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Gott schuf keine Brücken. Gespräch mit Ilir Ferra

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Ilir Ferra wurde 1974 in Durrës (Albanien) geboren und gelangte 1991 nach Österreich. An der Universität Wien studierte er Translationswissenschaften (Englisch und Italienisch). Heute lebt er als Schriftsteller, Dolmetscher und Übersetzer mit seiner Familie in Wien. Für seine Erzählung Halber Atem (2008) erhielt er den Preis des Vereins Exil (»Schreiben zwischen den Kulturen«), für seinen Roman Rauchschatten (2010; Neuauflage 2015) den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Es folgten der Roman Minus (2014) und der Prosaband Aus dem Fluss (2014). Die Studie Erzählen zwischen Macht und Ohnmacht: Ilir Ferra von Holger Englerth, von der in diesem Gespräch mehrfach die Rede ist, findet sich in dem von Wiebke Sievers herausgegebenen Band Grenzüberschreitungen. Ein literatursoziologischer Blick auf die lange Geschichte von Literatur und Migration (Böhlau Verlag, 2016) auf den Seiten 201–234.


Die meisten eingewanderten Schriftsteller wollen als deutschsprachige Autoren wahrgenommen und nicht immer wieder auf ihre andere Muttersprache oder ihre kulturelle Herkunft aus einem anderen Land angesprochen werden. Sie auch? Warum? Weil Albanien nur in Ihren ersten sechzehn Lebensjahren prägend war?

Ich kann nicht beurteilen, wie das andere Autoren sehen. Als Autor fokussiere ich mich nur auf das Schreiben. Schreiben ist ein sehr konzentrierter, sehr reduzierter Prozess, dabei befasse ich mich nur mit dem Stoff, alles andere existiert für mich in diesem Moment nicht. Als Person, die ich zwischendurch natürlich auch bin, kann ich diese Frage aber schon beantworten: Die Wahrnehmung meiner Texte durch das Feuilleton, aber vor allem durch die Leser, spielt für mich eine immense Rolle. Ein Text ist meiner Einschätzung nach gelungen, wenn er dem Leser einen direkten Zugang verschafft zum Inhalt, zum Thema, zur Sprache und zur verdichteten Welt des Textes. Mein Schreiben strebt seit Anfang an immer nur zum Leser, während ich gleichzeitig bemerke, dass meine kulturelle Herkunft als Filter herangezogen wird. In der Sportwettenterminologie nennt man das ein Handicap. Und wenn ich bei diesem Vergleich bleiben darf, Handicapwetten werden für alle Teilnehmer eines Rennens angeboten – auf wen man dann eine Handicapwette abschließt, entscheidet der Kunde. Das Feuilleton hingegen, das dann die Vermittlerrolle eines Buchmachers einnähme, bietet diese Handicapwetten nur für eine bestimmte Gruppe der Beteiligten an. In dieser Sicht ist das unfair, weil es in gewisser Weise manipulierend ist. Andererseits muss aber auch hinterfragt werden, ob die Autorengruppe, der ich angehöre, durch ihre Wahl von Thema und Schauplatz nicht auch selbst einen beträchtlichen Anteil an dieser Haltung hat. Und zudem ist ja auch mein Name ein Garant dafür, dass man sich gleich denkt: »Deitsch is des ned.«

Für meine Texte spielt mein »kultureller Hintergrund« eine enorme Rolle. Ich kann ihn nicht leugnen und möchte ihn nicht missen. Wenn ich versuche, mich von ihm zu lösen, fallen die Texte in sich zusammen, sie verlieren – ich kann es nicht anderes sagen – ihr Wesen. Doch alles ist im Text bereits enthalten und wird durch jede Schubladisierung verfälscht. Andererseits wird dadurch eine Metaebene erschaffen, die für mich selbst sehr spannend ist: Ganz gleich, welche Rolle man gegenüber Autoren mit einer anderen Muttersprache einnimmt, und sei es die wohlwollendste, sie wird immer falsch sein, wenn sie nicht den Text in den Vordergrund stellt und vom Text ausgeht – und nicht von seinem »Background«. Als Autor wünscht man sich kaum etwas mehr als eine Kritik, die sich voll und ganz auf den Stoff einlässt. Im Idealfall sollte sie von der Person des Autors und den Schauplätzen seines Texts unabhängig sein. Natürlich sieht das das Feuilleton ganz anders. Das wird anders gehandhabt, weil in meinen Augen die Grenzen zwischen Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und Kunst verschwimmen. Die Literatur genügt nicht mehr. Sie genügt natürlich sich selbst, sie genügt vereinzelten Wissenschaftlern und Lesern, aber dem Feuilleton genügt sie meiner Wahrnehmung nach nicht. Womit das Feuilleton sich überflüssig macht, nicht die Literatur. Trotzdem kann ich nicht abstreiten, dass ich mit der Themenwahl meiner Romane solche Erwartungen auch selbst geschürt habe. Vielleicht auch aus dem Grund, dass ich selbst der Vorstellung erlegen bin, dass Literatur allein sich nicht genügen kann, soll, darf.

Warum werden deutschsprachige Literaten, die mit einer anderen Kultur verbunden sind, häufig als Experten für ihre frühere Heimat angesehen – oft auch für eine Region, die niemals ihre Heimat war? Warum muss Ilir Ferra immer wieder über Albanien Auskunft geben? Muss das so sein?

