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Die Katastrophe

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Seit Menschengedenken hatte es so eine Regenzeit nicht mehr gegeben. Kurz nach Weihnachten 2009 nahm der Himmel eine dunkelgraue Farbe an. In den folgenden Wochen wechselte sich ein Gewitter mit dem nächsten ab. Das ständige Grollen in den Wolken und die bizarren Blitze wirkten zwar bedrohlich, doch die wirkliche Gefahr ging vom Dauerregen aus. Er ließ die Flüsse über die Ufer treten und weichte ganze Berghänge auf. Tagtäglich stürzten gewaltige Geröll- und Erdmassen in die Tiefe. Niemand wusste, wann und wo der nächste Erdrutsch Straßen und Schienenwege unter sich begraben würde. Die Bewohner der südlichen Anden Perus konnten den Beginn der Trockenzeit kaum erwarten.

Ich schaute sorgenvoll auf meine Armbanduhr. Heute Abend würde Krankenpfleger Michael Mörl mit seiner Familie nach einem Aufenthalt in Deutschland wieder nach Curahuasi zurückkehren. Die Verbindungsstraße, die sie nehmen mussten, war in Nähe des Apurímacs und seiner Zuflüsse an vielen Stellen unterspült und deshalb abschnittsweise nur einspurig befahrbar. Andernorts mussten Straßenarbeiter mit schweren Bulldozern immer wieder Umgehungswege baggern, wo Schlammlawinen die Panamericana völlig versperrt hatten.

Krankenschwester Damaris Haßfeld hatte freundlicherweise angeboten, die Familie am Flughafen in Cusco abzuholen. Aber würde die kleine Reisegruppe in einer Nacht wie dieser die Rückfahrt durch die Berge schaffen? Unheil lag in der Luft. Ich parkte meinen Wagen vor dem Haus der Mörls und starrte durch die beschlagenen Fensterscheiben in die Dunkelheit.

Zur gleichen Zeit kniff Michael Mörl die Augen zusammen und blickte konzentriert durch die Windschutzscheibe des Kleinbusses. Seine Frau Elisabeth und die Kinder sowie Damaris Haßfeld liefen vor ihm durch den Regen. Draußen wurden sie zwar nass, aber im Wagen war es jetzt einfach zu gefährlich. Der Fluss hatte das Niveau der Straße erreicht und mit jeder Minute brachen weitere Asphaltbrocken vom verbliebenen Straßenbelag ab. Ein ohrenbetäubendes Getöse erfüllte die Dunkelheit, sodass man sein eigenes Wort kaum verstehen konnte.

Elisabeth hielt die Hände von Nikodemus und Leonore fest an sich gedrückt. „Wir haben es gleich geschafft“, schrie sie den Kindern zu, die sich müde und durchnässt in diesem Moment nur nach einem warmen Bett sehnten.

Die Straße wurde wieder etwas breiter. Wo blieb Papa? Die Kinder drehten sich um und blickten ängstlich zurück. Auch sie verstanden, dass ihr Vater jetzt absolute Maßarbeit leisten musste, um den Hyundai durch die schmale verbliebene Passage zu manövrieren.

Michael Mörl wartete, bis seine Familie ein sicheres Stück Straße erreicht hatte. Nun holte er tief Luft und drückte voll aufs Gas. Zwischen den schwarzen Fluten zu seiner Linken und dem Steilhang zu seiner Rechten flog das Fahrzeug förmlich über die Engstelle dem festen Untergrund entgegen. Er ahnte nicht, dass er einer der letzten Fahrer auf dieser Straße war. Zwei Stunden später rissen die Wassermassen mit lautem Poltern den letzten Rest der Fahrbahn mit sich fort.

Als ich die Mörls und Damaris um 21:30 Uhr an ihrer Haustür begrüßte, standen sieben erschöpfte, aber dankbare Gestalten vor mir. Die vergangenen Stunden würde keiner von Ihnen jemals vergessen.

„Ab ins Bett, schlaft euch alle erst einmal richtig aus“, rief ich den Mörls zu und machte mich erleichtert auf den Heimweg.

Unruhig erwachte ich aus meinem Schlaf. Was war das? Offensichtlich warf jemand Steinchen an unser Schlafzimmerfenster. Ich lag allein im Bett, denn meine Frau Martina hatte Nachtdienst. Ich sprang in die Schuhe und zog die Gardine etwas zur Seite. Draußen sah ich im Schein der Straßenlaterne den Pick-up von Dr. David Brady. Der Motor lief und in der geöffneten Wagentür stand unser Urologe. Als er meinen Kopf im Fenster entdeckte, gestikulierte er mit beiden Armen und rief: „Klaus, komm sofort ins Spital. In der Nähe von Saywhite hat sich ein Bus überschlagen. Wir rechnen mit dem Schlimmsten!“

Diese Nachricht reichte. Ich war augenblicklich hellwach und suchte nach meinen Kleidern. „Das hat uns gerade noch gefehlt“, flüsterte ich völlig entgeistert, als ich mir die Jeans überstreifte. Ich wusste von den Mörls, dass die Straße von Cusco aus nicht mehr passiert werden konnte, aber jener Bus war aus der anderen Richtung unterwegs gewesen. Vielleicht hatten die Müdigkeit oder die Erschöpfung den Fahrer übermannt. Oder die Bremsen hatten versagt. Möglicherweise hatten Steine auf der Fahrbahn den Bus von der Straße katapultiert. Was auch immer geschehen war, das Hospital Diospi Suyana lag der Unfallstelle am nächsten. Jetzt würden wir alle unser Bestes geben müssen.

