann war da noch ein junger Mann mit der Verdachtsdiagnose Leukämie. Die Computertomografie hatte bei ihm ein großes Hämatom in der Milz gezeigt. Falls die Milz platzen sollte, würde der Patient in wenigen Minuten verbluten.

Vier Patienten mussten also nach Cusco. Aber wie? Die Straße zwischen Cusco und Curahuasi war durch das Hochwasser an vielen Stellen zerstört worden. Auf absehbare Zeit gäbe es für Fahrzeuge jedweder Art kein Durchkommen. Es blieb also nur die Verbindung über die Luft.

Ab Montagmittag telefonierte ich pausenlos mit dem Gesundheitsministerium in Lima sowie dem Büro der First Lady Pilar Nores de García. Die Gattin des Staatschefs hatte sich 2006 bereit erklärt, unser Spital als Patin zu unterstützen, wenn immer wir in der Klemme säßen. Dieser Ernstfall war nun eingetreten. Wer denkt, es könne doch kein Problem sein, vier Patienten mit einem Hubschrauber 35 Minuten von A nach B zu befördern, kennt nicht die Realitäten der peruanischen Anden. Die meiste Zeit über ist in der Touristenmetropole Cusco überhaupt kein Hubschrauber stationiert. Und wenn vorhanden, muss erst die Kostenfrage für den Flug geklärt werden. Ein Netz mit Rettungshubschraubern, so wie wir es in Europa haben, fehlt in Peru gänzlich.

Erschwerend kam hinzu, dass nicht nur wir eine Hubschrauber-Evakuierung planten. Zwischen Machu Picchu und Cuso hatte nämlich eine gigantische Lawine die Schienen der Eisenbahngesellschaft Peru-Rail verlegt. Über zweitausend Touristen saßen in den nahen Ortschaften fest und waren plötzlich statt in Fünf-Sterne-Hotels nur in notdürftig aufgebauten Zelten untergebracht.

Machu Picchu zählt zu den sieben neuen Weltwundern, das jedes Jahr über zwei Millionen Besucher aus aller Welt anlockt. Es ist die Kombination aus Inka-Erbe, einer atemberaubenden Landschaft und beeindruckenden Ruinen, die diese Ruinenstadt zu einem Muss für jeden Touristen macht. Nicht wenige, besonders die Esoteriker, halten Machu Picchu für das Zentrum eines starken Energiefeldes. Wie dem auch sei, eines ist sicher. Wenn es an dieser historischen Stelle mächtig kracht, dann sind die Augen der internationalen Presse sofort dorthin gerichtet.

In allen Nachrichtensendungen Perus, aber auch in Europa und den USA standen die „armen“ Touristen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der peruanische Staat musste umgehend handeln, um nicht als tatenlos kritisiert zu werden.

Und dieser politischen Notwendigkeit folgend begann das peruanische Militär eine Luftbrücke einzurichten, um die gestrandeten Touristen aus ihrer „Falle“ zu befreien. Touristen sind nämlich nicht nur Menschen, sondern auch begehrte Devisenbringer. Dieser Umstand zählt viel in unserer realen Welt.

Machu Picchu befindet sich nur rund fünfzig Kilometer Luftlinie von Curahuasi entfernt auf der anderen Seite der Gebirgskette. Von meinem Fenster aus konnte ich die Hubschrauber am Horizont beobachten und sogar ihr Dröhnen hören. Wehmütig schaute ich zu den schneebedeckten Bergen hinüber. Für die Touristen scheute der peruanische Staat keinerlei Kosten und Mühen. Die Piloten der Luftwaffe würden sicherlich lieber tagelang gesunde Touristen ausfliegen, als sich um unsere vier Schwerverletzten zu kümmern. Wir mussten unseren Fall unbedingt in die Massenmedien bringen.