Ich glaube, das liegt einfach in der menschlichen Natur. Lesungen schaffen immer einen beträchtlichen Grad an Intimität. Jedenfalls meine Lesungen. Manche Besucher lassen sich auf die Texte ein. Das verleiht mir als Autor eine gewisse Autorität. Ich denke, dass das mit Vertrauen zu tun hat. Wenn eine Person so viel von sich preisgibt wie ein heutiger Autor, erwartet man von ihr automatisch, dass sie auf Fragen nach Politischem und Gesellschaftlichem auch ehrlich antwortet. Tatsache ist, dass ich bei Lesungen deutschsprachige Besucher habe, die öfter als ich in meinem Heimatland gewesen sind. Nicht so lang, sicherlich, aber öfter. Tatsache ist aber auch, dass diese Besucher einen anderen Zugang zu dem Land haben als ich. Deshalb denke ich, dass sie da meine Meinung interessiert. Das kann man auch als Zeichen der Wertschätzung sehen. Das Problem ist nur, was man daraus macht. Ich versuche oft, neutral zu sein. Als Person ergreife ich schon Partei: Wenn ich deutlich zu sehen vermeine, dass Ungerechtigkeit herrscht, muss ich mich dagegen stellen. Das sollte ich vielleicht als Autor nicht. Aber das ist dann der schmale Grat, auf dem man sich zu bewegen hat. Beantwortet man die Frage als Autor oder als Person? Meistens bin ich ein Zwischending, weit entfernt von einem Experten. Deshalb bin ich nicht einmal so undankbar über solche Fragen. Ich höre sie gern und versuche mich darauf einzulassen. Ich bezweifle aber, dass die Gesprächspartner sich dann auf meine Antworten einlassen. Denn, abgesehen von sehr grundsätzlichen Themen, zu denen ich eine klare Haltung habe, sind meine Antworten sehr relativierend, und vielleicht wirken sie schwammig und abschweifend. Das kann so sein, weil ich selbst während der Antworten einen Standpunkt suche, ihn fallen lasse und damit vielleicht vermittle, dass es einfach nicht möglich ist, sich eine Meinung über Lebensumstände in einem anderen Land zu bilden, wenn man sich nicht auf die Menschen einlässt, die dort leben.

Zusammenfassend: Das ist eine Erwartungshaltung, die ich gerne erfülle, für die ich auch dankbar bin. Bei der aber oft ein schaler Beigeschmack zurückbleibt, weil ich sehe, dass man mich meistens fragt, um eigene Vorstellungen und Expertenaussagen bestätigt zu finden, während ich eher eine Einladung ausspreche, mich mit dem Gesprächspartner darauf zu einigen, dass es so viele unterschiedliche Welten gibt wie Menschen. Und dass das natürlich auch für die Albaner gilt.

Sie sind monolingual aufgewachsen, ganz im Albanischen. Toskisch oder Gegisch?

Meine Familie kommt aus dem Süden, also ist der toskische Einfluss am größten. Ich bin aber in Durrës zur Welt gekommen und aufgewachsen, und da spricht man den Dialekt Mittelalbaniens, der eigentlich schon fast die Standardsprache ist. Natürlich bleibt ein starker Bezug zum Toskischen, da bewegt sich was in mir, das eigentlich außerhalb von mir liegt. Klingt wahrscheinlich etwas nach Hokuspokus, fühlt sich aber auch so an.

Von den rund sechs Millionen Albanern auf dem Balkan – die in den Westen ausgewanderten lassen wir hier einmal weg – lebt nur knapp die Hälfte in der Republik Albanien. Viele wohnen im Kosovo und in Mazedonien, auch in Griechenland, Montenegro und Serbien. Lebt Ihre Familie, leben Ihre früheren Freunde alle in Albanien?

Das hier angesprochene Thema verdiente eine gesonderte Abhandlung. Ich sage nur: Das albanische Volk will faktische Gleichbehandlung und, wenn es in der Minderheit ist, will es die Rechte, die Minderheiten zustehen. Meine Haltung zu dieser Frage entspringt aber nicht meinem besonderen Bezug zu den Albanern, sondern sie ist schlicht meine Haltung zu Menschenrechten, welche für alle Menschen überall gleich gelten sollen. Zu Ihrer Frage: Ja, ich fühle eine starke Bindung zu meiner Familie, unabhängig davon, wo sie sich befindet. Natürlich sind einige meiner Verwandten ausgewandert. Viele sind aber auch in Albanien geblieben. Ich versuche hinzufliegen, so oft ich kann. Leider aber geschieht das sehr selten.

Welche Spuren haben Österreicher und Deutsche in Albanien hinterlassen?