Um drei Uhr eilten David und ich etwas nervös durch den Hintereingang des Hospitals. Meine Frau war in der Notaufnahme zugange und kümmerte sich gerade um vier Patienten, die mit dem ersten Taxi eingetroffen waren. Wie es hieß, würden weitere Verletzte in Kürze eingeliefert werden. Während David sich Gummihandschuhe überstreifte, um Tina zu helfen, rannte ich zu unserem Auto auf dem Parkplatz und raste in den Ort zurück. Allein würden wir hier nicht viel ausrichten können. Das ganze Team musste umgehend mobilisiert werden.

Es war gar nicht so einfach, manche Leute aus dem Tiefschlaf zu wecken. Während ich von Haus zu Haus fuhr, um Krankenschwestern, OP-Personal und Labormitarbeiter einzusammeln, schlugen meine nächtlichen Fahrbegleiter mit ihren Handys Alarm. In wenigen Minuten waren alle Schlüsselpersonen des Spitals verständigt. Michael Mörl hatte sich seinen Arbeitsbeginn sicher anders vorgestellt. Ungeduldig pochten wir mitten in der Nacht an seine Haustür. Jetlag hin oder her, auf den erfahrenen Intensivpfleger konnten wir einfach nicht verzichten. Wie ein alter Pfadfinder war er sofort startklar.

Als wir gemeinsam durch die Flure des Spitals hasteten, sahen wir überall auf Betten und fahrbaren Tragen blutverschmierte Patienten liegen. Die meisten zitterten wie Espenlaub, was sowohl auf den Schock des Unfalls als auch auf die nasse Kleidung zurückzuführen war. Tina, David und Dr. Oliver Engelhard hatten bereits die Patienten mit den schwersten Verletzungen identifiziert.

„Klaus, mit dem hier musst du gleich in den Operationssaal“, brummte Oliver. „Er hat einen akuten Bauch und befindet sich im Schock!“ Ich schluckte. Um das Spital zu gründen, war ich jahrelang um die Welt gereist, um unsere Vision eines modernen Krankenhauses für die Nachfahren der Inkas bekannt zu machen. Für das Operieren war eigentlich Dr. Daniel Zeyse zuständig. Ausgerechnet jetzt war er mit seiner Familie im Urlaub!

Mit Dr. Dripps, einem Professor der Harvard Universität, der uns für vier Monate als Anästhesist aushalf, und mehreren Schwestern machten wir uns auf den direkten Weg zum Operationssaal 1. Nach einer schnellen Narkoseeinleitung und einem Stoßgebet um Gottes Segen öffnete ich den Bauch mit einem großen Mittelschnitt. Der rechte Leberlappen war durch den Aufprall des Busses weit aufgerissen und aus mehreren Gefäßen strömte das Blut in die Bauchhöhle. Wie üblich bei solchen Fällen kontrollierte ich die Blutung mit gut platzierten Kompressen und nähte den Bauch unter Druck wieder zu. 48 Stunden später würde die definitive Versorgung bei einer erneuten Operation erfolgen.

Die Zahl der Unfallopfer stieg mit jedem Wagen, der vor der Notaufnahme zum Halten kam. Die ganze Nacht hindurch kämpften unsere Mitarbeiter um jeden Patienten. Computerspezialist Benjamin Azuero, obwohl von Medizin keine Ahnung, packte überall an, wo er helfen konnte. In der Röntgenabteilung schwitzte Kinderarzt Dr. Frick und schob mit Esther Litzau ein Unfallopfer nach dem anderen in den Computertomografen. Wie eine detaillierte Zählung später ergab, führten unsere tapferen Röntgenmitarbeiterinnen in jenen schicksalhaften Stunden des 25. Januars 148 Röntgenbilder und Computertomografien durch.

Einige Ärzte von der örtlichen Gesundheitsstation reihten sich in unser Team ein und nähten wie am Fließband große und kleine Wunden zu. Die Stunden vergingen. Gegen 6 Uhr atmeten wir etwas auf. 53 Patienten würden wahrscheinlich den Unfall überleben. Um eine Frau hatten wir uns leider vergeblich bemüht. Sie war auf einer Trage tot ins Spital geschoben worden und alle Wiederbelebungsversuche waren gescheitert. Einige Stunden später begleiteten Tina und ich die weinende Tochter in den Leichenkeller. Ein letzter Dienst im Angesicht des Todes.

Um 8 Uhr am Morgen schickten wir alle ambulanten Patienten, die am Eingang Schlange standen, wieder nach Hause. Keiner murrte über diese notwendige Maßnahme, obwohl viele von ihnen von weither angereist waren. Sie ahnten wohl, welche Dramen sich gerade in den Räumen des Spitals abspielten, und zeigten echte menschliche Solidarität.

Christian Contreras, ein Medizinstudent aus Lima, machte bei uns gerade ein Praktikum. Dadurch wurde er ganz unmittelbar Zeuge der Katastrophe. Er knipste aufgeregt die vielen Szenen in den verschiedenen Abteilungen des Spitals. Noch Jahre später holte er bei allen passenden Gelegenheiten sein Smartphone hervor und zeigte die Bilder, die eines klar bewiesen: „Ich war dabei!“

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