„Michael“, rief ich unserem Intensivpfleger zu, „könntest du vielleicht unsere Patienten auf der Intensivstation filmen? Ich würde die Filmclips gerne per E-Mail an Fernsehkanal 2 schicken. Wir müssen auf uns aufmerksam machen!“

„Ja, dass kriege ich hin“, murmelte Michael und verschwand auf der Suche nach seiner Kamera. Natürlich war der Krankenpfleger von der Zeitumstellung, dem fehlenden Schlaf und dem Stress des Tages sichtlich gebeutelt. Doch für so eine Aktion war er noch zu haben.

Es dauerte nicht lange und er lieferte mir mehrere kurze Videos, die ich sofort an Renato Canales weitergab. Renato Canales war nicht irgendwer. Als Progammdirektor von „90 Segundos“, der führenden Nachrichtensendung Perus, kannte er uns seit 2006. Schon fünf Mal hatte er ausführlich über uns berichten lassen. Seit jenen Reportagen hegte er große Sympathien für unsere Sache. Wie er mir am Telefon versicherte, wollte er uns auch diesmal gern medienwirksam unter die Arme greifen.

Noch am Abend liefen die Videos im nationalen Fernsehen. Die Botschaft war unmissverständlich: „In Curahuasi warten vier schwerverletzte Peruaner auf ihre lebensrettende Behandlung in Cusco. In Machu Picchu werden aber zuerst gesunde Ausländer vom Militär ausgeflogen!“ Der Grund dafür war natürlich klar. Der Druck der Weltöffentlichkeit!

Meinem Unmut darüber machte ich noch spät in der Nacht Luft: Ich schickte lange E-Mails an den Gesundheitsminister Oscar Ugarte sowie an die First Lady. Da ein Bild mehr sagt als tausend Worte, hatte ich 14 ausdrucksstarke Fotos meinem Bericht angefügt.

Dienstag, der 26. Januar. Endlich kam Bewegung in unsere festgefahrene Situation. Am Vortag hatte ich auch mit SARA Peru verhandelt. Die South American Rescue Association war ziemlich neu auf dem Markt. Sie heuerte von peruanischen Flugfirmen Hubschrauber an und organisierte Noteinsätze, je nach Bedarf und Zahlungsfähigkeit der Kunden. Dieser Service wurde SARA Peru meist gewinnträchtig von ausländischen Versicherungen vergütet. Bernhard Farnheim, ein Deutscher aus Baden-Württemberg, war als Vizepräsident von SARA mein Ansprechpartner.

Die Gattin des Staatspräsidenten ließ mir mitteilen, sie habe mit dem Premierminister und sogar mit dem Chef der Luftstreitkräfte über unseren Fall gesprochen. Man würde uns sicherlich bald helfen. Aber in den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sich bei mir noch kein Offizieller der Streitkräfte gemeldet.

Beim Gesundheitsministerium bahnte sich allerdings eine Lösung an. Eine gewisse Doctora Estela Flores teilte mir telefonisch mit, man habe schon mit SARA Peru über die Kostenübernahme von zwei Flügen gesprochen; damit sei die Evakuierung unserer vier Patienten in trockenen Tüchern. Ich atmete befreit auf und rieb mir meine müden Augen. „Na endlich“, brummelte ich vor mich hin, „das war ja wirklich eine schwere Geburt!“ Jetzt hieß es, auf die Ankunft des Helikopters zu warten.

Wer allerdings in Peru glaubt, er könne sich nach einer gegebenen Zusage entspannt ins Bett legen und ein Nickerchen halten, wird nach seinem Erwachen oft bitter enttäuscht sein. Ich lebte schon lange genug in Südamerika, um zu wissen, dass ich an diesem Nachmittag am Ball bleiben musste. Deshalb rief ich halbstündlich beim Büro von SARA Peru in Cusco an. Meine Fragen waren immer die gleichen: „Wo steckt ihr eigentlich? Wie lange dauert es denn noch!“

Die Antworten hätten nicht widersprüchlicher und ungenauer sein können. Versicherte mir ein Angestellter, der Hubschrauber sei schon so gut wie vor unserer Haustür, informierte mich sein Kollege, dass sich der Helikopter noch immer in der Stadt Quillabamba befände und noch gar nicht gestartet sei. Mit seinem Eintreffen sei deshalb während der nächsten Stunden gar nicht zu rechnen. Es waren in der Tat erregte Gespräche, die wir führten, und nicht nur einmal platzte mir der Kragen. Dabei wurde ich den Verdacht nicht los, dass es den SARA Leuten weniger um unsere Verletzten als vielmehr um das lukrative Geschäft ging.