Das muss ein Historiker beantworten. Ich komme ja aus Durrës. Man nennt die Gegend, in der ich aufgewachsen bin, »der Hügel«, weil sie am Fuße eines Hügels liegt. Ganz oben auf diesem Hügel steht die königliche Residenz. Dort hat König Zog gewohnt, der ja mithilfe der Österreicher an die Macht kam. Er war in der k.u.k.-Monarchie ein Offizier albanischer Abstammung. Eine prominentere Spur kann man sich kaum vorstellen, wie mir eigentlich erst jetzt bewusst wird. Tatsache ist, dass jeder gebildete Albaner Österreich gegenüber eine große Dankbarkeit an den Tag legt. Österreich hat sich nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches stark dafür eingesetzt, dass der Staat Albanien gegründet wird, und sich der gewaltsamen Vertreibung der Bevölkerung aus den Gebieten, die diesem Staat nicht eingegliedert wurden, entgegengesetzt. Das war noch vor Beginn des Ersten Weltkriegs, und noch immer ist die Dankbarkeit für diese politische und diplomatische Unterstützung deutlich spürbar. In der Tat herrscht in der albanischen Bevölkerung ein großes Vertrauen in die deutsche und österreichische Politik und Diplomatie. Dieses Vertrauen ist so groß, dass sich manche der dortigen Politiker, vor Wahlen, gerne auf Fotos mit deutschen und österreichischen Politikern zeigen. Wobei einige dieser albanischen Politiker nicht als ganz bedenkenlos betrachtet werden sollten.

Wann und wo haben Sie zum ersten Mal von Deutschland, Österreich, der deutschen Sprache gehört? Gab es eine Art frühes (jugendliches) Bild von Deutschland und Österreich?

Das Bild von Deutschland war höchst gespalten. Ich war anfangs in einer Musikschule, dort war stets Musik zu hören, meist Übungsstücke. Ich vermute, dass es sich dabei vorwiegend um Bach gehandelt hat. Bewusst erkannt habe ich damals aber nur die gängigsten Stücke von Beethoven. Doch diese Musik stand für mich nicht in direktem Zusammenhang mit Deutschland. Sie wurde als Teil der menschlichen Kulturgeschichte betrachtet und hat sich offenbar von ihrer nationalen Identität völlig gelöst. Wie bei den Versen von Goethe oder Schiller, die in meinen damaligen Schulbüchern auch vertreten waren. Und was kann Kunst Schöneres geschehen, als allen Menschen zu gehören?

Aber zu Ihrer Frage: Ich kann mich erinnern, dass ich in meiner Kindheit eine albanische Inszenierung von Brechts Arturo Ui gesehen habe. Auch das hatte in meiner Wahrnehmung nichts mit Deutschland zu tun. Vielmehr war meine erste Deutschlandassoziation – als durchschnittlicher Junge in einem kommunistischen Land – der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus. Das ist erstaunlich, weil ich in der gleichen Zeit ein sehr differenziertes Bild von Italien hatte, vor allem durch das Fernsehen. Und bei Italien habe ich keineswegs an den Faschismus gedacht. Es besteht da ein eigenartiger Widerspruch: Italien war die gegenwärtige Chartsmusik und das Leben aus dem Fernsehen, während ich bei der Musik in der Schule nie daran gedacht habe, dass es sich vor allem um deutsche Komponisten handelte. Genauso war es eigentlich mit dem Fußball. Bei den internationalen Turnieren war ich damals Fan der deutschen Nationalmannschaft – erstaunlich, wie wenig mich das über das Land nachdenken ließ. Letztendlich weiß ich noch immer nicht so recht, warum ich mir wünschte, dass gerade diese Mannschaft gewinnt. Tatsache ist aber, dass mein Bild von Deutschland damals äußerst reduziert war. Wir hatten auch eine Kommilitonin mit deutschen Wurzeln in unserer Klasse. Aber wir haben das nur sehr selten und nur unter vorgehaltener Hand thematisiert. Niemals in ihrer Anwesenheit. Ich muss aber sagen, dass es sich dabei eher um Neugierde als irgendeine Art von Diskriminierung handelte. Das Eingesperrtsein hatte im kommunistischen Albanien einen Riesenvorteil: Man begegnete den Fremden mit großer Neugierde und auch großer Offenheit. So als ob man sich vorstellen würde, dass alles, womit wir uns herumschlagen müssen, nicht überall auf der Welt existieren kann. In gewisser Weise hatten wir ja auch recht. Eine Bevölkerung, die trotz ihrer sehr exponierten und zentralen Lage derart isoliert wurde, lässt sich wahrscheinlich nicht so leicht finden. Doch es ist falsch zu denken, dass mein damaliges Bild von Deutschland dieser Isolation entsprang. Das hatte viel mehr mit einer allgemeinmenschlichen Ignoranz zu tun. Schon hinter der Eingangstür des nächsten Nachbarn beginnt eine Welt, in der es uns schwerfällt, differenziert zu sehen. Ich habe mir durch die Entwicklung meiner Beziehung zu Österreich, zu Deutschland, zu Sprache und Kultur, aber auch zu den Menschen dieser Länder diese Ignoranz ein für alle Mal eingestanden und mich damit abgefunden. Deutschland und Österreich waren für mich in Albanien nichts als Wörter, verbunden mit Illusionen, die naiv, eindimensional und vereinfachend waren. Jetzt sehe ich das anderes. Und ich weiß, dass das nicht nur für diese Länder gilt, sondern eigentlich für jedes Land.

Wo und wann kamen Sie zum ersten Mal mit einer Fremdsprache in Berührung? War das die deutsche Sprache?

Nein, gar nicht. Mein erste Berührung mit Deutsch war erst in Österreich mit sechzehn. Bis dahin war ich gar nicht so schlecht in Englisch und vor allem Italienisch. Italienisch habe ich, wie die meisten Menschen in Albanien, aus dem Fernsehen gelernt. Und Englisch in der Schule. Mein Vater hat Wert darauf gelegt, dass meine Schwester und ich auch zu Hause Englisch lernen. Ich habe noch die Bücher, die damals zu diesem Zweck in Albanien kursiert sind. Es sind die zerfleddertsten Bücher meiner Bibliothek. Ich glaube, die schicke ich irgendwann einem jener EU-Parlamentarier, die die westliche Ausrichtung der albanischen Bevölkerung infrage stellen.

Wien, Sprachwechsel, Umbruch. Wie verliefen Ihre ersten Jahre? Wie kamen Sie ins Deutsche, ins Wiener Deutsche natürlich?

Sprachwechsel findet ja auf alle möglichen Arten und auf vielen Ebenen statt. Am eigenartigsten ist es bei Flüchtlingen. Wir kamen damals als Flüchtlinge nach Wien. Da kommt man im Auffanglager mit allen möglichen Nationalitäten zusammen. Deutsch hört man nur bei dem Interview, in dem geprüft wird, ob einem der Asylstatus zustünde. Aber das dauert nur wenige Minuten, und in meiner Erinnerung spricht der Beamte nicht mit dem Befragten, sondern mit dem Dolmetscher, und der Dolmetscher spricht einen dann in der eigenen Muttersprache an. Das war in den ersten Wochen in Österreich der einzige Kontakt mit deutscher Sprache. Inzwischen bilde ich mir ein, dass dieses Gespräch im Auffanglager bei mir nicht einmal eine Minute gedauert hat. Die wichtigste Frage war, woher ich die Narbe im Gesicht hätte, die damals durch eine Entzündung entstanden war und wohl ziemlich dramatisch aussah. Ich antwortete ehrlich. Jahre später kam ich darauf, dass diese Frage eigentlich entscheidend dafür war, dass uns der Asylstatus nicht zuerkannt wurde. Ich frage mich immer noch, hätte ich da eigentlich lügen sollen. Mit jedem Detail, dass ich von der Familiengeschichte meines Vaters erfahre, wird mir klarer, dass uns dieser Status schon zugestanden hätte … Aber rechtfertigt das dann eine Lüge? Wir sind dann in eine Pension gekommen. Da hatten wir einen Fernseher im Zimmer und ich habe dann auch mehr Deutsch gehört. Ein paar Jungs hatten sich Videokassetten vom Flohmarkt besorgt. Das waren Rambo 2, Scarface und Black Rain. Ach, ja, Mad Max 2 war auch dabei. Das war mein erster Kontakt mit der deutschen Sprache. Es steckt gar keine versteckte Botschaft dahinter, das war einfach so. Dann bin ich ins Gymnasium gekommen und danach wurde mir vom Wiener AMS ein Deutschkurs verordnet, der sich an den Kriterien der Kurse des Goethe-Instituts orientierte. In Österreich gibt es ja kein Goethe-Institut. Der Kurs war wirklich sehr gut aufgebaut. Eigenartig war nur mein Tagesablauf, damals. Ich wachte im Flüchtlingsheim auf, ging ins Gymnasium, dann in diesen Kurs, dessen Teilnehmer fast alle wohlhabende UNO-Mitarbeiter waren, und dann ging ich wieder ins Flüchtlingsheim schlafen. Das bin ich. Mein Leben verläuft immer so: vom Wettbüro ins Ministerium, dann in die Gosse – und dann eine Lesung. Durch meine Art des Deutschlernens habe ich die Einsicht gewonnen, dass es eigentlich keinen Wechsel, keine Umbrüche gibt, genauso wenig wie es Grenzen oder das Fremde gibt; es ist eigentlich alles erschreckend gleich, und die Unterschiede sind so oberflächlich, wahrscheinlich nur angeeignet. Leider vergesse ich das auch sehr oft. Ich wollte, diese Einsicht würde in mir zur Gewissheit werden, zu etwas, woran man sich festhalten kann. Obwohl: Eigentlich mag ich es gar nicht, mich ständig irgendwo festzuhalten.

Mit Rauchschatten (2010) wurden Sie als Schriftsteller bekannt, Aus dem Fluss und Minus folgten vier Jahre später. Der Literaturwissenschaftler Holger Englerth schreibt über Rauchschatten und Minus: »Beide Romane liefern keine >realistischen< Abbilder des von ihnen Dargestellten, sondern entziehen sich durch ihre reflektierten Erzählverfahren einer wie auch immer gearteten >Eindeutigkeit<.« Stimmt das?

Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen. Das Schreiben hat für mich viel von Improvisation. Natürlich sitze ich dann und arbeite die Sachen oft um. Es kommt aber ein Punkt, an dem ich einfach nur noch schreibe und mich nicht mehr fähig fühle, mich mit dem Ergebnis auseinanderzusetzen. Ein Zeitpunkt, an dem man auf einen erfahrenen Lektor angewiesen ist, um einen Zugang zum eigenen Text zu finden. Die Abhandlung von Holger Englerth war für mich als Autor sehr hilfreich. Ich wollte ursprünglich nichts als schreiben. Über das Veröffentlichen habe ich nicht nachgedacht. Ich wusste nicht, was für ein schwieriger, mitunter nervenaufreibender, entmutigender und desillusionierender Prozess die Publikation sein kann. Genau so habe ich diesen Prozess kennengelernt. Dann kamen einige Besprechungen, und ich hatte den Eindruck, dass der Ausgangspunkt für die Kritik nie der Text und nicht einmal ich als Autor war, sondern stets meine Herkunft. Wie gesagt, das hat natürlich mit dem Setting zu tun. Tatsache ist aber, dass mich dieser verfehlte Ausgangspunkt keineswegs irritiert hat. Man ist ja so dankbar, dass man wahrgenommen wird! Worauf ich aber hinauswill: Durch die Veröffentlichung, die Besprechungen, die Lesungen, den Betrieb habe ich eigentlich meinen Ausgangspunkt, den Text, völlig aus den Augen verloren. Obwohl ich in diesen Betrieb äußerst marginal involviert bin. Die Auseinandersetzung von Holger Englerth mit meinen zwei Texten war in gewisser Weise eine Rettung. Ob es stimmt, was darin steht, kann ich trotzdem nicht beurteilen. Meine einzige Hoffnung bei einem Text ist, dass er ein Eigenleben entwickelt. Bei dem Gedränge, das da herrscht, ist das gar nicht einfach, aber ich hoffe es. Wenn der Text dann lebt, stimmt alles, was darüber gesagt wird, und gleichzeitig stimmt es nicht. So sehe ich das.