15:30 Uhr. Ich hatte meine Hoffnung, dass es an jenem Dienstag noch klappen würde, fast schon aufgegeben. Plötzlich ertönte ein leises Brummen in der Luft, das sich schnell zu einem lauten Dröhnen steigerte. Der ersehnte Hubschrauber von SARA war da. Er landete auf dem schönsten Landeplatz Apurímacs, der sich – wie kann es anders sein – auf dem Gelände unseres Spitals befindet. Ohne viel Zeit zu verlieren, luden wir vorsichtig meinen Patienten mit der geplatzten Leber und die Frau mit der Halswirbelverletzung in den Helikopter. Krankenschwester Silvia Vargas und ich selbst würden während des Transportes die medizinische Aufsicht übernehmen. Ein kleines Boardcase von mir und meine Laptoptasche wurden ebenfalls eingeladen, denn der letzte Linienflug von LAN würde mich am späten Nachmittag von Cusco nach Lima bringen, von wo meine Weiterreise in die USA schon gebucht war. Vierundzwanzig Stunden später hatte ich nämlich einen Termin bei Vitor Rocha. Der Südamerika-Beauftragte von GE Healthcare wollte meinen Antrag auf Spende eines Bildwandlers prüfen. So ein spezielles Durchleuchtungsgerät ist für die operative Versorgung von Knochenbrüchen unerlässlich. Da diese Röntgeneinheit eine Menge kostet, musste ich unbedingt einen ganz persönlichen Vortrag halten – und zwar in Miami.

Mit einem lauten Rumms schlug die Hubschraubertür zu. Der Motor heulte auf und die Propeller rotierten immer schneller, bis sie sich für das menschliche Auge in Nichts auflösten. Wir hoben ab. Gut 50 Mitarbeiter des Spitals blickten angestrengt in den Himmel, während wir in luftiger Höhe der Stadt Cusco entgegenflogen. Meine Kamera hängt meist griffbereit am Gürtel. Was lag näher, als eine Reihe von Luftaufnahmen vom Spital zu machen. Als Kind habe ich einmal den Palast des Dalai Lama auf einem Foto gesehen. Ich war damals so richtig ins Träumen geraten. Aber der Anblick des Hospitals Diospi Suyana auf seinem künstlich angelegten Plateau am Berghang bedeutete mir ungleich mehr. So viele lange Jahre hatten meine Frau und ich für die Gründung dieser medizinischen Einrichtung investiert. Mit großer Dankbarkeit schaute ich auf das Dreieck hinunter, an das sich grüne Wiesen reihten. Langsam wurde es immer kleiner und schließlich verschwand es ganz aus meinem Blickfeld.

Nach vierunddreißig Minuten Flug landeten wir sicher auf dem Flughafen von Cusco. Ein Rettungswagen des Versicherungskrankenhauses Essalud würde unsere beiden Patienten in wenigen Minuten abholen. Ich blickte nervös zum Flughafengebäude hinüber. Dort stand ein Flugzeug von LAN. Ich wusste, dieser Flug wäre an jenem Tag der letzte zur Hauptstadt Lima. Und es war mein Flug. Das Ticket befand sich in der Innentasche meiner gefütterten Jacke. Nur neun Minuten später würden sich die Türen schließen und der Airbus der Startbahn entgegenrollen.

In meinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Um das Gebäude durch den Haupteingang zu betreten und alle Kontrollen zu passieren, würde mindestens eine Viertelstunde vergehen. Wenn man mich überhaupt durchlassen würde. Es gab für mich nur eine einzige Chance, meinen Flug noch rechtzeitig zu erwischen.

Ich rief der Crew im Hubschrauber ein hastiges „Hasta luego“ zu, schnappte meine beiden Gepäckstücke und rannte wie angestochen quer über das Flughafengelände zum Airbus. Die Gangway, die den Wartesaal mit dem Flugzeug verband, hatte eine Treppe nach außen. Mit großen Sätzen sprang ich sie hoch, quetschte mich durch die Seitentür und stand unvermittelt vor zwei sprachlosen Stewardessen.

Völlig außer Atem rief ich: „Ich bin eben mit diesem Hubschrauber dort drüben aus Curahuasi angekommen. Bitte, Sie müssen mich mitnehmen, sonst verpasse ich einen wichtigen Termin in Miami!“

Die beiden Damen rangen spürbar um Fassung. So einen Quereinsteiger, der sich an allen Sicherheitskontrollen vorbeimogelte, hatten sie noch nicht erlebt. Möglicherweise war ich sogar ein gefährlicher Bursche. „Nein, Sie sind zu spät. Die Maschine fliegt gleich ab und Ihr Gepäck wurde auch noch nicht durchleuchtet!“

Ich zog meine Stirn in Falten. Ich war so nah dran am Ziel. Es musste einfach klappen, irgendwie. In Windeseile zog ich eine Broschüre über unser Spital aus meiner Tasche und deutete mit dem Zeigefinger auf das Grußwort der Präsidentengattin. „Pilar Nores ist die Patin unseres Missionsspitals in Curahuasi. Sie müssen mir helfen!“

Meine Ansprache von wenigen Sekunden genügte. „Na gut, kommen Sie ganz schnell mit!“, rief eine der beiden. „Wir werden ihre Taschen röntgen lassen!“ Die hübsche Mitarbeiterin von LAN bewies begnadete Sprintqualitäten. Am Durchleuchtungsgerät angekommen setzte sie mein Boardcase im hohen Bogen auf das kurze Förderband. Zwei Minuten später schloss sich die Tür des Flugzeugs. Ich saß auf meinem Platz 10 L und flog Lima und damit Miami entgegen.

Gegen 17:30 Uhr holte der Hubschrauber die übrigen zwei Patienten aus dem Missionsspital ab und erreichte den Flughafen in Cusco gerade noch vor Einbruch der Dunkelheit. In der Nacht verfasste ich einen Bericht für unsere Webseite. Ich schloss ihn mit den Worten: „Es ist schön, ein spannendes Leben zu führen. Aber muss es wirklich so spannend sein?“

Mit meinem Flug nach Miami klappte alles wie geplant. Um 9 Uhr am Morgen stand ich geschniegelt und gebügelt vor dem stattlichen weißen Gebäude von GE-Healthcare. Die hohen Palmen und der blaue Himmel ließen fast eine Urlaubsatmosphäre aufkommen. Aber ich war hier mit einer besonderen Mission, und die wollte ich erfüllen.

Mr Vitor Rocha, ein Brasilianer, sah sich meinen Vortrag geduldig an. Er war zwar höflich, blieb aber recht distanziert. Schließlich sagte er, er sei eigentlich gar nicht der richtige Ansprechpartner für mich. Die Entscheidung über eine mögliche Sachspende eines Bildwandlers würden andere treffen. Ich sah ihn ziemlich verdattert an. Unter den größten Mühen war ich 5 000 Flugkilometer für diese Unterredung angereist. Nun begann ich zu ahnen, dass der Stress der letzten zwei Tage wohl völlig umsonst gewesen war.

Viele unserer Freunde kennen die Highlights von Diospi Suyana. Manchmal scheint es, als eilten wir von Erfolg zu Erfolg. Eine Großspende hier, eine Audienz bei einem Würdenträger dort und immer höhere Ziele, die wir mit beispielloser Leichtigkeit auch erreichen. Die dornenreichen Wege und vielen Frusterfahrungen werden schnell vergessen. Für mich selbst haben diese Tiefschläge jedoch einen tieferen Sinn. Sie zeigen mir deutlich, wie schwierig der Aufbau und Betrieb unseres Spitals in Wirklichkeit sind. Die deprimierenden „Niederlagen“ animieren mich, intensiver zu beten und um Gottes Eingreifen zu bitten. Wenn mein großer Wunsch dann endlich in Erfüllung geht, geschieht dies meist durch eine unerwartete Wendung der Geschicke, die einem Wunder gleichkommt.