Rauchschatten sei keine Biografie, schreibt Englerth, sondern illustriere »die Brüche, die Macht und Machtverlust in den Erinnerungen der Betroffenen hinterlassen«. Richtig?

Ich weiß nicht, was »Biografie« bedeuten soll. Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur, dass ich weder Angelina Jolie noch Putin bin und also nicht denke, dass meine Biografie wahnsinnig interessant sein könnte. Würde ich eine Biografie schreiben wollen, würde ich mich zwischen diesen zwei Personen entscheiden. Oder vielleicht über Trump schreiben. Ich finde ihn sehr spannend. In meinen Texten kommt oft ein Ich-Erzähler zu Wort. Der ist dann auch noch Albaner. Ich kann nachvollziehen, dass man, wenn man zehn Bücher in acht Stunden lesen muss, in solchen Texten die Attribute einer (Auto-) Biografie wiederfindet und dann die Texte auch so bezeichnet. Ich habe in einem Wettlokal gearbeitet, weil ich Minus schreiben wollte. Also gehöre ich einer Spezies an, die sich die Biografie erschafft, um sie dann als Stoff zu verwenden. Ich würde das salopp Entpersonalisierung des Schicksals nennen: Ein Leben wird wie ein Kleidungsstück ausgezogen, und jeder kann das dann anziehen und damit eine Perspektive einnehmen, die gewisse Einsichten verschaffen könnte.

So viel zum Thema »Biografie«. Ihre Frage war eine ganz andere, aber die habe ich ja oben beantwortet. Ich weiß, abgesehen von höchstens zwei grundlegenden Sachen, nicht, was richtig ist. Am wenigsten, wenn es um eine Aussage über meine Texte geht. Ich kann einen Text von mir genauso wenig beurteilen oder deuten wie mich selbst. Ich kann nur sagen, was meine Absicht war und worum ich mich am meisten bemüht habe – und das ist eben, meine Erfahrung von mir selbst loszulösen, damit sie für den Leser dann als seine eigene funktioniert. Natürlich finde ich es inzwischen anmaßend, dem heutigen Leser das zuzumuten. Aber das war der Hintergrund von Rauchschatten und Minus. Jetzt bin ich auf der Suche nach einem neuen Standpunkt, der dem Leser und vor allem dem Feuilleton, sagen wir, eher entgegenkommt.

Minus sei keine Reportage aus einem Wettlokal, sondern reflektiere in erster Linie »die Unmöglichkeit des objektiven Erzählens über >fremde< Welten«. Auch richtig?

Zu Rauchschatten habe ich einen gewissen zeitlichen Abstand, zu Minus ist er kleiner. Trotzdem ist es nicht meine Absicht, meine eigenen Texte zu interpretieren. Ich kann das nicht. Vor allem, wenn es sich um Rauchschatten und Minus handelt. Sobald ich diese Texte zu lesen beginne, spüre ich, dass da etwas zugange ist, das mich sehr stark, vielleicht zu stark beschäftigt hat. Ich wüsste nicht, womit ich diesen Zustand vergleichen soll. Ist es eine Erinnerung, ein Einschnitt, der einen viel zu sehr vereinnahmt hat? Ich kann es nicht sagen. Deshalb kann ich meine Bücher auch nicht beurteilen, bewerten oder positionieren. Wenn ich das tue, geschieht es meistens nur auf einer einzigen Ebene. Auf der Ebene nämlich, auf die ich mich im laufenden Gespräch beziehe. Aber ich spüre immer, während ich das tue, dass das eine Verallgemeinerung, eine Einschränkung des Textes ist. Also bin ich am Ende oft selbst derjenige, der die Schubladisierung durchführt. Ich liebe Bücher, die von unterschiedlichen Lesern unterschiedlich gelesen werden. Offenbar bieten auch meine Texte solche Möglichkeiten. Der Moment, in dem ich mit dieser Erkenntnis konfrontiert werde, bildet eine der wesentlichsten und wenigen Belohnungen, die ich als Autor überhaupt erfahre. In erster Linie freue ich mich darüber, weil das auf eine Auseinandersetzung mit dem Text hinweist. Trotzdem kann ich diese Betrachtungen nicht beurteilen. Genauso wenig wie die Gleichgültigkeit des Feuilletons in Bezug auf Minus. Ich ziehe Schlüsse daraus, aber ich beurteile sie nicht.

Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen, diese Beobachtung nehme ich als einen Hinweis darauf, dass das Buch organisch geworden ist und sich je nach Perspektive und Voraussetzungen der Leser verändern kann – und das strebe ich auf jeden Fall an.

Ihre Bücher werden oft als authentische Texte über fremde Welten gelesen und auf Inhalte reduziert. Kränkt Sie das? Oder haben Sie sich damit abgefunden und bedienen erfolgreich eine Marktlücke? Sind Sie »Berufsalbaner« geworden?

Für einen Autor ist es wichtig, dass seine Bücher gelesen werden. Für mögliche Missverständnisse, so glaube ich, ist nicht der Leser, sondern der Autor verantwortlich. Das hat bei mir zu einer massiven Reflexion über meine Arbeit und meine Herangehensweise geführt. In der Tat fühle ich mich missverstanden, wenn ständig nur gewisse Hintergründe meiner Erzählerfiguren stark in den Vordergrund rücken, während die Kernaussagen der Texte völlig übergangen werden. Aber laut Holger Englerth sind sie vorhanden und auch erkennbar. Die Tatsache, dass sie übersehen werden, scheint im Rückschluss gewisse Ansichten meiner Erzählerfiguren zu bestätigen. In welchem Maße bin ich selber diese Erzählerfiguren? Tatsache ist, ich bin diese Erzählerfiguren, ich bin sie eigentlich in der Zeit, in der ich schreibe, zu einhundert Prozent Aber ich bin sie nur vorübergehend. Eine Art Method-Acting, das ich bislang oft als Herangehensweise angewendet habe. Ich habe den Eindruck, dass ich mich inzwischen davon entferne. Natürlich ist das für mich auch ein Spiel gewesen: mal sehen, wer es schafft, dahinterzukommen, was sich da abspielt, mal sehen, wer sich auf dieses Identitätsspiel einlässt. In der Entstehungszeit von Rauchschatten und Minus kamen solche Identitätsspiele in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur oft vor. Ich habe Rezensionen anderer Bücher gelesen, die dieser spielerischen Komponente besondere Aufmerksamkeit schenkten. Da habe ich mich schon gewundert – wie kann es sein, dass der Perspektivenwechsel bei Rauchschatten, der namenlose Ich-Erzähler bei Minus bestenfalls in einem Nebensatz erwähnt wurden? Während das, literarisch betrachtet, meine Spielwiese war. Aber vielleicht fand dieses Identitätsspiel in der Literatur in einem umzäunten Park statt, und man konnte mich da nicht sehen oder hereinlassen? Ich weiß nicht.

Was den Berufsalbaner beziehungsweise die Marktlücke anbelangt: Irgendetwas daran wird wohl stimmen. Manchmal habe ich auch das Gefühl, dass ich der Quotenalbaner oder -migrant bin. Aber mich stört das nicht im Geringsten. Ich empfinde ein größeres Interesse für Migranten als notwendig, auch ein steigendes Interesse für Albanien. Die albanische Bevölkerung innerhalb wie außerhalb der albanischen Grenzen darf nicht mehr zur Geisel profithungriger Politiker oder ultranationalistischer Diktatoren werden. Das geht einfach nicht. Es ist gut, dass das europäische Gewissen in dieser Hinsicht langsam aufzuwachen erscheint.

Sprachwechsler wie Chamisso oder Nabokov, Joseph Conrad oder Elias Canetti sind heute weltberühmte Schriftsteller. Was bringt es für das Verständnis ihrer Werke, wenn man immer wieder auf ihre sprachlichen und kulturellen Wurzeln hinweist?

Ich denke, dass es nicht viel bringt. Nicht, weil sie für mich unbedeutend wären. Das Gegenteil ist der Fall: Sie sind für mich von enormer Wichtigkeit. Ich bin in Albanien geboren und dort sozialisiert worden. Ich habe dort gelernt, was Freundschaft bedeutet, was Vertrauen bedeutet. Ich habe die wichtigsten Werte von dort mitgenommen. Anfangs habe ich gedacht, dass ich mich anpassen sollte, und habe all diese Wertvorstellungen neu auszurichten versucht. Jetzt, da ich in Österreich auch eine Familie gegründet habe und in einer Gegend lebe, in der ich mich sehr wohl, ja angekommen fühle, habe ich erkannt, dass diese Neuausrichtung die Menschen, denen ich begegnet bin, irritiert hat. Ich habe zu dem Menschen zurückgefunden, der ich in Albanien schon war, und ihn hier in Wien wieder zum Leben erweckt. Jetzt sehe ich, dass ich in Wien die gleiche Art von Freundschaften und die gleiche Art von Vertrauen finde, wie ich das als Jugendlicher in Albanien kannte. Dafür musste ich mich, wie gesagt, nicht nur öffnen, sondern von der Vorstellung befreien, dass ich mich da ändern, verändern, anpassen müsste. Ich glaube, dass Authentizität, im Sinne von Offenheit, vor allem auch von Ehrlichkeit, eine sehr bedeutende Stütze jedes menschlichen Zusammenlebens ist. Und damit meine ich, dass jeder zu seinem eigenen Wohl verpflichtet ist, seine Ängste, seine Bedenken oder seine Kritik ehrlich anzusprechen. Aber natürlich auch die Gemeinsamkeiten, die meiner Meinung nach immer überwiegen, wenn man eben ehrlich zu sich selber ist.