Am Nachmittag jenes Tages saß ich längst wieder in einem Flugzeug. Vor meiner Rückkehr nach Peru folgte ich noch einer Einladung der EMSI-Mission nach Barcelona. Die humanitäre Gesellschaft aus Spanien schickt mit großer Regelmäßigkeit medizinische Freiwilligenteams nach Afrika. Nun würde ich vor dreißig christlichen Ärzten und Krankenschwestern sprechen dürfen. Ich sah in diesen spanischsprachigen Aktivisten natürlich potenzielle Kurz- und Langzeitmitarbeiter für unser Spital in Peru.

Das Treffen fand in einem Saal des Evangelischen Krankenhauses von Barcelona statt. Anders als bei GE sprang hier der Funke über. Mehrere Ärzte signalisierten großes Interesse an unserem Werk. Einer von ihnen, ein gewisser Dr. Alfonso Miranda aus Cadiz, ließ es bei neugierigen Fragen nicht bewenden. Einige Monate später kam der Anästhesist nach Curahuasi und investierte seinen Sommerurlaub für einen ehrenamtlichen Einsatz an unserem Missionsspital. Dafür wurde er gleich zweifach belohnt. Spanien wurde während seines Arbeitsbesuchs bei uns Fußballweltmeister und wir haben Alfonsos Jubelruf beim entscheidenden Tor seiner Landsleute alle noch im Ohr. Aber wesentlich bedeutsamer für ihn wurde seine große Liebe zu unserer leitenden OP-Schwester Uli Beck. Die beiden heirateten ein Jahr später und leben nun glücklich in seiner Heimatstadt in Südspanien.

Während jener ereignisreichen Wochen im Januar hatten wir das Schweizer Ehepaar Wettstein als Kurzzeitmitarbeiter im Spital beschäftigt. Peter half in den Werkstätten mit und seine Frau Karin in der Anästhesie. Für den 1. Februar planten sie eine Reise nach Cusco. Diese Fahrt war vor dem Hochwasser eine Angelegenheit von zweieinhalb Stunden gewesen. Doch nach der Zerstörungswut der Fluten mussten Reisende an zwei Stellen ihre Fahrzeuge verlassen, an den Berghängen entlangklettern, um danach im Tal nach der nächsten Transportmöglichkeit Ausschau zu halten. Die Wettsteins sind erfahrene Alpinisten und maßen diesem unbequemen Umstand keine größere Bedeutung bei.

Auf halber Strecke zwischen dem Übergang über den Apurimac-Fluss und dem Ort Limatambo reihten sie sich in die Schlange der Kletterer ein. Gut 150 Meter hatten sie schon an Höhe gewonnen. Der Trampelpfad über den Hang war schmal und nur für Schwindelfreie geeignet. Ob es am falschen Schuhwerk lag oder an einer kurzen Unachtsamkeit, lässt sich im Nachhinein nicht mehr sagen. Auf jeden Fall verlor Karin ihren Halt, stürzte über hundert Meter den steilen Abhang hinunter und dann die letzten dreißig Meter im freien Fall in die Tiefe. Peter sah mit Entsetzen, wie seine Frau über die Böschung flog und verschwand. Es dauerte eine Weile, bis er Karin wieder lokalisieren konnte. Sie lag mit dem Rücken auf dem roten Wellblechdach einer katholischen Kapelle. Die elastischen Dachplatten hatten wie ein Spanntuch der Feuerwehr gewirkt. Diese Federung beim Aufprall rettete Karins Leben. Über eine Distanz von vier Kilometern war dies das einzige Gebäude am Straßenrand. Die Wahrscheinlichkeit, nach einem Sturz genau diesen einen Landeplatz zu treffen, dürfte wohl deutlich unter einem Prozent gelegen haben.