Das ist ein zentraler Punkt der westlichen Demokratie, finde ich. Nämlich, dass man auf die Kritik und die Bedenken seines Gegenüber eingeht. Ich finde, dass hier gewisse Rückschritte gemacht werden: Menschen, die Bedenken zu Themen wie Migration und Flüchtlinge äußern, werden gleich in eine Ecke geschoben. Diese Menschen haben aber nicht zuletzt durch die Präsidentschaftswahlen in Österreich und Frankreich ganz deutlich gezeigt, dass sie sich keineswegs so leicht blenden lassen. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass die Dialogkultur etwas schwächer geworden. Aber diese Dialogkultur macht die Demokratie eigentlich aus! Die Österreicher sagen: »Durchs Reden kommen die Leit zamm!«

Aber nun wieder zurück zur Frage, die ich nicht korrekt beantworten kann, wenn ich das oben Gesagte verschwiegen hätte. Also, je länger ich mich in Österreich aufhalte, umso mehr merke ich, dass meine kulturellen Wurzeln nicht einmal so exotisch sind. Aber ich sehe ich mich auch nicht als ein starres System. Wie alle anderen Personen, denen ich begegne, verändere ich mich ständig. Ich verändere mich aber in besonderem Ausmaß. Das hat auch mit meiner Tätigkeit als Autor zu tun. Bei jedem neuen Roman verändere mich beinahe vollständig. Mir scheint, ich bin dann ein ganz neuer Mensch. Ob da die Wurzeln gleich bleiben, vermag ich nicht zu sagen. Sicher wäre es einfacher, wenn es so wäre, aber ich kann nicht sagen, ob das so ist. Man wird sagen: Mit Wurzeln meint man doch die Vergangenheit, und wie soll sich die Vergangenheit verändern? Tatsache ist jedoch, dass sich meine Vergangenheit ständig verändert – je nachdem, aus welcher Perspektive ich darauf blicke, je nachdem, mit welchem Hintergrund und Wissen ich gewisse Details davon interpretiere.

Wenn ich zehn Romane geschrieben habe, wird es vielleicht möglich sein, eine gewisse Regelmäßigkeit, die man dann Wurzeln nennen könnte, auszumachen. Aber an diesem Punkt sind meine zwei Bücher – bei allen Parallelen, die ich bewusst eingebaut habe – unterschiedlich, Formen, die sich ergeben haben, weil mein Leben in Wien so verlaufen ist wie es verlaufen ist. Mein Leben in Wien ist viel bedeutender für meine Texte als meine albanischen Wurzeln. Interessant ist aber, dass sich für dieses Leben in Wien kaum jemand interessiert.

Zusammenfassend bin ich heute der Überzeugung, dass das Feuilleton sich vor allem auf den Text fokussieren sollte. Das ist bei heimischen Autoren auch der Fall. Die Fragen zu sprachlichen und kulturellen Wurzeln sind, glaube ich, Sache der Wissenschaft. Ich habe in der Studie von Holger Englerth gesehen, dass die Wissenschaft dann auch besser davor gefeit ist, in Klischees zu tappen.

Ist für Autoren, deren Muttersprache Ungarisch oder Japanisch oder Französisch ist und die später, warum auch immer, auf Deutsch schreiben, die Muttersprache ein Gewinn, ein Vorteil? Worin besteht dieses Plus? Oder ist die andere Muttersprache manchmal auch ein Hindernis?

Wir sind alle auf Gewinn und Vorteil aus. Das ist wahrscheinlich die Natur, die trotz der ganzen menschlichen Entwicklung wahrscheinlich immer nur das Plus, das Wachstum anstreben wird. Mehrsprachigkeit wird somit auch als ein Plus gewertet. Darüber habe ich lustige Diskussionen bei Kindergeburtstagen geführt. Viele Eltern veranstalten eine Art Wettbewerb: Wer spricht mit seinem eigenen Kind mehr Fremdsprachen? Ich denke dabei an einen Spruch von Lenin, der in meiner Krippe hing, in der ich auch als Erwachsener zufällig einmal war: »Eine Fremdsprache ist eine Waffe im Kampf des Lebens.« Ich habe den Spruch gemocht. Er war vielleicht die einzige an den Wänden prangende Losung von Lenin, die für mich lange Gültigkeit hatte. Die Aussage hat mich fasziniert. Doch irgendetwas hat mich auch irritiert. Jetzt kann ich sagen, dass es die Wörter »Kampf« und »Waffe« waren. Ich sehe Sprache nicht als Waffe und das Leben nicht als Kampf. Es gibt natürlich Zeitspannen, in welchen man das tut. Die gibt es in jedem Leben. Aber man ist dann auch nur ein Krieger. Und was macht so ein Krieger?

Zugleich muss ich aber betonen, dass ich oft unter dem Gefühl leide, eine Sprache zu verlieren. Ich verliere Albanisch, Englisch und auch Italienisch. Italienisch wohl am meisten. Das ist ein großes Minus. Auf Albanisch und Englisch lese und höre ich wenigstens regelmäßig Nachrichten. Es ist wirklich schade, dass man nicht gleichzeitig in drei, vier Ländern leben kann. Ob ich diese Sprachen aber als Bereicherung für meine Texte betrachte? Ehrlich gesagt nicht. Ich verwende sie sehr sporadisch und ohne große Ansprüche. Ich mache kaum Spielchen daraus. Das Einzige, was ich bislang getan habe, ist, einzelne Ausdrücke aus diesen Sprachen in die Texte einfließen zu lassen. Das vor allem mit der Absicht, im Leser ein wenig Neugierde zu wecken und auch das Gefühl zu erzeugen, wie es sein kann, wenn man keine Ahnung hat, was so ein Wort in einem Text, den man vollständig versteht, eigentlich bedeutet. Aber das ist eher als Streich gedacht, nicht als anspruchsvolles Spiel mit der Sprache, das natürlich einige Autoren auf eine bewundernswerte Weise betreiben. Ich denke dabei an Yoko Tawada. Das ist höchste Sprachkunst, die an Magie grenzt. Doch das kann nicht jeder. Auf jeden Fall kann das auf diesem Niveau kaum jemand außer ihr. Deshalb verzichte auch weitgehend auf solche Mittel.

Es gibt die oft strapazierte Metapher vom »Brückenbauen« – Brücken zwischen den Kulturen, Brücken zwischen den Sprachen … Sie haben mal gesagt: »Gott schuf keine Brücken.« Wie meinen Sie das?

Das ist ein Begriff, der eigentlich kaum hinterfragt wird. Doch ich habe mich gefragt, was dieser Begriff in Anbetracht meiner Lebensumstände bedeutet. Ich bin mit einer Österreicherin verheiratet, einer Wienerin, genauer genommen. Ihre Mutter ist auch in Wien geboren. Der Großvater jedoch stammt aus Pula, Kroatien, das damals Teil der k.u.k.-Monarchie war. An sich ist das ja eine perfekte Ausgangslage, um als Brückenbauer aufzutreten. Nur hat mich irgendetwas an den Begriff gestört, abgesehen von der inflationären Verwendung. Ich habe die Familie meiner Frau und meine eigene Familie miteinander verglichen. Die Hintergründe, die Wünsche, die Verhaltensweise und die Probleme waren quasi identisch. Alles, was nicht individuell bedingt war, war wirklich deckungsgleich. Und da habe ich mich schon gefragt: Zwischen wem soll ich da Brücken bauen? Oder soll ich nur so tun, als ob ich Brückenbau betreibe, um dann zum Schluss zu kommen, dass Brücken gar nicht notwendig sind? Auf dem Balkan ist die Brückenbaumetapher in der Tat sehr beliebt. Sobald man Geld für eine Brücke auf dem Balkan braucht, ist Geld da. Ich glaube aber, dass auf dem Balkan eine vernünftige Vergangenheitsbewältigung im Moment wichtiger wäre als alles andere.

Gott hat alles Mögliche erschaffen, Brücken allerdings nicht. Doch zurück zum bildlichen Brückenbau. Meiner Meinung nach geht es nicht bloß darum, über eine Brücke zu gehen, um dem Anderen, dem Nachbarn, dem Fremden zu begegnen. Es kommt vor allem darauf an, wie man über die Brücke geht. Denn über die Brücke gehen ja die Waffen wie das Brot. Die Kinder und die Soldaten. Mein Gedanke ist aber, dass, wenn es diese Brücken nicht gäbe, die Menschen gezwungen wären, zum anderen Ufer zu schwimmen. Und einer, der einen Fluss schwimmend überquert, kommt ganz anders an als einer, der über die Brücke gegangen ist. Ich glaube, dass unsere Kultur die Brücken überschätzt und das Schwimmen vernachlässigt hat.

Sind Sie ein Rebell? Ein Sprachrebell? Gibt es für Sie literarische »Hausheilige«? Welche?

Ich beginne mit den literarischen Hausheiligen. Die gibt es tatsächlich, aber das hält sich in Grenzen. Es sind genau genommen drei Bücher: Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Vittorinis Conversazione in Sicilia und Hemingways Der alte Mann und das Meer. Auch eine Person ist meine literarische Hausheilige: meine Großmutter. Diese Konstellation bringt es mit sich, dass man mitunter als »Rebell« wahrgenommen wird. Rebellieren ist ja positiv konnotiert. Es gibt vielleicht welche, die »Querulant« dazu sagen würden. Entscheidend ist, worum gerungen wird und wie. Nur als Sprachrebell würde ich mich nicht bezeichnen. Mein einziger Anspruch ist, so verständlich wie möglich zu schreiben. Ich will weder schön noch anspruchsvoll schreiben, sondern nur klar. Das ist doch nicht rebellisch, oder?

Womit beschäftigen Sie sich heute? Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

Ich bin damit beschäftigt, mir eine neue Biografie zusammenzuschustern, über die ich dann einen Roman schreiben kann. Das ist mein jetziges Projekt. Und mein wichtigster Plan ist, mindestens tausendfünfhundert Euro monatlich nach Hause zu bringen, ob als Autor oder als Arbeiter, ist nicht relevant. Und, um das Interview nicht so desillusionierend abzuschließen: Ich möchte weiterhin Texte schreiben, die zeigen, dass man Menschen anhand ihres Charakters und ihrer Eigenschaften unterscheiden kann, aber keineswegs anhand ihrer Herkunft. Ich bin ein Gerechtigkeitsfanatiker. Ich habe gehört, das kommt davon, wenn man zu viele Proteine isst.

Ilir Ferra, vielen Dank für das Gespräch!

KAISERSCHMARRN, RÖSCHTI UND ANDERE SCHMANKERL

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