Karin lebte zwar, aber sie hatte sich eine ganze Reihe ernsthafter Verletzungen zugezogen. Die Lendenwirbelsäule, eine Hüfte, das Becken und ein Fersenbein waren gebrochen. Da sich das ganze Tal in ein einziges Flussbett verwandelt hatte, gab es in jenen schicksalhaften Augenblicken nur eine Möglichkeit, Karin zu evakuieren. Engagierte Straßenarbeiter brachten sie in der Schaufel eines Frontladers drei Kilometer durch den Fluss Rio Blanco stromaufwärts. Die Schmerzen, die Karin auf dieser Holperstrecke ausstehen musste, sind kaum vorstellbar. Ein Rettungswagen transportierte die Schweizerin schließlich von Limatambo nach Cusco, von wo aus sie mit dem Flugzeug nach Lima in eine Privatklinik verlegt wurde.

Es sollte für Karin eine lange Leidensgeschichte werden. Die erste Operation in Peru führte zu einer schweren Infektion der Wunde. In der Schweiz folgten weitere operative Eingriffe und eine monatelange Rehabilitation. Bis zu ihrer vollständigen Genesung verging ein ganzes Jahr, angefüllt mit entmutigenden Rückschlägen und endlosen Geduldsproben.

Auf meiner Heimreise von Spanien erreichte ich die Unglücksstelle drei Stunden später von der Cusco-Seite aus. Da ich nicht schwindelfrei bin, gab ich den Versuch bald auf, diesen Hang zu überqueren. Bereits drei Wanderer waren in den Tagen zuvor hier in den Tod gestürzt. Karin wäre um ein Haar das vierte Todesopfer geworden. Ein Führer leitete mich stattdessen auf der gegenüberliegenden Flussseite durch die Berge. Während dieser anderthalbstündigen Klettertour machte ich einige Fotos vom Tal unter mir. Ohne vom Unfall meiner Kollegin zu wissen, dokumentierte ich durch diese Bilder nachträglich Karins ungefähre Falllinie. Die Aufnahmen lösen bei jedem Betrachter ein ungläubiges Staunen aus. Wie kann ein Mensch solch einen Sturz überleben!

Karin und Peter Wettstein, ihre Freunde und alle Mitarbeiter von Diospi Suyana danken Gott für diese Bewahrung in höchster Not. Vielleicht wenden Sie jetzt ein, Gott hätte das Unglück doch mit Leichtigkeit verhindern können. Warum habe er es denn überhaupt zugelassen?

Die Frage nach dem menschlichen Leid beschäftigt uns bewusst und unbewusst tagtäglich an unserem Missionsspital. Aus anonymen Krankenakten werden ganz schnell persönliche menschliche Schicksale, sobald wir in die trüben Augen des Patienten blicken, den Kummer aus seinem Mund hören und sein leises Stöhnen vernehmen. Wenn wir in langen Nächten vergeblich versuchen, ein junges Kind oder eine schwangere Mutter dem Tod zu entreißen, vermischen sich Trauer und Bitterkeit mit Müdigkeit und Erschöpfung. Und der innere Schrei, der aus dem Herzen dringt, lautet: „Gott, warum?“

Jeder, der meint, auf diese Frage eine erschöpfende Antwort zu kennen, hat noch nie auf einer Intensivstation gearbeitet. Das grenzenlose Elend, das uns im Spital auf Schritt und Tritt begleitet, beweist nur eines: Die definitive Lösung des Leids finden wir nicht in der modernen Medizin, sondern nur im Glauben. Wenn Gott uns durch das Tal des Todes trägt, finden wir Halt. Und wenn er uns auf der anderen Seite in Liebe erwartet, dann sind wir getröstet. Und diesen Trost können Morphinspritzen und Valiumtabletten niemals ersetzen.

Deshalb haben meine Frau und ich das Missionsspital gegründet. An jedem Morgen feiern wir mit rund zweihundert Patienten und Mitarbeitern einen Gottesdienst in der Kirche des Krankenhauses. Wir erinnern uns gegenseitig an die Fürsorge Gottes und lesen in der Bibel von seiner unwandelbaren Treue. Nach diesen dreißig Minuten verstehen wir ein wenig besser, dass es jenseits der Gnade Gottes keine Hoffnung für uns gibt.

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